Prof. Dr. Anhorn – konsequente Kapitalismuskritik im Klartext

AutorInnen, die mich für mein Buch inspiriert haben (s. Neuerscheinung Seithe: Soziale Arbeit und Neoliberalismus heute: schwarz auf weiß | SpringerLink
Teil 6

Prof. Dr. Anhorn,

… der nicht bereit ist, sich damit abzufinden, dass die Soziale Arbeit, oft  ohne es zu wollen und zu reflektieren, die kapitalistischen Verhältnisse stabilisiert….

Die Analysen und Positionen, die von den VertreterInnen der Kritischen Theorie Sozialer Arbeit formuliert werden, waren für meine Überlegungen unverzichtbar. Darum habe ich immer wieder auf die deutlichen systemkritischen Aussagen von Prof. Dr. Anhorn verwiesen.

Es ist kein Geheimnis, welche Rolle die Sozialen Arbeit m Rahmen der bestehenden Herrschaftsverhältnisse spielt und immer gespielt hat. Dies wird – wie von mir dargestellt – schon in ihren Anfängen deutlich, als sie sich nicht etwa auf die Seite der erstarkenden Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert gestellt hat, sondern immer einen bürgerlichen, zwar mitunter kritischen aber letztlich staatskonformen Weg eingeschlagen hat.

Anhorn weist darauf hin, dass die Soziale Arbeit

als institutionalisierte Reaktion auf die mit der kapitalistischen Gesellschaftsformation einhergehenden Konflikte und Widersprüche und den daraus resultierenden sozialen Verwerfungen, Kämpfen und Ungleichheiten … von Anfang an das Moment der individuellen, der persönlichen und erzieherischen Hilfe als Spezifikum ihrer Handlungsorientierung in den Mittelpunkt ihres Selbstverständnisses“ (Anhorn 2012, S. 227) stellte.

Und er stellt die ernüchternde These auf:

Die beachtliche Tradition einer Sozialen Arbeit, die – eingebettet in die politische Artikulations- und Durchsetzungsmacht diverser sozialer Bewegungen … im Sinne einer Politik der Verhältnisse zu wirken versuchte, ist über alle Phasen ihrer Geschichte hinweg ebenso ein Randphänomen geblieben wie die beharrliche – und vom hegemonialen Teil der Sozialen Arbeit verbal durchaus geteilte – Kritik an der begrenzten Reichweite verhaltensbezogener, individuums- und familienzentrierter (Handlungs- und Theorie-) Perspektiven, die in politischer und fachlicher Hinsicht weitgehend folgenlos geblieben ist“ (Anhorn 2018, S.2)“

Aus Sicht der Kritischen Theorie Sozialer Arbeit sind die gesellschaftlichen Hintergründe für Problemlagen von Menschen Erscheinungsformen der nach wie vor virulenten Sozialen Frage: Durch das Ausgeliefertsein an die Risiken und Zumutungen des Arbeitsmarktes und der kapitalistischen Arbeitsverhältnisse wie z. B. die konkurrenz- und wettbewerbsbestimmten Märkte oder die defizitären Systeme kollektiver sozialer Sicherung, können Lohnabhängige in Lebenslagen geraten, die für sie persönlich hochproblematisch sind und aus denen sie sich aus eigener Kraft nicht befreien können. Die konkreten erfahrenen Probleme können sich in allen Bereichen der Lebenswelt zeigen und nehmen die Erscheinungsform persönlicher, individueller Belastungen und Schwierigkeiten an. Anhorn (2018, S. 268) zeigt an einem Beispiel, welche gesellschaftlichen Strukturen der kapitalistischen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung die sehr persönlich erfahrene prekäre Lebenslage eines Obdachlosen auslösen und ständig verschlimmern: So verweist er auf

die ‚abstrakten‘, sozialen Selektionsmechanismen eines primär privat organisierten und auf Profitmaximierung ausgerichteten Wohnungsmarktes und auf das konkrete Hilfesystem für Wohnungslose, mit seinen Regelungen, Hilfe nur auf eine bestimmte Zahl von Tagen zu begrenzen.“

Hier finden sich andere und möglicherweise tragfähigere Erklärungsmuster als z. B. Hinweise auf die Persönlichkeit des Mannes oder seine frühkindlichen Erfahrungen.

Anhorn (2022, S. 55) fordert, dass sich eine kritische Soziale Arbeit darüber hinaus der gesellschaftstheoretischen Aufgabe zu stellen habe,

in der Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse und Bedingungen die objektiv gegebenen Potentiale, die materiellen Möglichkeiten und lebensweltlichen Ressourcen freizulegen, die Ungleichheit, Armut, Arbeitslosigkeit, Diskriminierung und Ausschließung als … herrschaftlich hergestellte  und institutionell konservierte und deshalb veränderbare gesellschaftliche Sachverhalte sichtbar machen.“

Solche Erkenntnisse waren in den 68er Jahren allgemein anerkannt, wurde aber seit dem immer mehr aus dem Blick gerückt und als Dinosaurier-Debatte abgetan.
Es ist der Verdienst insbesondere der Kritischen Theorie Sozialer Arbeit, dieser Interpretati0n deutlich und konsequent zu widersprechen.

Nicht zuletzt ist das, was der Neoliberalismus seit Jahren mit der Sozialen Arbeit ausrichtet ein klarer Beweis dafür, dass sie in hohem Maße von staatlichen Anforderungen und Vorstellung gesteuert wird. Die von mir festgestellte Apathie der Profession gegenüber dieser staatlichen Dominanz zeigt deutlich, dass auch und erst recht heute die Soziale Arbeit keine eigene radikale Kapitalismuskritik umsetzen kann – und will.

Um so wichtiger scheinen mir die Aussagen der wissenschaftlichen KollegInnen, die an diesem Punkt Klartext sprechen. Es sind gar nicht so wenige, aber Prof. Anhorn ist einer , der seine Aussagen am deutlichsten und konsequentesten verritt.

Und auf diesem theoretischen Hintergrund wird erst klar, dass die von mir dargelegte Konfliktsituation nicht etwas ist, was vielleicht nur auf eine Unachtsamkeit oder eine fahrlässige Vernachlässigung der professionellen Essentials beruht, sondern, dass es hier um eine zentrale politische Entscheidung geht und darum, dem Neoliberalismus die ethische und fachliche Berechtigung für die Gestaltung einer Sozialen Arbeit abzusprechen und grundsätzliche seine Perspektive, die Gesellschaft in seine Dominanz hineinzupressen, zurückzuweisen

Und dennoch wurde für mich die Auseinandersetzung mit den weitergehenden Thesen und Forderungen gerade dieser Ausrichtung zu einem Moment, mit dem ich mich im Rahmen meines Buches immer wieder kritisch auseinandersetzen musste. Denn die Folgerungen, die Anhorn aus seiner m.E. völlig berechtigten und tragfähigen Analyse zieht, wenn es um konkrete, gelebte und praktizierte Soziale Arbeit geht, haben mich keineswegs überzeugt: Zum einen ist es sicher richtig, dass die Soziale Arbeit von Anfang an staatlicherseits als eine individualisierende Lösung der Sozialen Frage gedacht war und dass sie diese Ausrichtung auch selbst immer wieder und in aller erster Linie verfolgt hat. Das aber ist für Anhorn ein hinreichender Grund, die derzeitige Praxis der Sozialen Arbeit pauschal abzulehnen und ihr generell den Vorwurf der Individualisierung zu machen – vor allem gegenüber der Einzelfall bezogenen Sozialen.

Dazu möchte ich Punkte nennen, die diesen Vorwurf in dieser Form als nicht berechtigt und nicht angemessen kritisieren:

  1. Eine am Einzelfall orientierte Soziale Arbeit muss keineswegs individualisierend sein: Es wäre zum Beispiel wichtig, im Rahmen der Hochschulausbildung genau das zu lehren: eine Soziale Arbeit mit Einzelnen, mi Paaren und kleinen Gruppen, die eben nicht beschränkt ist auf individuelle Lösungen.
  2. Es scheint mir unethisch und unverantwortlich, die bestehenden individuell existierenden Problemlagen von einzelnen Betroffenen pauschal als etwas abzuwerten, was unweigerlich dazu führt, die herrschenden Verhältnisse zu stützen und die Menschen für dieses System nur wieder fit und auch noch abhängiger zu machen – und deshalb die Zuständigkeit und damit jede solidarische Unterstützung zu verweigern.

In meinem Buch habe ich an Beispielen deutlich zu machen versucht, dass es sehr wohl angemessen und wichtig ist, auch in der Einzelfallarbeit die sozialen Hintergründe und Problemlagen zu identifizieren und in die Lösungsstrategien einzubeziehen, dass allein davon allerdings die bestehende Problematik der Betroffenen und ihr mögliches Leiden nicht schon erledigt ist.

„Die SozialarbeiterIn wird mit dem Fall eines Obdachlosen konfrontiert, der dringend Unterstützung braucht. Die kritisch denkende Sozialarbeiterin stellt fest, dass dessen prekäre Lebenssituation vornehmlich nicht durch psychische Faktoren oder Umstände im engeren sozialen Umfeld begründet ist, sondern zumindest auch diejenigen konkreten Bedingungen dafür verantwortlich sind, die die kapitalistischen Verhältnisse konkret in seiner Lebenswelt haben entstehen lassen, wie z. B. der Wohnungsmarkt oder die menschenunfreundlichen bürokratischen Regelungen von sozialen Einrichtungen. Damit wird die Problematik des Obdachlosen in ihren gesellschaftlichen Zusammenhängen deutlich und es ist nicht zu übersehen, dass politische Veränderungen hier am ehesten gefordert wären.
Worauf Anhorn in seinem Beispiel jedoch nicht weiter eingeht, ist die Frage, was diese veränderte Sicht für die konkrete Arbeit der SozialarbeiterIn bedeutet oder bedeuten kann.

Welche Folgen kann diese Erkenntnis für die konkrete Arbeit mit dem Wohnungslosen haben?
Die SozialarbeiterIn könnte den Klienten über die gesellschaftlichen Hintergründe seiner Situation aufklären. Sie könnte eine Art Gruppenarbeit initiieren, wo sich Betroffene gegenseitig stützen und austauschen – wobei solche Strukturen unter Obdachlosen schon bestehen. Vielleicht kann sie ihn oder eine solche Gruppe Betroffener sogar dazu bewegen, sich in einer Initiative zu engagieren, die sich gegen den Mietwucher einsetzt.

Aber selbst unterstellt, das würde gelingen, so bleibt die konkrete Situation des Betroffenen die gleiche: Er hat keine Wohnung, er ist vermutlich auch nicht aus dem Stand heraus in der Lage, mit einer ihm vermittelten Wohnung so umzugehen, dass er zurechtkommt. Und er leidet an seiner Situation, physisch, wahrscheinlich auch sozial und sehr persönlich.
Ihn mit dem Hinweis auf den kapitalistischen Wohnungsmarkt abzuspeisen und ihn im Regen stehen lassen, kann Anhorn nicht gemeint haben. Was also kann die Sozialarbeiterin tun, was muss sie tun? Und welche Bedeutung hat die Erkenntnis des gesellschaftlichen Zusammenhanges für das, was sie tun kann?

Der Auftrag der bestehenden professionellen Konzeption würde heißen: Unterstützung bei der Bewältigung seiner Lebenswelt. Das bedeutet: Die SozialarbeiterIn müsste sich um das Wohl dieses Menschen kümmern, ihm Wertschätzung und Respekt entgegenbringen, ihm konkrete lebenserleichternde Hilfestellungen materieller, aber auch sozialer Art vermitteln, für ihn bestehende Rechte einklagen und durchsetzen. Möglicherweise geht es dem Mann dann besser. Aber politisch gesehen wäre durch diese Aktionen eigentlich nichts passiert, weder in Bezug auf den Klienten noch auf die gesellschaftlichen Missstände noch in Bezug auf die neoliberale Soziale Arbeit selbst.
Die SozialarbeiterIn könnte sich, da sie die politischen Zusammenhänge erkannt hat, persönlich politisch engagieren und sich ihrerseits einer entsprechenden sozialen Bewegung anschließen. Das würde eine Politisierung der Sozialarbeiterin bedeuten, die damit im Sinne der Einmischung Stellung zu den politischen Verhältnissen bezieht.
Aber auch das lässt immer noch die Frage offen, wie sich ihre konkrete Soziale Arbeit mit dem betroffenen Menschen verändern müsste. Was könnte sie in ihrer Arbeit, also im Rahmen der Unterstützungsversuche anders machen?“

Diese Dialektik bleibt der Sozialen Arbeit, auch und gerade ihrer kritischen Variante nicht erspart.

Mit S. Scherr (2012, S. 111) scheint mir hier die richtige Antwort gegeben worden zu sein:

Zu einer Verbesserung der Lebenssituation der AdressatInnen trägt (gesellschafts-)kritische Theorie gewöhnlich … wenig und jedenfalls nur dann bei, wenn sie dazu befähigt, Formen einer Praxis denkbar zu machen, zu entwickeln und/oder durchzusetzen, die dies – jedenfalls mittel- und langfristig – ermöglicht.
Gesellschaftskritische Theorien, die ihren eigenen normativen Selbstanspruch ernst nehmen, sind insofern (auch) im Fall der Sozialen Arbeit kein selbstgenügsames Unternehmen, sondern darauf verwiesen, eine pädagogische, sozialarbeiterische sowie sozial und gesellschaftspolitische Praxis anzuregen und zu unterstützen, die mit ihren grundlegenden Intentionen übereinstimmt. Eine Kritik der Sozialen Arbeit, die Soziale Arbeit aus der Beobachterperspektive als gesellschaftliche Reaktion auf gesellschaftlich bedingte Problemlagen in den Blick nimmt und analysiert, welche Folgen dies für die Formen des Helfens hat, steht in einer solchen Perspektive nicht in einem Gegensatz oder Ausschließungsverhältnis zur Programmatik einer kritischen Sozialen Arbeit. Denn Grundlage einer solchen Programmatik kann kein generelles gesellschaftstheoretisches Erkenntnisinteresse sein, sondern nur die für Soziale Arbeit konstitutive Aufgabenstellung, unter den gegebenen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zur Verbesserung der Lebensbedingungen ihre Adressatin sowie zu ihrer Befähigung zu einer selbstbestimmten Lebenspraxis und zur Erweiterung der Verwirklichungschancen beizutragen.

Nicht das Helfen, nicht die Absicht, helfen zu wollen ist notwendig individualisierend und kaum mehr als ein Instrument zur Aufrechterhaltung herrschaftlicher Ordnung und gesellschaftlicher Verhältnisse. Scherr weist darauf hin,

„dass eine externe kritische Theorie nicht den Anspruch erheben kann, an die Stelle praxeologischer Theorien zu treten, die sich mit Erfordernissen und Möglichkeiten des Helfens unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen auseinandersetzen“(ebd.).

Literaturhinweise:

Anhorn, R./Bettinger, F./Horlacher, C./Rathgeb, K. (Hrsg.) (2012): Kritik der Sozialen Arbeit – kritische Soziale Arbeit. Wiesbaden: Springer VS Verlag.
Anhorn, R./Schimpf, E./Stehr, J./Rathgeb, K./Spindler, S./Keim, R. (Hrsg.) (2018): Politik der Verhältnisse – Politik des Verhaltens. Wiesbaden: Springer VS.
Anhorn, R. (2022): Kritische Soziale Arbeit – Was könnte das sein? In: Wendt, P.-U. (Hrsg.)      (2022): Kritische Soziale Arbeit. Weinheim Basel: Beltz Juventa. S. 42ff.
Scherr, A. (2012): Reflexive Kritik. Über Gewissheiten und Schwierigkeiten kritischer Theorie, auch in der Sozialen Arbeit. In: Anhorn, R./Bettinger, F./Horlacher, C./Rathgeb, K. (Hrsg.): Kritik der Sozialen Arbeit – kritische Soziale Arbeit. Wiesbaden: Springer VS Verlag. S. 107ff.

Über m.s.

Ich war 18 Jahre Professorin für Soziale Arbeit an der FH Jena (Methoden, Hilfen zur Erziehung, Schulsozialarbeit). Davor war ich 18 Jahre in der Praxis. Studiert habe ich Psychologie in Münster und Soziale Arbeit in Frankfurt a.M. Bücher: Schwarzbuch Soziale Arbeit Engaging Hilfe zur Erziehung zwischen Professionalität und Kindeswohl Das kann ich nicht mehr verantworten Ambulante Hilfe zur Erziehung und Sozialraumorientierung
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