Fortbildung: Case Management oder Beziehungsarbeit

Das Berliner Institut für kritische Soziale Arbeit wird ab Dezember 2015 eine Fortbildung mit oben genanntem Titel für SozialarbeiterInnen durchführen, die mit der üblichen Case Management Vorgabe für ihre Beratungsarbeit nicht zufrieden sind und die deshalb ihre Kenntnisse und Fähigkeiten in Sachen Beratung verbessern und selbstkritisch überprüfen wollen.

In Zeiten, in denen es Sozialer Arbeit sehr schwer gemacht wird, mit Menschen so zu arbeiten und zu kommunizieren, wie es unsere Profession vorsieht, ist eine Fortbildung in Beratung angebracht. Erinnern wir uns: Beziehungsarbeit ist für uns ein konstitutives Merkmal. Kommunikation und Interaktion sind die wesentlichen Medien unsere Arbeit. Subjektorientierung, Respekt, Geduld und Parteilichkeit sind Beratungskriterien, auf die wir nicht freiwillig verzichten sollten.
Dass die Praxis oft ganz anders aussieht und uns das Fallmanagement als Non plus Ultra der Beratungsformen verkauft wird, ist alltägliche Erfahrung. Wer sich weiterhin als Sozialarbeiter oder Sozialarbeiterin versteht, der um die Unterstützung von Menschen und nicht um ihre Anpassung an das System geht, für den ist die Fortbildung goldrichtig.

Das sozialpädagogische Beratungskonzept ENGAGING basiert auf der klientenzentrierten und der gewaltfreien Kommunikation.
Wobei es im Rahmen der Fortbildung in ganz besonderem Maße darum gehen wird, diese Art der Menschen fördernden und Menschen achtenden Kommunikation gerade auch für die Soziale Arbeit nutzbar und praktikabel zu gestalten.

Deshalb stehen neben den Fragestellung wie folgende im Vordergrund:

  • Wie kann man konfrontieren, ohne zu verletzen und ohne autoritär zu werden?
  • Wie gelingt es, mit Menschen ins Gespräch zu kommen, die eigentlich keine Beratung wollen.
  • Wie gelingt es, misstrauische und ängstliche KlientInnen für eine Beratung zu gewinnen?
  • Wie gelingt es, dass sich KlientInnen aktiv an der Lösung ihrer eigenen Probleme beteiligen können?
  • Wie schafft man es, im Rahmen einer sozialpädagogischen Beratung Menschen dazu zu bewegen, sich zu wehren statt alles hinzunehmen.
  • Wie drücken sich Parteilichkeit und Solidarität in der Beratung aus?
  • Wie ist das Verhältnis von Case Management und sozialpädagogischer Beratung?
  • Warum ist Beratung und Beziehungsarbeit für unsere Profession wichtig?

Die Fortbildung wird in Berlin stattfinden. Sie beginnt mit einem Einführungswochenende und wird anschließend die vorgestellten Inhalte in 10 weiteren Abendterminen vertiefen. Die TeilnehmerInnen sollten bereit sein, sich aktiv an Rollenspielen zu beteiligen und eigene Fälle einzubringen.

Für das Zertifikat „Sozialpädagogische Beratung“ sollen von den  TeilnehmerInnen folgende Leistungen erbracht werden:

  • regelmäßige aktive Teilnahme
  • individuelles Gespräch über die eigene Arbeit als Beraterin mit der Veranstalterin
  • Durchführung und Aufzeichnung eines mindestens 30 minütigen Beratungsgespräches im Gruppenrahmen mit anschließender Rückmeldung und Reflexion in der Gruppe
  • erfolgreiche Protokollierung eines eigenen Beratungsfalles über mindestens 5 Einheiten
  • Bericht über die eigenen Beratungserfahrungen und Erkenntnisse im Kontext der Fortbildung und im Kontext der gegenwärtigen neosozialen Erwartungen an unsere Arbeit

Teilnehmen können Personen, die beratend im Sozialbereich tätig sind. Wenn die Plätze nicht reichen, haben SozialarbeiterInnen ein Vorrecht.

Die Fortbildung kostet 1250 Euro und kann gerne auch in Monatsraten bezahlt werden.  

vorauss. Beginn: Dezember 2015

Gruppengröße: 8 TeilnehmerInnen

bitte schriftliche Anmeldung unter:

Berliner Institut für kritische Soziale Arbeit
Prof. Dr. M. Seithe
Humberstr. 5
16515 Oranienburg

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Vortrag in Wien: Problematische Entwicklungen in der Sozialen Arbeit

Es ist ein neuer Vortrag eingestellt (s. Menüleiste: Vortrag), den ich  auf der Fachtagung für PersonalvertreterInnen und BetriebsrätInnen  der Sozial und Gesundheitsberufe in Wien am 24.4.2015 gehalten habe. Die Tagung hatte den Titel: „Was ist los in unserem Sozial- und Gesundheitssystem).
Impulsvortrag Seithe

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Vorsicht Bertelsmann!

M. Heintz stellt mir folgenden Brief von M. Krämer zur Wahrheit der Bertelsmannstiftung zur Verfügung:

Bertelsmann-Studien Eigeninteresse oder Wissenschaft?

„Das belegt eine Studie der Bertelsmann-Stiftung“ – diese Worte liest oder
hört man häufiger. Schließlich gibt Bertelsmann regelmäßig Studien in
Auftrag. Doch obwohl wir „Stiftungen“ meistens positiv assoziieren,
verfolgen auch sie Eigeninteressen. Solche Vorwürfe muss sich immer häufiger
die Bertelsmann-Stiftung gefallen lassen. Sie steht wegen ihrer Studien über
das Freihandelsabkommen in der Kritik.

http://www.mdr.de/nachrichten/bertelsmann-stiftung102_zc-e9a9d57e_zs-6c4417e7.html

Schon im Februar 2009 haben Klaus Lindner, Wiebke Priehn und ich in einem
Beitrag in der Online-Zeitung NRHZ die Gemeinnützigkeit der
Bertelsmann-Stiftung in Frage gestellt. Immerhin haben die
Bertelsmann-Erben, die Mohns durch die Stiftungskonstruktion des
Bertelsmann-Konzerns ca. 4,26 Mrd. EURO an Erbschaftssteuer gespart.

http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=13431

Jetzt endlich nimmt die Kritik an der Seriösität der Bertelsmann-Stiftung
und der Wissenschaftlichkeit der von der Stiftung in Auftrag gegebenen
vermeindlich wissenschaftlichen Studien zu. Der oben genannte Beitrag des
MDR ist aber erst ein Anfang. Auch Lobbycontrol sieht die
Bertelsmann-Stiftung inzwischen kritisch.

https://lobbypedia.de/wiki/Bertelsmann_Stiftung

Und selbst der konservative Philologenverband und andere Lehrerverbände
betrachten die Bertelsmann-Stiftung und ihre pseudowissenschaftlichen
Untersuchungen inzwischen eher kritisch.

http://www.lehrerverband.de/Kraus_Bertelsmannstudien_2012.pdf

In ihrer Stellungnahme fassen die Lehrerverbände zusammen:

Vor allem aber ist es an der Zeit, dass sich Politik und Publizistik gerade
im Bereich Bildung ernsthaft an die entscheidenden Punkte der Kritik an
Bertelsmann und seiner Stiftung herantrauen:


Bertelsmann frönt einer fortschreitenden Ökonomisierung von Bildung.
Bildungsqualität wird hier reduziert auf Quantifizierbares, Bildung
herunterdekliniert auf das,was sich in Zahlen pressen und in wirtschaftliche
Vorteile ummünzen lässt. Bildungseinrichtungen, die sich etwa
qua Evaluation den Kriterien dieser Organisationen unterordnen, ordnen sich
damit einem Konformitätsdruck unter, denn die „Messinstrumente“ entfalten
selbstredend eine normative Wirkung.


Höchstbedenklich ist die Art und Weise, wie Bertelsmann„Studien“ lanciert
werden: Die Stiftung liefert selektiv ausgewählte Daten, in gewissen Agentur
und Redaktionsstuben reagiert man marionettenhaft auf diese Zahlen und den
damit verbundenen Alarmismus, und schon beginnt die Politik zu rudern.
Politiker und Ministerialbeamte hier und die Stiftung dort
instrumentalisieren sich zudem immer häufiger gegenseitig. Die Stiftung
lässt ihren Kooperations-partnern exklusiv Information zukommen, sie
verschafft sich damit Zugang zu vielen Projekten.


Im Kern läuft alle Bertelsmann Politik immer wieder auf eine mehr oder
weniger versteckte Propaganda für ein einheitliches Schulwesen hinaus.
Allein die
Autoren, denen Bertelsmann Aufträge für „Studien“ zukommen lässt, stehen
dafür.


Besonders seltsam freilich mutet die Doppelbödigkeit der Bertelsmann
Politik an. Hinter der sich bildungsbeflissen gebenden Stiftung steht
nämlich ein Konzern, der sich als Hauptanteilseigner bestimmter privater
Fernsehsender bislang nicht gerade als Förderer von Bildung profiliert hat.

Es wäre also längst Aufgabe nicht nur der Bildungspolitik, sondern aller
Politikfelder, in denen Bertelsmann wildert, sich von den Einflüssen dieser
Stiftung frei zu machen, anstatt ständig auf „Studien“ dieses Hauses
aufzuspringen oder im günstigen Fall ein halbherziges Ceterum Censeo
anzufügen.

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Mit Kindern Kasse machen

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Veränderte Sprache und veränderte Soziale Arbeit?

Gibt es einen Zusammenhang von Begriffen, Denken und Handeln?
Welche Rolle spielen die aktuellen, in der gegenwärtigen, neoliberalisierten  Sozialen Arbeit üblichen Begriffe für unsere Arbeit? Sind sie austauschbar und eins zu eins in die Fachsprache der Profession zu übersetzen? Oder zwingen sie uns ein anderes Denken auf?

Was bedeuten Begriffe für das professionelle Handeln und Denken?

Die Begriffe einer Profession bilden ihre wesentlichen Strukturen und Inhalte ab und steuern das Denken und Handeln der Fachkräfte. „Es erscheint nur logisch, dass eine ökonomisierte Sprache im Sozialbereich eben genau die ökonomische Soziale Arbeit abbildet und sonst nichts.“ (Erlach 2009, S. 127) Weiterlesen

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Neugestaltung dieser Web-Seite

Diese WEB-Seite ist die Sozialarbeits-WEB-Seite von Prof. Dr. phil. Mechthild Seithe (Diplom-Psychologin, Dipl. Sozialarbeiterin, zurzeit im Ruhestand).
Sie soll zukünftig alle von mir geschriebenen oder gesprochenen Beiträge zur kritischen Sozialarbeit und Sozialpolitik auflisten und – so weit es geht – direkt über Verlinkungen oder Abdrucke zugänglich machen.

Die URL der Seite bleibt gleich: zukunftswerkstatt-soziale-arbeit-de. Der Titel hat sich im Sinne der neuen Planungen etwas geändert:

SOZIALE ARBEIT UND SOZIALPOLITIK IN DER KRITIK

Die Blogfunktion wird  für aktuelle Themen genutzt und weitergeführt. Hier sind auch Kommentare möglich und erwünscht.

Sollte jemand einen Kommentar zu Texten schreiben wollen, die auf den Seiten (des Menus) stehen, so bitte die Kommentarfunktion des letzten Postings nutzen!

Entstanden ist diese WEB-Seite vor Jahren zusammen mit Studierenden aus Jena.
Seit drei Jahren bin ich pensioniert und habe eigentlich erst danach eine rege Aktivität in Sachen kritische Soziale Arbeit entwickelt und  Bücher und Buchbeiträge geschrieben, viele Vorträge gehalten und etliche Artikel herausgegeben. Außerdem schrieb ich meine Gedanken und Überlegungen zur gegenwärtigen Sozialen Arbeit in zwei Blogs nieder: dem hier zugrunde liegenden Blog: „Zukunftswerkstatt Soziale Arbeit“ sowie dem Blog „Einmischen“ (www.einmischen.com), der WEB-Seite des u. a. von mir gegründeten „Unabhängigen Forums kritische Soziale Arbeit“, dass vor allem in Berlin seit etwa drei Jahren aktiv ist.

Es ist im Verlaufe dieser drei vergangenen Jahre so einiges  entstanden.  Da ich Nachweise darüber nicht mehr für irgendwelche Karrierepläne und Bewerbungsschreiben brauchen werde, habe ich es bisher versäumt, meine Sachen aufzulisten und so ist mir allmählich der Überblick verloren gegangen.
Doch nun bin ich auf die Idee gekommen bin, alles mal im Überblick zusammenzustellen und meinen LeserInnen zur Verfügung zu stellen. Das bezieht sich sowohl auf Bücher und Buchartikel, auf Vorträge und Zeitschriftenartikel und auf sonstige versprachlichte Beiträge zur Sozialen Arbeit. Da ich die Redaktion der WEB-Seite „Einmischen“ Mitte dieses Jahres an die jüngeren MitstreiterInnen abgeben werde, habe ich vor, meine dort von mir veröffentlichten Grundlagentexte und Artikel ebenfalls hier auf meine persönliche WEB-Seite zu übernehmen.

All das wird einige Zeit erfordern. Dafür bitte ich meine LeserInnen um Verständnis!

 

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Was kann man tun? – Fall 7: “Du hast keine Chance, aber nutze sie!“

Fortsetzung zum Thema „Das kann ich nicht mehr verantworten!“  – Kommentierung der Texte – Was tun? (7)

Text:  „Du hast keine Chance, aber nutze sie!“  Die mobile Jugendarbeit hat immer weniger reale Möglichkeiten, Jugendlichen zu helfen (Seithe/Wiesner-Rau 2013, S. 137)

Im Rahmen meiner Tätigkeit in der Mobilen Jugendsozialarbeit sitzen mir an meinem Schreibtisch viele junge Leute gegenüber. Was mir in meiner Arbeit täglich begegnet, lässt für mich die Schlussfolgerung zu, dass es bei jungen Menschen mit gravierenderen Problemen im Hinblick auf die strukturellen Bedingungen und die Chancen für eine Veränderung oder Verbesserung ihrer Lage ziemlich mau aussieht.
Das Wort Schreibtisch habe ich hier im Zusammenhang mit dem Arbeitsfeld Mobile Jugendsozialarbeit ganz bewusst gewählt. Früher wäre das absurd gewesen, diese Arbeit am Schreibtisch auszuführen. Aber es hat sich bei uns nach den Kürzungen vieles massiv geändert. So ist es einigen Projekten der Mobilen Jugendsozialarbeit im ländlichen Raum überhaupt nicht mehr möglich, mobil zu sein, weil kein Geld für das nötige Benzin, geschweige denn für ein Dienstfahrzeug vorhanden ist.
Im Wesentlichen arbeite ich mit „benachteiligten“ Jugendlichen. Meine Arbeit wird im
§ 13 SGB VIII als Integration solcher Jugendlichen in unsere Gesellschaft beschrieben. Das bedeutet praktisch: Hilfe bei der Arbeits- und Lehrstellensuche, Wohnungssuche, Suchtentwöhnung, Hilfe bei familiären Schwierigkeiten etc.

Das zu verwirklichen ist aber mittlerweile zu einem beinah unlösbaren Unterfangen geworden. Dabei fehlt es keineswegs an der Motivation der jungen Menschen. Es mangelt vielmehr an den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für eine Veränderung hin zu einer Integration. Im Klartext: Die Türen, die in ein integriertes Leben führen würden, sind quasi mit bürokratischen Schlössern verriegelt oder sie gehen so schwer auf, dass es für einen jungen Menschen allein fast unmöglich ist sie zu öffnen.
Wir erleben regelmäßig die Situation, dass unzählige Sozialarbeiterinnen und -arbeiter verschiedenster Sozialleistungsträger einem langzeitarbeitslosen jungen Menschen Mut zur Überwindung seiner bestehenden Suchtproblematik machen und ihm zum Beispiel eine Lehrstelle in Aussicht stellen. Entschließt er sich, sein Problem anzugehen, sieht die Wirklichkeit für ihn dann aber in den meisten Fällen folgendermaßen aus: Der Jugendliche ist ein Jahr weg. Er macht eine Entgiftung, anschließend laufen Therapien. Kommt er nach Hause zurück, erhält er aufgrund vorheriger Mietschulden keine Wohnung und bekommt daher keine Lehrstelle, da Wohnraum in der Regel dafür eine Voraussetzung ist. Einen Platz in betreuten, das heißt begleiteten Wohnformen, gibt es für ihn nicht mehr, wenn er über 18 Jahre alt ist. Also zurück zu den alten Kumpels, weil es draußen schneit … ach, das geht schon.

Aber es geht eben nicht. Wir erleben junge Menschen, die eine Lehrstelle aufnehmen, um sich aus dem ALG II-Bezug zu lösen, sich jedoch dann mit dem Problem konfrontiert sehen, dass laut SGB II ab dem ersten Tag der Ausbildung sämtliche, damit meine ich wirklich alle Leistungen nach SGB II eingestellt werden. Gleichzeitig fängt aber die Arbeitsagentur, die für die schulische Ausbildungs- und Berufsausbildungsbeihilfe zuständig ist, erst mit dem ersten Tag der Ausbildung an, die Beihilfe zu berechnen. Diese Berechnung kann sich dann mitunter über zwei Monate hinziehen. Und das bedeutet zwei Monate keine Miete zahlen können, was zu einer fristlosen Wohnungskündigung führen wird, und wenn nicht, dann zumindest zu einer emotional schwer zu ertragenden Zeit.

Besonders im ländlichen Raum kommt dann noch hinzu, dass ohne Geld auch der Weg zur Ausbildung zu einem Problem wird. Viele Jugendliche sind dann mitunter, weil es billiger ist, erst einmal krank oder verschweigen ihre Ausbildung und lassen sich vom Jobcenter überzahlen oder brechen ihren Versuch, aus ALG II herauszukommen, entnervt wieder ab. Es folgt der Rückfall in die Sucht und damit der Rückfall in den ALG II-Bezug.
Und wer trägt die „Schuld“ für die ausgebliebenen Lebensveränderungen? Laut eines voranstürmenden Neoliberalismus wird die natürlich den jungen Menschen selbst in die Schuhe geschoben. Vielleicht ist auch noch die mobile Jugendarbeit schuld. Die fehlenden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen jedenfalls bleiben in der Regel unhinterfragt und werden nicht angetastet.

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Fachliche Kritik der beschriebenen Arbeit und Arbeitssituation

Die Bemühungen der mobilen Jugendarbeit erscheinen hier wie die berühmte Situation des griechischen Sisyphos. Das, was sie mühsam und mit viel Zeitaufwand und Kraft aufgebaut hat, geht an dem Mangel an bereitgestellten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen wieder verloren. Es scheint, als würde die Soziale Arbeit hier nur zum Schein „ins Feld geschickt“, um die bestehende Suchtproblematik bei Jugendlichen anzupacken. Man hat den Eindruck, dass die Gesellschaft eigentlich keinerlei Interesse an einer wirklichen Lösung hat. Das verwundert angesichts der Tatsache, dass die immerhin für die Jugendlichen mögliche Suchttherapie viel Geld kostet.

Hier wird die eigentliche sozialpädagogische Arbeit gar nicht beschrieben und problematisiert. Es hat bei der Beschreibung des Erzählers aber den Eindruck, als sei diese durchaus erfolgreich. Aber die Politik ist nicht bereit, an den sozialpädagogischen Erfolg sinnvoll anzuschließen. Im Rahmen der Hartz IV Gesetze und im Rahmen der damit verbundenen Verfügungen und Regelungen entsteht für den aus der Suchttherapie Entlassenen erneut eine materielle Notsituation sowie faktische Obdachlosigkeit, was den Rückfall schlicht provoziert, wenn nicht sogar unvermeidbar macht – es sei denn, Eltern mit hinreichend Geld fangen den Betroffenen auf. Jugendliche ohne Mittel aber scheitern hier systematisch. Auf diese Weise wird ein wirklicher Erfolg geradezu verhindert.

Gesellschaftswissenschaftliche und politische Analyse Hintergründe

Man kann kaum glauben, dass für dieses dysfunktionale Umgehen mit der Problematik Sparmotive ausschlaggebend sind.

Die Regelungen im Kontext Hartz IV, die es den Jugendlichen unmöglich machen, sich wirklich wieder einzugliedern, sind vermutlich den rigiden, bürokratischen und auf Kostensenkung getrimmten Vorstellungen derjenigen zurückzuführen, die für die Umsetzung von Hartz IV verantwortlich sind. Das hier aber- weit weg von alle Gedanken an Effizienz – Geld einfach zum Fenster herausgeworfen wird, kann nur damit erklärt werden, dass hier niemand ganzheitlich und systemisch denkt und somit Fragen der Kompatibilität sozialer Leistungen und Angebote überhaupt nicht berücksichtigt werden.

Eine weitere Überlegung ist es, dass politisch keinerlei Interesse an der Zielgruppe besteht, man sie als zukünftige Leistungsträger dieser Gesellschaft längst aufgegeben hat und somit nicht bereit ist, für sie „Extrawürste zu braten“. Letztlich sind ja die Jugendlichen selbst schuld an ihrer Lage. Die Bemühungen der mobilen Jugendarbeit sind somit nur Ablenkung von der Misere, Verschiebung und Verschleierung der Situation. Und da man ihren Bemühungen letztlich Misserfolg konstatiert, bzw. den selbst verursachten Misserfolg in die Schuhe schiebt, kann man im nächsten Schritt fragen: „Was soll diese teure mobile Jugendarbeit eigentlich noch? Sie führt ja zu nichts.“

Einschätzung der Reaktion der betroffenen SozialarbeiterIn

Die KollegInnen von der mobilen Jugendarbeit stehen hilflos und wütend vor dieser Situation, die nicht nur Gleichgültigkeit gegenüber ihrer Klientel, sondern auch Gleichgültigkeit gegenüber ihrer fachlichen Arbeit ausstrahlt. Sie fühlen sich ausgenutzt und letztlich veralbert.
Was sie dagegen tun, wird nicht berichtet.

Grundsätzlich mögliche Handlungsperspektiven und Strategien der Gegenwehr im beschriebenen Beispiel

Das Team der mobilen Jugendarbeit und sein Träger könnten Eingaben gegenüber dem Sozialamt machen, könnten bis zur Stadtverordnetenversammlung vordringen mit Protesten. Auch wenn diese Protestschreiben und Argumentationen fachlich gut entwickelt und selbstbewusst vorgetragen werden, kann es passieren, dass sie niemanden interessieren – einfach weil die Zielgruppe niemanden interessiert. Hier Druck zu machen ist nicht leicht. Wenn man die Betroffenen dafür gewinnen kann, sich an diesem Protest persönlich zu beteiligen, wird es nicht leichter.

Widerstand am Arbeitsplatz ist  auch das Verweigern der allgemein üblichen und erwünschten Abwertung sozial benachteiligter Menschen und die deutliche Wertschätzung dieser Menschen. Es reicht nicht, gegenüber der Klientel parteilich und wertschätzend zu sein. Unsere parteiliche, wertschätzende Haltung sollten wir offensiv zeigen und unserer KooperationspartnerInnen deutlich demonstrieren. Im Zweifel müsste man auch von ihnen verlangen, dass sie von unserer Klientel mit Respekt sprechen und sie wertschätzend behandeln (sei es, es handelt sich um den Chef, das Team, den Geschäftsführer, die MitarbeiterInnen des Jugendamtes, des Jobcenters, der Schule etc.). In unserem Fall würde das heißen: denjenigen, die man ansprechen wird, um bessere Bedingungen durchzusetzen, sollte man nicht als BittstellerIn entgegentreten, sondern selbstbewusst Forderungen stellen und Veränderungen einklagen und damit die Würde unserer Klientel demonstrieren.
Aber man sollte es wissen: Wer sich für Verachtete einsetzt, darf sich nicht wundern, wenn er selbst verachtet und missachtet wird.

Bei dem Weg in die Öffentlichkeit wird man  nur dann erfolgreich sein, wenn es gelingt, die Medien und dann die Öffentlichkeit dazu zu bringen, sich für die Betroffenen und ihr Schicksal zu interessieren. Dieses Problem besteht insgesamt für die Soziale Arbeit. Je ausgegrenzter die Zielgruppen sind, für die man sich einsetzt, desto schwieriger wird es, andere dazu zu bringen, sich für sie zu interessieren oder gar einzusetzen. Schon deshalb wird man als SozialarbeiterIn, die in einem solchen Feld arbeitet und die sich nicht damit abfinden kann, dass ihre Klientel und ihre Arbeit so mit Füßen getreten werden,  versuchen, sich allgemein und über die eigene Arbeitssituation hinaus politisch zu engagieren.  Politische Interessengruppen, Organisationen, Gewerkschaften und der Berufsverband sind Organisationen, innerhalb derer man versuchen kann, gesamtgesellschaftliche Kritik an unserer neoliberalen und zunehmend Menschen entwürdigenden Politik zu üben.

Mancher SozialarbeiterIn und auch mancher Organisation scheint der Bogen vom problematischen Arbeitsplatz bis zur politischen Systemkritik zu weit gespannt. Aber wenn man die Lage wirklich kritisch betrachtet und diese Kritik zu Ende denkt, bleibt letztlich nichts anderes übrig, als die Aspekte und Orientierungen unserer Gesellschaft politisch zu bekämpfen, die nicht zuletzt auch der Hintergrund für die Lage in der Sozialen Arbeit darstellt.

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Was kann man tun? – Fall 6: „War das im KJHG so gemeint?“

Fortsetzung zum Thema „Das kann ich nicht mehr verantworten!“  – Kommentierung der Texte – Was tun? (6)

Text:  „War das im KJHG so gemeint?“ Soziale Gruppenarbeit als kostengünstiger Ersatz für Einzelfallhilfe (Seithe/Wiesner-Rau 2013, S. 193)

Ich bin in einem sozialen Brennpunkt unserer Stadt tätig, in dem sehr viele Familien leben, die ihren Kids nicht die hinreichende Förderung und oft auch keine konstruktive Erziehung bieten können. Viele der Kinder sind so sehr gestört und auffällig, dass sie massive Unterstützung brauchen würden. Hier ist also Erziehungshilfe nötig.
Das Jugendamt fragte also bei meinem Träger an, ob er für acht Jungen aus dem Viertel, die unbedingt Erziehungshilfe bräuchten, eine Sozialpädagogische Gruppe nach § 29 anbieten könne. Der Träger sagte zu, vereinbarte aber mit dem Jugendamt, dass die Gruppe angesichts der massiven Problematik der Jungen nur sechs, statt der sonst üblichen acht Plätze bereitstellen würde. Immerhin.
Zusammen mit einem Kollegen biete ich diese Gruppe nun an. Wir haben insgesamt zwölf Stunden die Woche zur Verfügung, um mit den Jungen zu arbeiten, regelmäßige Elterngespräche zu führen und so weiter. Dreimal die Woche kommen die Jungen zu uns in unsere Räume, die um 13.30 Uhr, also direkt nach der Schule, bis gegen 16.00 Uhr geöffnet sind. Wir beschäftigen die Kids mit Hausaufgabenbetreuung, gemeinsamem Essen und Freizeitangeboten. Das klingt soweit alles ganz o. k.
Aber da sind viele Haken, die das Angebot fragwürdig machen:
Einige der Jungen sind nämlich derartig gestört, dass sie eigentlich in der Jugendpsychiatrie behandelt werden müssten, mindestens aber in eine Sozialpädagogische Tagesgruppe gehören würden, wo deutlich mehr Zeit zur Verfügung steht und auch Einzelförderung möglich ist. Die Indikation für die Hilfemaßnahme „Soziale Gruppenarbeit“ stimmte hinten und vorne nicht: In einem Fall wurde das Kind in unsere Gruppe vermittelt, weil die Eltern eine Familienhilfe abgelehnt hatten, das Jugendamt aber irgendwas machen wollte, damit es diese Familie wenigstens im Auge behalten und auf diese Weise Kontrolle ausüben konnte. Ein anderer Junge in der Gruppe war aus der Heimunterbringung zurückgeführt worden. Die Familienhelfermaßnahme, die seine Heimrückführung begleiten sollte, wurde schon nach drei Wochen beendet, weil man – vermutlich aus Spargründen – der Meinung war, dass die Gruppenarbeit das auch hinkriegen könnte. Dieser Junge ist inzwischen wieder im Heim untergebracht, denn mit seinen Eltern wurde nicht gearbeitet und seine Reintegration in die Familie scheiterte. Kein Wunder, denn unsere Möglichkeiten sind verdammt begrenzt und wir konnten unmöglich leisten, was eine Familienhilfe oder auch ein Familienrat hätten leisten sollen. 

Die Fälle sind also für unser Angebot oft gar nicht richtig. Sie sind viel zu schwer und es ist abzusehen, dass unsere Arbeit kaum mehr sein wird als ein Tropfen auf den heißen Stein. Kurioserweise werden wir aber trotzdem gerade vom Jugendamt angehalten, nach außen das Image der Gruppe zu verbessern, wie man sich ausdrückte. Es sei nämlich inzwischen allgemein bekannt, welche „Kracher“ uns für diese Gruppe zugewiesen wurden, und das schrecke andere Eltern ab. Wir müssen also so tun, als seien die Kinder gar nicht so „schlimm“, damit Eltern ermutigt werden, ihre Kinder bei uns anzumelden. Ich finde das schlicht verantwortungslos.
Von den sechs vorgesehenen Kindern sind letztlich nur drei wirklich in der Gruppe angemeldet worden. Offenbar war es dem Jugendamt nicht gelungen, die Familien, die sie im Auge hatten, zur Mitarbeit zu bewegen. Die Gruppe ist also nicht voll und damit viel zu teuer. Wir sind deshalb neuerdings auch angehalten zu sparen. Elterngespräche dürfen ab sofort nur noch von einem Mitarbeiter alleine geführt werden. Das ist ein fachlicher Einschnitt, den ich für unsinnig und ineffektiv halte, weil die Gespräche zu zweit wesentlich mehr bringen.
Und da sind noch mehr Kuriositäten: Zum Beispiel wird die Gruppe nach dem schon erwähnten § 29 bezahlt. Hier gilt, dass nur ein vereinfachter Hilfeplan für die Kinder geschrieben werden muss. Da pro Monat aber noch drei Stunden aus dem Topf für Familienhilfe dazu fließen (sonst hätte die Finanzierung nicht geklappt), müssen wir, nur um den formalen Regelungen zu genügen, außer dem vereinfachten auch noch den großen Hilfeplan mit allen Dokumentationen und Formularen erarbeiten, so als handele es sich eigentlich um Familienhilfe. Wahrscheinlich wird die Arbeit dann in der Statistik auch als Familienhilfe auftauchen. Absurd, denn genau diese Hilfe wäre bei den meisten der Kinder nötig gewesen, wird aber aus Kostengründen oder weil man die Eltern nicht dazu bewegen konnte, nicht bereitgestellt.
Nichts gegen einen guten Hilfeplan! Würde das Jugendamt den jedoch wirklich ernst nehmen, wäre in keinem der Fälle die Sozialpädagogische Gruppe die hinreichende und richtige Hilfe! Haben solche Berichte und Dokumentationen eigentlich überhaupt eine Bedeutung, außer dass sich alle die Hände in Unschuld waschen können, weil die Vorschriften brav erfüllt wurden?
Ich mag den Beruf, ich mag diese Jungen, aber es ist traurig, dass sie zwischen die Räder der Bürokratie geraten und Opfer der Sparpolitik werden, statt dass man ihren Anspruch auf Hilfe wirklich fachlich ernst nimmt.

Fachliche Kritik der beschriebenen Arbeit und Arbeitssituation

Die Kollegin kritisiert selbst, dass die gewährten Hilfen nicht die richtigen Sind und bei den betreffenden Jugendlichen nicht greifen können. Und sie hat Recht.
Man kann nicht mit unzureichenden Bedingungen Probleme angehen, die mehr, mehr Intensivität, mehr Nähe, zusätzliche Strategien etc. erfordern. Der Glaube, dass ein bisschen Soziale Arbeit wenigstens ein bisschen nützen wird, ist fachlich unvertretbar. Denn nicht selten schlägt eine zu kurzgegriffene Hilfe in ihrer Wirkung ins Gegenteil um. Erreicht wird hier ausschließlich, dass eine teurere Hilfe hinausgeschoben und damit angeblich Geld gespart werden kann. Was natürlich nicht stimmt, denn in solchen Fällen sind die dann schließlich doch nicht mehr zu vermeidenden Hilfen viel teurer. Ober aber es „gelingt“ der Jugendhilfe, die Betreffenden in ein anderes Finanzierungsystem abzuschieben (Psychiatrie z.B.) oder ihr herannahendes Erwachsenenalter auszusitzen.

Soziale Gruppenarbeit als Ersatz für Jugendpsychiatrie, für Familienhilfe oder für Rückführungsbegleitung erweist sich als eine Milchmädchenrechnung. Hier sparen die Verantwortlichen im Jugendamt und im Einvernehmen mit dem jeweiligen Träger, der den Auftrag bekomm(en will)t, schlicht Geld.

Unverantwortlich ist es auch, für eine solche schief angelegte Gruppe bei Eltern Werbung zu machen und die Probleme der Kinder herunterzuspielen. Dass von den SozialpädagogInnen zu verlangen grenzt an einen dienstlich angewiesenen Betrug.

Die Folgen, die dieses ungeeignete aber trotzdem durchgezogene Erziehungshilfemodell nach sich ziehen, setzen dem Ganzen noch eins drauf: Weil die Gruppe nicht voll wird (was wiederum bei den Problemlagen zu einer noch größeren Katastrophe führen würde), müssen die KollegInnen sparen. Das bedeutet, die ohnehin falsch und zu knapp kalkulierte Hilfe wird zusätzlich noch verwässert und verschlechtert: Elterngespräche zu zweit sind z.B. nicht mehr erlaubt.

Ans Absurde grenzen dann die Folgen für die verwaltungsmäßige Behandlung der Hilfe: Aus finanztechnischen Gründen werden die Gruppenhilfen behandelt wie die SPFH, also die Hilfe, die zum Teil eigentlich die angezeigte gewesen wäre, obwohl man bewusst eine Hilfe konstruiert hat, die deren Intensität nicht erreichen kann.

MitarbeiterInnen werden unter solchen Bedingungen verschlissen, weil sie am falschen Platz das Falsche tun müssen und schließlich auf noch für die Misserfolge verantwortlich gemacht werden. KlientInnen wird schlicht die Hilfe verweigert, die sie nach dem Gesetz hätten bekommen müssen. Eine individuell passende und auf ihre konkreten Bedarfe hin ausgerichtete Hilfe.

 

Gesellschaftswissenschaftliche und politische Analyse Hintergründe

Wie ist so eine unglaubliche Stümperei erklärbar?

Dass Jugendämter so vorgehen, ist nur damit erklärbar, dass sie durch die politischen Vorgaben im Jugendamt dazu angehalten und letztlich gezwungen werden, die Kostenfrage, d.h. die Vermeidung von Kosten, für den Kern der Jugendhilfe zu halten und entsprechend zu handeln. Das Vorgehen ist eindeutig Gesetz widerig. Dennoch scheint das keinen mehr zu kümmern. Hilfen werden nach Haushaltlage und nicht nach Bedarf vergeben. Hilfen werden nicht so entwickelt, wie eine fachliche Diagnose gefordert hätte, sondern es wird versucht, mit einer billigeren Variante das Gleiche oder irgendwas zu erreichen, auf jeden Fall Zeit zu schinden. Das ist ein Verständnis von Effizienz, dass selbst einem Betriebswirtschaftler die Haare zu Berge stehen lassen wird – es sei denn, das „Produkt“ wird weder ernst genommen noch wirklich für notwendig gehalten und es geht nur noch um den Anschein, tätig gewesen zu sein und das Gesetz erfüllt zu haben. Aber dann würde jeder Betriebswirt sagen, dass die Aufrechterhaltung dieses Scheines ziemlich ineffizient ist und es sinnvoller wäre, die Herstellung dieses „Produktes“ ganz einzustellen.

Das Jugendamt scheint nicht mehr die Behörde zu sein, die das Gesetz KJHG fachlich ausfüllt. Scheinbar hat sich die Aufgabenlage dahingehend verschoben, dass es versuchen soll, die dabei entstehenden Kosten so niedrig wie möglich zu halten.

Hintergrund einer solchen Verschiebung ist die Ökonomisierung unserer Gesellschaft, die eben auch vor dem Menschen selbst, vor Lebensbereichen wie Soziales, Bildung, Pflege, Gesundheit etc. nicht Halt macht und auch dieses in ihr ökonomisches Warenverständnis einbezieht und diese Bereiche nicht mehr als gesellschaftliche Aufgaben gegenüber Menschen betrachtet, sondern als Bereiche, in denen man Gewinne machen, Geschäfte betreiben und Menschen selbst als Gegenstände der Produktion von Marktprodukten betrachtet. Dies ist ein Verständnis menschlicher Gesellschaft, dass mit einer humanistisch orientierten Sozialen Arbeit nicht mehr vereinbar ist. Das gilt auch dann, wenn Träger, SozialarbeiterInnen, ja sogar manche Politikerinnen versuchen, unter diesen Bedingungen doch noch etwas für die Betroffenen herauszuholen.

 

Einschätzung der Reaktion der betroffenen SozialarbeiterIn

Der Träger scheint die Pläne kritischer zu sehen als das Jugendamt, denn immerhin hat er im Vertrag die Fallzahl der Gruppe von 8 auf 6 heruntergehandelt – was aber angesichts der Lage  keine wirkliche Lösung, höchstens eine Beruhigung, darstellt.

Die Sozialarbeiterin, die diese Geschichte erzählt hat, ist sich der Absurdität und der Unverantwortlichkeit ihrer Aufgabenstellung bewusst. Sie macht ihre Arbeit Tag für Tag angesichts dieser Erkenntnis und zweifelt an ihrem Sinn. Sie sieht die Ursache sehr richtig in der Sparpolitik.

Von Widerstandplänen oder offen geäußerter Kritik wird nicht berichtet. Schließlich ist sie umzingelt von lauter Leuten mit Entscheidungsmacht, die es eigentlich besser wissen müssten und die vermutlich die kritische Stimme einer Mitarbeiterin bei ihrem Deal nicht gebrauchen können. Da wird der Entschluss zu offenem Protest nicht leicht gemacht.

 

Grundsätzlich mögliche Handlungsperspektiven und Strategien der Gegenwehr im beschriebenen Beispiel

Was hätte die Kollegin in dieser Lage tun können?

Möglicherweise wäre es durchaus sinnvoll und auch erfolgversprechend gewesen, am besten gemeinsam mit der KollegIn, zunächst dem Träger und dann mit ihm zusammen (vorausgesetzt, er konnte überzeugt werden) dem Jugendamt auf die Pelle zu rücken und zu versuchen, mit sachlichen, fachlichen Argumenten darzulegen, dass das Gruppenangebot mit diesem Konzept – zumindest für sämtliche zugewiesenen Fälle, fehlschlagen muss und damit weder wirken kann noch im ökonomischen Sinne etwas bringen wird. Es ist nicht auszuschließen, dass solche fachliche Argumentation überzeugt und die Pläne zumindest im konkreten Fall zurückgenommen bzw. korrigiert werden. Wichtig wäre hier, das Thema nicht irgendwann nebenbei und schon gar nicht in Situationen, in denen man gerade besonders sauer oder enttäuscht ist, anzusprechen, sondern selbstbewusst um einen offiziellen Gesprächstermin zu bitten.

Nicht immer wird solchen Gesprächen stattgegeben und nicht immer sind die Vorgesetzten oder Jugendämter einsichtig. Leider passiert es oft genug, dass die mutigen KollegInnen abgewiesen, beschimpft, lächerlich gemacht oder gar mit Sanktionen bedroht werden. Hier ist es wichtig, Rückhalt zu haben, z.B. bei einer Gewerkschaft oder wenigstens bei einer Gruppe von SozialarbeiterInnen, die sich solidarisch verhalten und unterstützend.

Wenn dieser Weg nicht funktioniert, steht es frei, solche Praktiken  öffentlich anzuprangern. Hier ist immer wieder der Drahtseilakt zu leisten, dies zu tun, ohne sich selbst zu gefährden und ohne ein Dienstgeheimnis zu verraten. Eine Gruppe aber kann gemeinsam Leserbriefe, Flugblätter in die Welt setzen, ohne dass der konkrete Fall genannt und die konkrete Kollegin oder der Kollege seinen Namen preis geben müssten. Dennoch wird die öffentliche wie die sogenannte freie Jugendhilfe nervös reagieren und versuchen, sich zu wehren. Auch hier sind eine starke Organisation im Rücken und die Solidarität möglichst vieler KollegInnen ein reale und auch eine psychische Unterstützung.

Wenn es üblich wäre, dass Träger und vor allem auch die öffentliche Jugendhilfe mit öffentlich er und auch öffentlich wahrgenommener Kritik  aus berufspolitischer und fachliche Sicht rechnen müsste, würde so manches nicht praktiziert, was heute ohne Skrupel umgesetzt wird. Warum verleiht z.B. ver.di oder die GEW oder der DBSH nicht jährlich einen „Preis“ für den Träger oder das Jugendamt, das sich die „dicksten Hunde in der Ökonomisierung“ erlaubt hat oder das seine MitarbeiterInnen am schlechtesten behandelt hat? … Man könnte auch einen Preis ausloben für positive Beispiele. Aber meistens sind zumindest für die Presse Skandale interessanter.

Gegen die Grundproblematik der Ökonomisierung wird man am eigenen Arbeitsplatz kaum etwas ausrichten können. Was nicht heißt, dass wir uns mit diesem gesellschaftlichen Phänomen abfinden müssen. Hier zeigt sich die Notwendigkeit, sich über die direkte Soziale Arbeit am eigenen Arbeitsplatz hinaus politisch zu verbinden, auch zu organisieren und vor allem, sich als kritische Sozialarbeiterin einzumischen in den politischen Diskurs, da wo man lebt und wo man mit Menschen zusammenkommt.

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Was kann man tun? – Fall 5: spFH braucht Zeit

Fortsetzung zum Thema „Das kann ich nicht mehr verantworten!“  – Kommentierung der Texte – Was tun? (5)

Text:  „Und da soll ich nun arbeiten“  – Familienhilfe braucht Zeit und die fehlt hier überall (Seithe/Wieser-Rau 2013, S. 125)
Ich beschreibe mal meinen jüngsten Fall, mit dem ich jetzt seit drei Monaten zu tun habe. Es handelt sich um einen der Fälle, die dir vom Jugendamt mit den Worten ans Herz gedrückt werden: „Eigentlich müsste das Kind raus – aber wir versuchen es halt noch mal.“
Es geht um eine alleinerziehende Mutter mit einer achtjährigen Tochter. Da ist auch noch ein Lebensgefährte, die Tochter nennt ihn „Papa“, aber er wohnt, zumindest offiziell, nicht in der Familie.
Es gibt schon seit einiger Zeit Probleme mit dem Kind. Es wurde mir als sehr schwierig beschrieben und die Mutter als nicht hinreichend erziehungskompetent. Für die Tochter gilt seit der Vorschulzeit § 35a KJHG (seelische Gefährdung oder drohende seelische Gefährdung) vor. … Abgesehen vom typischen „Zappelphilipp-Verhalten“, neigt das Kind dazu, seine Umwelt mit hysterischen, stark dramatisierenden Anfällen zu schockieren, zu beeindrucken und zu steuern. Durch entsprechendes Verhalten hat das Mädchen auch versucht, die Mutter davon abzuhalten, wieder arbeiten zu gehen.
Es gab für diese Familie bereits einmal eine Sozialpädagogische Familienhilfe, die aber vorzeitig durch einen Aufenthalt des Mädchens in der Kinderpsychiatrie beendet wurde. Nun sollte eine weitere Sozialpädagogische Familienhilfe die Probleme in den Griff bekommen.
Die Mutter wurde mir vor Fallbeginn von der Kollegin aus dem Jugendamt als an der Familienhilfe sehr interessiert und mitarbeitsbereit geschildert. Als wir bei dem Einführungsgespräch mit der Mitarbeiterin vom Jugendamt zum ersten Mal zusammentrafen, wurde der bereits vorliegende Hilfeplan verlesen. Ich hatte den Eindruck, dass der Mutter die Inhalte völlig neu waren. So enthielt der Hilfeplan auch die Auflage, dass die Mutter die Kleine zu einem ADHS-Training anmelden solle. Auch die Diagnose aus der psychiatrischen Klinik bekam die Mutter erst von mir zu hören. Keiner hatte sie ihr mitgeteilt, geschweige denn erläutert.
In dem ersten Gespräch, das ich mit der Mutter alleine führte, stellte sich heraus, dass sie überhaupt keine weitere Familienhilfe haben wollte und auch das ADHS-Training ablehnte. „Warum haben Sie denn im Jugendamt nicht gesagt, dass sie keine Familienhilfe wollen?“, fragte ich sie verdutzt. Die Antwort hat mich erschreckt: „Wer weiß, was dann alles mit meiner Tochter und mir passieren würde!“ Die Mutter vertraute mir viel später an, dass sie vor Jahren, in der Kindergartenzeit ihrer Tochter, vom Jugendamt Hilfe erwartet hatte, nachdem ein Psychologe bei dem Kind eine seelische Behinderung festgestellt hatte. Aber das Jugendamt hatte ihr jede Hilfe verweigert. Das hatte sie enttäuscht und ziemlich demotiviert. Und nun wollte sie mit dem Jugendamt lieber nichts mehr zu tun haben. Aber das konnte sie ja wohl nicht sagen? Also fügte sie sich. Das war die Ausgangssituation für meine Familienhilfe.
Hier war mal wieder jemand zu seinem „Glück“ mehr oder weniger gezwungen worden, so schien es mir. Aber ich machte mich trotzdem an die Arbeit. Es galt, die Ziele, die der Hilfeplan vorgab, nun gemeinsam mit der Mutter in konkrete, erreichbare und realistische Handlungsziele umzuformulieren. Die Ziele im Hilfeplan waren eher allgemein gehalten. Ich sollte beispielsweise die Erziehungskompetenz der Mutter stärken und ihre Antriebsschwäche überwinden helfen. Und ich sollte für das Kind eine sinnvolle Freizeitgestaltung erarbeiten.
Und da stand ich nun: mit gerade mal vier Fachleistungsstunden für alle diese Ziele! Vier Stunden, das ist bei uns zurzeit das Höchstmaß – es sei denn, es liegt eine unmittelbare Kindeswohlgefährdung vor. Von den vier Stunden blieben mir nach Abzug der Fahrtzeit von einer dreiviertel Stunde, nach Abzug von Zeiten für Vor- und Nachbereitung und für die notwendige „Umfeldarbeit“, also zum Beispiel für die Kontakte mit der Schule, und nach Abzug der Zeiten für das Schreiben von Berichten und Dokumentationen, nur knapp zwei Stunden für einen wöchentlichen Familienkontakt. Aber dadurch, dass die Stundenanzahl, die ich für eine Familie bekomme, so gering ist, muss ich bei einer 40 Stunden-Stelle bis zu neun Familien annehmen. Das bedeutet neun sogenannte Multiproblemfamilien im Kopf und im Blick haben.
Im Hilfeplan stand außerdem, die Mutter solle an mir als Modell lernen, wie man mit der schwierigen Tochter umgehen müsse. Kann mir mal einer sagen, wie ich auch das noch in zwei Stunden die Woche bewerkstelligen könnte? Und es ist doch eine pädagogische Binsenweisheit, dass Modelllernen nur dann funktionieren kann, wenn sich zwischen Lernendem und Modell eine gute Beziehung entwickelt hat. Aber ich habe doch überhaupt keine Zeit für Beziehungsarbeit. Wir können nur immer durchrattern, was an Problemen und Aufgaben ansteht. Mehr nicht. Ich frage mich bei solchen Geschichten: Sind das nicht auch alles sozialpädagogische Fachleute im Jugendamt? Warum machen die das mit?
Ich habe in meinen ersten Bericht hineingeschrieben, dass mit der Stundenzahl, die man mir gewährt, die vorgegebenen Ziele nicht zu erreichen sind. Aber das wird nichts nutzen, ich weiß es ja. Ich habe fürs ganze Jahr 250 Stunden, und wenn ich jetzt mehr brauche, dann fehlt es am Ende. Vielleicht wird man mir dann noch ein paar weitere Stunden gewähren. Aber es bleibt auch dann in jedem Fall bei einer Sozialpädagogischen Familienhilfe, die höchstens kompensatorisch wirkt: Ich kann so weder die Ziele erreichen noch überhaupt zu den eigentlichen Problemen vordringen.
Wenn ich es mir genau überlege, liegt schon der Hilfeplan schief. Denn es geht gar nicht vorrangig darum, dass die Mutter antriebsarm ist und über keine Kompetenzen verfügt. Ich würde vielmehr sagen: Das Kind ist psychisch gefährdet, weil es durch die Mutter eine permanente Entwertung erlebt. „Wenn du später erst mal hier raus bist, dann geht es mir besser!“, sagt sie zum Beispiel zu ihrer Tochter. Die Mutter hat eine sehr ambivalente Haltung zu dem Kind. Sie verletzt es immer wieder psychisch. Wenn man genau hinsieht, muss man sich über die Symptome bei dem Kind eigentlich gar nicht wundern. Im Jugendamt hat man scheinbar den naiven Glauben, man könnte solche massiven Beziehungsprobleme einfach durch eine Kompetenzzunahme der Eltern aus der Welt schaffen. Aber das alles scheint außer mir niemanden zu kümmern. Mir ist schon klar, was das Jugendamt in Wirklichkeit bewegt: Sie haben Angst, dass der Kleinen was passieren könnte, dass die Mutter ausrastet. Sie hat einmal gesagt, sie sei früher zu Hause nur geschlagen worden. Bei ihrer Tochter würde sie gar nicht damit anfangen, sonst könnte sie vielleicht nicht mehr aufhören, das läge sicher in ihren Genen. Und statt auf den Hilferuf einzugehen, der in dieser Aussage steckt, ist dies für die Jugendhilfe nur der Anlass für Kontrolle und Vorsichtsmaßnahmen, eben zum Beispiel durch eine Sozialpädagogische Familienhilfe.
Seit die Sache mit der Kindestötung im Nachbarbezirk passiert ist und das Jugendamt wieder mal in die Diskussion kam, ist die Angst noch größer. Jetzt haben wir die Auflage, jedes Gespräch genau zu dokumentieren, um uns und vor allem unsere Vorgesetzen und Träger abzusichern. Das sind dann so Fragen wie: ‚Waren die Kinder bei ihrem letzten Besuch auffällig? War die Wohnung auffällig? Wurden Vereinbarungen getroffen?‘. Letzteres ist besonders wichtig, denn wenn man zum Beispiel mit der Mutter nachweisbar vereinbart hat, dass sie zum Kinderarzt gehen muss, dann ist man aus allem raus, wenn sie es doch nicht tut und dann was passiert. Es scheint gar nicht um die Kinder zu gehen, sondern nur noch darum, dass einem nichts vorgeworfen werden kann. Alles, was gemacht wird, auch die Sozialpädagogische Familienhilfe, wird nur zur Selbstabsicherung gemacht. Man geht den Problemen nicht auf den Grund, man versucht nicht, Probleme zu verändern, Lernprozesse einzuleiten. …
Ich bin wütend über diese Einsparungen. Ich weiß, dass ich mehr mit den Familien erreichen könnte, wenn die Rahmenbedingungen besser wären. Es kann nicht sein, dass eine Gesellschaft Banken rettet, aber die Familien am unteren Rand dem Untergang geweiht sind. Gute Arbeit braucht Zeit. Ich arbeite hier mit Menschen und nicht mit irgendwelchen Maschinen. Eine Veränderung im Erziehungsverhalten zum Beispiel erreiche ich nicht durch schnelleres, billigeres, oberflächlicheres Arbeiten, sondern vor allem durch viel Zeit und Beziehungsarbeit. Von unseren Klientinnen und Klienten wird zum Wohle der Kinder berechtigterweise verlangt, sich zu verändern. Aber ich kann da nicht einfach hingehen und sagen, wie das geht, was sie machen sollen. Veränderungen sind schwer zu bewerkstelligen. So etwas fällt den meisten Menschen nicht leicht, egal aus welcher Bildungsschicht sie kommen. Auch sind die Lebensumstände meistens schwierig. Und oft wird die Notwendigkeit einer Veränderung zunächst nicht akzeptiert. Und Gewohnheiten zu verändern, bei denen der Betroffene gar nicht einsieht, dass er sie verändern muss, das ist noch viel schwieriger. Eltern müssen erst einmal selbst wirklich begriffen haben, mit dem Kopf und mit dem Herzen, dass zum Beispiel etwas für die Kinder schädlich ist. Und dann erst können sie die gemeinsam erarbeiteten Handlungen, die zu Veränderung führen sollen, umsetzen. Das braucht alles viel Zeit. Und die fehlt überall. Warum eigentlich? Ich will gute Arbeit machen. Aber so kann ich das nicht.
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Fachliche Kritik der beschriebenen Arbeit und Arbeitssituation

Die Kollegin beschreibt selbst sehr differenziert und genau, was hier alles falsch läuft:

  • Die Diagnose des Jugendamtes ist ungenau und oberflächlich. Es scheint auch nicht wirklich um das Wohl dieses Kindes zu gehen, sondern darum, dass nichts passiert, was dem Jugendamt dann angelastet werden könnte. Viele der abverlangten Tätigkeiten, z.B. die gesteigerten Dokumentationsverpflichtungen der Familienhelferin, dienen nicht dem Fortschritt der sozialpädagogischen Arbeit, sondern nur der Absicherung des Jugendamtes und der Vorgesetzen. Statt Menschen zu unterstützen und zu befähigen, legt man es darauf an, Verhältnisse zu schaffen, die es ermöglichen, im Ernstfall den KlientInnen den schwarzen Peter zu schieben zu können.
  • Die geheime Botschaft lautet: Eigentlich müsste das Kind raus, aber wir versuchen es noch einmal. Hier wird klar: Eigentlich ist dem Jugendamt der Ernst und die Kompliziertheit der Lage bewusst, aber es handelt anders. Warum?
  • Im Vorfeld wurde offenbar so gearbeitet, dass die Mutter über die psychiatrische Diagnose nicht informiert wurde und sich ein Verhältnis zum Jugendamt herausgebildet hat, dass von Vorsicht und Misstrauen geprägt ist. Ihre ablehnende Haltung gegenüber einer erneuten Hilfe zeigt sie nicht. Das Jugendamt schildert sie als mitarbeitsbereit, d.h. die Mutter hat ihre eigentliche Haltung erfolgreich verbergen können.
  • Die im Hilfeplan enthaltenen Ziele sind nicht wirklich auf das eigentliche Beziehungsproblem zwischen Mutter und Tochter gerichtet. Man beschränkt sich darauf, die Kompetenzen der Mutter zu steigern. Aber auch das, was jetzt im Hilfeplan steht, ist mit einer Stundenzahl von 4 Stunden in der Woche unmöglich zu erreichen. In dieser Zeit sind schließlich sämtliche Aufgaben zu erledigen, die mit dem Fall zusammenhängen. Es bleiben also nur ein Termin die Woche, bestenfalls mal zwei Termine.
  • Durch diese zeitliche Einengung ist eine methodische Begrenzung vorgegeben. Ein sozialpädagogischer Prozess, der Lernen, Entwicklung und Veränderung beinhaltet, ist so nicht möglich. Beziehungsarbeit ist ausgeschlossen. Es gibt keine Zeit zur Vertrauensbildung, zur Aushandlung und zur Beleuchtung der Hintergründe. Desgleichen kann keine Umweltarbeit stattfinden. Die Zusammenarbeit mit der Schule muss sich auf kurze Telefonate beschränken. Das, was hier als Sozialpädagogische Familienhilfe angeboten wird, ist ein Etikettenschwindel. Man könnte den Ansatz bestenfalls als Fallmanagement vor Ort bezeichnen.

 Gesellschaftswissenschaftliche und politische Analyse Hintergründe

  • Die immer weiter absinkenden Stundenzahlen für Sozialpädagogische Familienhilfe, die verkürzte Dauer der Hilfe und die Belastung der FamilienhelferInnen, innerhalb einer Vollzeitstelle (so es sie gibt) 9 Familien gleichzeitig betreuen zu müssen, führen zu einer fachlichen Verwässerung dieser Hilfeform und auch zu ihrer Pervertierung. Denn es gibt so nicht etwa nur „weniger SpFH“, sondern vielmehr etwas ganz anderes: Die Erziehungshilfemaßnahme Sozialpädagogische Familienhilfe verwandelt sich in eine Art Anleitung zur richtigen Erziehung, die auch kontrolliert wird und die bei ausbleibender Mitarbeitsbereitschaft oder bei Nichterfüllung der Auflagen zu Sanktionen und mehr Kontrolle, oder aber zum Abbrechen der Hilfe führt.
  • Das bedeutet, dass sich in der Praxis der ambulanten Erziehungshilfe ein Wandel vollzogen hat von der Hilfe zur Kontrolle, von der Arbeit mit den KlientInnen zur Arbeit an ihnen. Diese Hilfe, die eigentlich von der Beziehungsarbeit lebt, wird so gestaltet, dass genau das nicht mehr möglich ist. Diese Hilfe, die extrem sozialraumorientiert angelegt ist, wird so eingeengt, dass an eine Arbeit in und mit dem Sozialraum der Familie kaum noch gedacht werden kann. Was steckt dahinter?
  • Die angeblich hohen Kosten der ambulanten Hilfe zur Erziehung werden von der Politik nicht akzeptiert. Es wird alles daran gesetzt, dass diese Kosten gebremst werden bzw. deutlich zurückgehen. Dabei scheut man sich nicht, die Hilfen selbst inhaltlich kaputt zu sparen und fachlich auf den Kopf zustellen. Ein ernsthaftes Bemühen, Hilfe im Falle einer „Nichtgewährleistung einer dem Kindeswohl entsprechenden Erziehung“, d.h. im Fall unzureichender Sozialisationsbedingungen zu leisten, ist nicht mehr zu erkennen. Die Kontrollmöglichkeiten und die Chance, so die Kosten für eine stationäre Unterbringung einzusparen, scheinen die einzigen Motive zu sein, die noch zählen.
  • Dahinter steht zum einen das Sparkonzept der Ökonomisierung, das Rationalisierungen durchzieht, ohne darauf zu achten, dass die Inhalte erhalten bleiben.
  • Dahinter steht aber auch ein sinkendes Interesse der Politik an einer wirklich hilfreichen Hilfe zur Erziehung. Die SpFH ist nachweislich im Wesentlichen eine Hilfe für Familien mit ökonomischen und sozialen Problemen, also für einen Bereich der Gesellschaft, der nicht viel „Nutzen“ verspricht. Hier wird offenbar auf inhaltliche Qualität kein Wert mehr gelegt. Die formalistisch orientierten Qualitätsbemühungen lenken davon ab, dass die inhaltliche Qualität zunehmend zerstört wird oder schon worden ist.
  • Hier schimmert ein neues Menschenbild durch, das mit der Vorstellung des aktivierenden Staates und der Ökonomisierung der Gesellschaft Einzug gehalten hat und auch die Kinder- und Jugendhilfe massiv steuert.
  • Gegenwärtig findet, was die Kinder- und Jugendhilfe betrifft, ein massiver politisch forcierter Umbruch statt, der sich nach außen mit den Versprechungen einer sozialräumlichen Sozialarbeit schmückt und gleichzeitig auch tarnt. Diese Tarnung wirkt perfekt, denn die wenigsten durchschauen diesen Prozess. Faktisch geht es darum, durch neue Leitbilder wie die Sozialraumorientierung (oder auch die „Inklusion“) die ökonomisierte sozialer Dienstleistungsproduktion als „emanzipatorisch“ zu idealisieren.

Einschätzung der Reaktion und der Lage der betroffenen SozialarbeiterIn

Die Sozialarbeiterin sieht die Fehlentwicklungen glasklar. Und es ist für sie empörend und unerträglich, dass diese fachlich gesehen katastrophalen Arbeitsbedingungen in der Familienhilfe vom Jugendamt nicht nur geduldet sondern auch forciert werden. Sie beklagt, dass sie gute Arbeit machen möchte, aber faktisch daran gehindert wird.

Sie schreibt ihre Einschätzung offenbar in die Berichte hinein, hat aber erfahren, dass dies keinerlei Wirkung hat. Die Struktur des Arbeitsvertrages sieht sozusagen schon vor, dass es möglich ist, vorübergehend mehr Stunden in eine Familie zu stecken. Das klingt im ersten Moment gut. Bedeutet aber, dass dann am Ende die Stunden fehlen werden. Der Arbeitgeber hat sich mit dieser Regelung die Klagen nach mehr Stunden einfach vom Hals wegorganisiert.
Was die Kollegin darüber hinaus plant oder versucht, um sich gegen diese Entwicklung zu wehren, wir nicht berichtet.

Grundsätzlich mögliche Handlungsperspektiven und Strategien der Gegenwehr im beschriebenen Beispiel

Möglichkeiten der Gegenwehr am Arbeitsplatz selbst:

  • Hier wäre ein „Beharren auf Fachlichkeit“ und das Bestehen auf den erforderlichen Rahmenbedingungen für diese anspruchsvolle sozialpädagogische Arbeit angezeigt:
    Widerstand am Arbeitsplatz bedeutet: fachlich nicht zumutbare Zustände und Herausforderungen offen aufzudecken und sich zu weigern, aktiv daran mitzuwirken (Das für diesen Widerstandsweg eine gute, reflektierte und selbstbewusste Fachlichkeit Voraussetzung ist, soll erwähnt, aber hier nicht weiter vertieft werden).
    Mit fachlichen Zumutungen sind unzureichende Zeitkontingente, mangelnde Kontinuität, Festschreibung der Methoden, Festlegung von Zielen u.ä. gemeint. Das alles sind sowohl für uns als Professionelle massive Behinderungen, die unsere Fachlichkeit beschneiden oder torpedieren, als auch Zumutungen für unsere Klientel. Denn die werden so um die ihnen zustehende Hilfe und Unterstützung weitgehend betrogen.
    Fachliche Zumutungen dürfen nicht einfach so hingenommen und geschluckt werden. Es ist z. B. widerständiges Verhalten, in solchen Fällen deutlich und klar zu einer gestellten Aufgabe Stellung zu beziehen und die Unzumutbarkeit oder die Unmöglichkeit unter den gegebenen Bedingungen klar zu stellen und zu begründen.
    Dadurch wird man Chefs oder GeschäftsführerInnen zwar nicht gleich zum Einlenken bewegen. Aber man behält selbst einen „geraden Rücken“ und hinterlässt immerhin beim Gegenüber die Erkenntnis: „Da gibt es SozialarbeiterInnen, die finden sich mit den bestehenden Verhältnissen nicht einfach ab“.
  • Darüber hinaus gibt es eine Reihe von Möglichkeiten, sich widerständig zu verhalten: Man sollte immer die Ermessensspielräume voll ausschöpfen, Dienstanweisungen grundsätzlich hinterfragen, Dienst nach Vorschrift zu machen und die Folgen verdeutlichen, Bürokratieanforderungen nur soweit nachkommen, wie es die fachliche Arbeit nicht stört.
  • Wichtig wäre es auch, in Teamsitzungen kritische, auch unbequeme Fragen zu stellen, auch dann, wenn versucht wird, sie abzuwürgen oder wegzuschieben.
  • Man kann Vorgesetzte in fachliche Diskussionen hineinziehen. Gelegentlich gelingt es auch, Führungskräfte ins Boot zu holen.
  • Man kann bewusst gegen jedes Schönreden und Verharmlosen argumentieren.
  • Und nicht zuletzt: Ein solcher Widerstand am Arbeitsplatz ist natürlich um vieles wirksamer, wenn das ganze Team mitmacht oder wenn man gut mit Gleichdenkenden vernetzt ist. Es wäre von großer Bedeutung, wenn es gelänge, KollegInnen für diese Gegenwehr zu gewinnen.
    Das ist gerade im Rahmen der SpFH nicht leicht, da sehr oft völlig vereinzelt gearbeitet wird und KollegInnen sich bestenfalls zu Dienstbesprechungen sehen. Nicht umsonst gehört dieses Arbeitsfeld zu denen, in denen es nicht einmal fachlich orientierte überregionale Arbeitsgemeinschaften gibt, geschweige denn kritische Fachgruppen.
  • Nur gemeinsam wird man hier grundsätzlich etwas bei seinem Träger erreichen können. Besonders da, wo FamilienhelferInnen keine festen Verträge haben und als Stunden- bzw. Honorarkraft in Abhängigkeit vom Arbeitsanfall und den ihnen zugewiesenen Fällen arbeiten müssen, wäre ein Zusammenschluss von MitarbeiterInnen auf allen Ebenen dringend erforderlich: auf der Ebene des Trägers, auf der Ebene der Stadt oder Region über die Träger hinweg, als Fachgruppe in den bestehenden Interessen-Vertretungs-Organisationen etc. Dies gilt im Übrigen nicht nur für FamilienhelferInnen, sondern für alle EinzelfallhelferInnen, die zu den MitarbeiterInnen mit den ungeschütztesten, prekärsten und schlecht bezahltesten Arbeitsbedingungen im Sozialen Bereich gehören.

Über die Situation am Arbeitsplatz hinaus wäre politisches Engagement angesagt

Die Hintergründe für die fachlichen Fehlentwicklungen und strukturellen Zumutungen im Bereich der ambulanten Hilfen zur Erziehung sind nicht über den konkreten einzelnen Fall oder Träger zu erreichen. Hier haben wir es mit gesamtgesellschaftlichen Problemen zu tun: mit der Ökonomisierung, die zu Sparzwecken eingesetzt und die die ambulante Hilfe Zug um Zug zerstört und mit einem Menschenbild verbindet, dass es zulässt, Hilfen für sozial Benachteiligte nur noch proforma und im Wesentlichen als Kontrolle und Absicherung zu betrachten.

Diesen gesellschaftlichen Tendenzen kann nur durch eine starke politische Bewegung begegnet werden.
Hier sind die Interessenvertretungen der Sozialen Arbeit als mögliche Partner gefordert, wenn sie bereit sind, auch gesellschaftspolitisch zu wirken und sich nicht allein auf Fragen von Tarifen zu beschränken. Es wäre die Aufgabe des Berufsverbandes, über die direkte Interessenvertretung seiner Mitglieder hinaus, als sozialarbeiterische Instanz gesellschaftskritisch zu wirken.

Darüber hinaus befassen sich verschiedene Gruppierungen innerhalb der kritischen Sozialen Arbeit mit dem politischen und gesellschaftlichen Hintergrund der Neoliberalisierung in unserer Profession und entwickeln Strategien der Gegenwehr und alternative Praxismodelle.

Für den Einzelnen (mit einer solidarischen Gruppe im Rücken) bedeutet das:

  • Sich einmischen in den Diskurs um die Hilfen zur Erziehung, um die Ökonomisierung und ihre Folgen für die Profession und die Gesellschaft.
  • Sich informieren und auseinandersetzen mit neueren Entwicklungen. Es gibt inzwischen etliche kritische SozialarbeiterInnen-Blogs. Es gibt das Bündnis Kinder- und Jugendhilfe – für Professionalität und Parteilichkeit und vieles mehr.
  • Stellung beziehen zu den Entwicklungen, Entscheidungen und Vorgängen, die wir tagtäglich beobachten. Das Wort ergreifen und als soziale Fachkraft unsere Meinung, unsere Einschätzung kundtun: im Gespräch mit Freunden, durch Leserbriefe, Aktionen, durch das Mitmachen bei Petitionen und durch die aktive Unterstützung solcher Initiativen der eigenen Organisation, z.B. des Berufsverbandes.

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Was könnte man tun? – Fall 4: kein Erfolg?

Fortsetzung zum Thema „Das kann ich nicht mehr verantworten!“  – Kommentierung der Texte – Was tun? (4)

Text:  „Sie haben das Ziel nicht erreicht. Also keine Verlängerung“ – Erfolg ist in der ambulanten Psychiatrie, wenn es wenig kostet. (Seithe/Wiesner-Rau 2013, S. 32)
Als Sozialtherapeutin betreue ich in einer ostdeutschen Großstadt seit einem Jahr neben anderen Klientinnen eine psychisch kranke Frau. Ich bin Einzelfallhelferin in der ambulanten Psychiatrie und bei einem Träger angestellt, der mir die Fälle zuweist. Meine Therapiestunden werden von der Krankenkasse genehmigt und finanziert, ähnlich wie bei ambulant tätigen Psychotherapeuten. (Bis heute ist mir nicht klar, was die bei meiner Klientin zum Beispiel anderes machen könnten. Aber da ich „nur“ Sozialarbeiterin bin, bekomme ich deutlich weniger für die Stunde.)
Aber das ist nicht die Schweinerei, um die es mir hier geht. Was ich hier erzählen möchte, finde ich weitaus schlimmer! Es geht um eine junge Frau, Adriane M., die ich betreue und mit der ich sozialtherapeutisch arbeite. Sie ist seit ihrer Kindheit psychisch auffällig, hat die Schule nicht abgeschlossen und war auch nie berufstätig. Sie hat eine manische Depression und darüber hinaus eine massive Medikamentensucht entwickelt. Immer wieder war sie für mehrere Monate stationär in psychiatrischer Behandlung. Die Krankenhausaufenthalte haben nicht viel bewegt. Aber ich denke, die Beweggründe der Krankenkasse, dieser Frau eine ambulante Therapie zu genehmigen, sind nicht, eine Alternative zum eher wirkungslosen stationären Aufenthalt zu unterstützen, sondern vor allem Geld einzusparen, indem sie so weitere, teure stationäre Aufenthalte vermeiden.
Ich kenne Adriane M. inzwischen sehr gut. Die Arbeit mit ihr ist ein einziges Auf und Ab. Immerhin ist im Verlauf des Jahres ein gewisses Vertrauensverhältnis entstanden. Ich hatte mir, das heißt wir beide haben uns zum Ziel gesetzt, dass Adriane es schaffen soll, in eine eigene Wohnung zu ziehen oder in eine Wohngemeinschaft. Denn der Aufenthalt bei ihren Eltern tut ihr gar nicht gut und das hat sie inzwischen begriffen. Gleichzeitig möchte vor allem ich erreichen, dass die junge Frau selbstständig einkaufen kann, dass sich ihre Kontakte zu den wenigen Freunden und Bekannten wieder stabilisieren und dass sie lernt, ihre Zeit sinnvoll und vor allem nicht nur mit Essen zu verbringen. Adriane akzeptiert diese Ziele, auch wenn sie hier weniger motiviert ist als bei der Frage der eigenen Wohnung.
Einiges war in diesem Jahr zu bewegen. Wir haben den Absprung von den Eltern gewagt. Das ging eine Weile auch gut, aber nach zwei Monaten geriet Adriane in eine Krise und drohte mit Selbstmord, was zu einer erneuten, vorübergehenden stationären Unterbringung führte. Nach vier Wochen konnte sie wieder nach Hause und ich nahm die Arbeit mit ihr wieder auf. Es gelang uns dann gemeinsam, die neue, eigenständige Wohnsituation Schritt für Schritt zu stabilisieren.
Als das genehmigte Jahr fast herum war, schrieb ich den üblichen Bericht für die Krankenkasse und beantragte natürlich auch die Verlängerung der Hilfemaßnahme. Ich selber bin mit meinen Ergebnissen eigentlich zufrieden, besonders, weil es gelungen ist, nach der Krise sozusagen auf einem besseren Niveau weiterzumachen. So konnten wir endlich auch gemeinsam mit dem Arzt die Medikamentensucht etwas eindämmen und ich habe sogar erreicht, dass die junge Frau jetzt einmal in der Woche mit mir ins Schwimmbad geht und sich dort sogar mit ein paar anderen Leuten angefreundet hat. Gegen die Esssucht konnte ich freilich bisher noch nicht ankommen. Auch die selbstständige Wohnsituation ist immer noch ab und an Auslöser für Krisen, aber allmählich reagiert Adriane viel seltener mit Panikattacken und Depressionen. Wir waren also zwar recht gut vorangekommen, aber noch lange nicht über den Berg. Das selbstständige Einkaufen klappt bisher nur dann, wenn es der Klientin einigermaßen gut geht, aber es gab auch hier bereits Erfolge, auf die die junge Frau mit Stolz und Freude reagiert hat. Das war etwas sehr Neues, denn bisher zeigte Adriane auch bei eigenen Erfolgen und geglückten Versuchen eher nur ein resigniertes und höfliches Lächeln, mehr nicht. Für mich war dieses neue, stolze Lächeln übrigens ein deutlicher Beweis dafür, dass sie endlich anfing, sich aktiv zu sich selber zu verhalten. Und ich wusste, dass das die Voraussetzung für sie ist, in Zukunft motivierter und aktiver mitzuarbeiten.
Ich bin gestern fast auf den Rücken gefallen, als die Mitteilung von der Krankenkasse kam: Sie lehnen in Rücksprache mit dem Sozialamt den Verlängerungsantrag mit der Begründung ab, Adriane M. sei ja doch wieder und trotz der Sozialtherapie vier Wochen in stationärer Behandlung gewesen. Damit sei ein Erfolg aus ihrer Sicht nicht erreicht. Das Ergebnis zeige vielmehr, dass meine Arbeit nicht wirklich weiterhelfe. Ich könne froh sein, dass sie die Bewilligung nicht schon vor Monaten, sofort nach der stationären Einweisung, zurückgezogen hätten.
Ich kann es gar nicht glauben! All unsere kleinen und großen Erfolge spielen für die Auftraggeber keine Rolle! Für sie geht es wirklich nur darum, die stationären Aufenthalte zu reduzieren – und das sei eben nicht gelungen. Mit vier Wochen hätte die Patientin genauso lange im Krankenhaus gelegen wie im Vorjahr, als sie keine begleitende Hilfe hatte.
Was ist das fachlich gesehen für eine lächerliche Sichtweise!? Als wäre Adriane eine Maschine, in die ich nur fleißig Inputs reinstecken muss, damit sie brav und genau funktioniert. Haben die denn noch nie was davon gehört, dass solche therapeutischen Prozesse widersprüchlich, in Auf- und Ab-Bewegungen und manchmal äußerst zäh verlaufen? Haben die noch nie davon gehört, dass sich Menschen nicht von heute auf morgen stabilisieren können, dass dazu viel Vertrauen gehört, auch Selbstvertrauen, das erst langsam entstehen kann? Haben die noch nie davon gehört, dass alle Probleme gerade bei psychisch Kranken zusammenhängen und zusammenwirken und man auf all den verschiedenen Ebenen versuchen muss, geduldig und Schritt für Schritt voranzukommen?
Und was wird aus Adriane? Alle ihre Schritte zu einem neuen, selbstständigen Leben sind für die Katz? Haben die sich überlegt, was das für eine psychisch kranke junge Frau bedeuten kann, wenn unsere Kontakte auf einmal aufhören müssen? Haben die denn nicht begriffen, dass sie Adriane damit hochgradig gefährden?
Und was soll ich tun? Es ist nicht so, als hätte ich keine anderen Fälle. Ich könnte froh sein, dass ich jetzt für den jungen Drogenabhängigen Zeit haben werde, den ich bisher immer mit nur einem Termin in 14 Tagen vertrösten muss. Aber ich kann doch Adriane nicht so hängen lassen.
Was also soll ich tun? An die Krankenkasse schreiben? Protest einlegen? Widerspruch gegen den Bescheid? Ich bin ziemlich schockiert und geladen. Tatsächlich habe ich gestern, gleich nachdem ich den Brief gelesen hatte, bei der Sachbearbeiterin angerufen. Sie hat sich meine aufgeregten Einwände angehört und dann gesagt: „Sie müssen das auch mal von der Seite sehen: Vielleicht ist es doch auch ganz gut, wenn die junge Frau mal keine Betreuung hat. Manche legen sich eben einfach auf die faule Haut und entwickeln keine eigene Initiative. Wir warten es einfach mal ab.“ Da hab ich den Hörer aufgelegt. Was sollte ich dazu sagen?
Heute früh rief mich mein Träger an, er hätte gehört, der Fall Adriane M. würde nicht weiter verlängert. Das sei doch super, denn dann könnte ich jetzt endlich bei Roger, dem Drogenabhängigen, richtig einsteigen. Das Jobcenter läge ihnen schon seit Tagen im Ohr, weil der junge, drogenabhängige Mann erneut eingewiesen werden solle. „Sie haben doch schon Kontakt zu ihm aufgenommen, oder? Na sehen Sie, dann können Sie doch da jetzt endlich richtig was machen, das ist doch auch ein Vorteil!“
Da werde ich also wieder einen betreuen und therapieren, bei dem nur dann von Erfolg gesprochen werden darf, wenn er endlich und sicher keine weiteren Kosten mehr verursacht. Ist das eigentlich wirklich mein Job? Ich hatte mir das irgendwie anders vorgestellt.

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Fachliche Kritik

  • Die Sozialtherapeutin arbeitet ziemlich frei und intensiv. Offenbar kommt sie auch mit der vorgegebenen Stundenzahl zurecht. Das Problem ist, dass ihre Ergebnisse und Erfolge in keiner Weise gesehen und gewürdigt werden.
  • Das, was in ihren Augen Erfolg bedeutet, entspricht nicht der Zielperspektive und der Erfolgsdefinition derer, die über die Fortführung der Maßnahme zu entscheiden haben.
  • Dort wird der Erfolg rein betriebswirtschaftlich und auch das in erstaunlich einfach gestrickter Denkweise definiert: Ziel ist es, die Klinikaufenthalte zu reduzieren. Weil dies nicht der Fall war, gilt die Arbeit als erfolglos. Es wird weder gesehen, wodurch der Klinikaufenthalt notwendig wurde, noch dass ihm kein wirklicher Rückfall folgte, sondern eher ein Fortschritt in der Gesamtarbeit. Es wurde auch nicht berücksichtigt, wie die Gesamtprognose des Falls aussieht, ob also auf längere Sicht die Reduktion der Krankenhausaufenthalte wahrscheinlich werden könnte.
  • Damit ging es bei der Maßnahme um ein rein ökonomisches Ziel. Das Befinden der Patientin spielte dabei keinerlei Rolle. Auch bestanden ganz offensichtlich keinerlei Interesse am Fall selbst und ebenso kein Verständnis für die Therapieprozesse und ihr komplizierten, widersprüchlichen Verläufe.
  • Der Abbruch, der in Wirklichkeit positiv zu bewertenden und erfolgreichen Hilfe, dürfte einen großen Rückschlag für die Patientin bedeuten und vermutlich weitaus längere Klinikaufenthalte nach sich ziehen. Zumindest wird hier willkürlich und ohne inhaltliche Begründung der Versuch abgebrochen, einem behinderten, kranken Menschen ein Leben in der Gesellschaft zu ermöglichen.

Gesellschaftswissenschaftliche und politische Analyse der Hintergründe

Erklärt werden kann dieses Vorgehen der Krankenkasse bzw. des Sozialamtes nur dadurch, dass hier ein rein ökonomisches Konzept gefahren wird:

      • Es geht nicht um Hilfe, um Hilfe zur Teilnahme, um Heilung und das Wohlergehen der Betroffenen. Es geht ausschließlich um das Einsparen sonst entstehender Kosten.
      • Die Klientin und ihre Problemlage werden hier zur Ware und der Fall ist eine Frage von Effizienz. Die Hilfe im vergangenen Jahr hat sich nicht als hinreichend effizient erwiesen (es entstanden die gleichen Klinikkosten und die Kosten für die ambulante Hilfe noch dazu). Aus betriebswirtschaftlicher Sicht erweist sich der zusätzliche Einsatz als nicht kostensenkend als nicht effizient also nicht erfolgreich.
      • Dabei ist der fachliche Umgang mit der Problemlage geradezu primitiv: Wer hier entscheiden, könnte auch über den Erfolg eines neuen Herstellungsverfahrens für Autoreifen entscheiden. Fachliches Verständnis für die Sachlage fehlt vollständig. Das ist selbst aus betriebswirtschaftlicher Sicht unerträglich plump.

Hintergrund ist die Ökonomisierung des Gesundheits- und des Sozialbereiches, die ein solches Vorgehen rechtfertigt und vorschreibt und die keinen Unterschied zwischen Autoreifen und Menschen, zwischen technischer Produktion und psychosozialer Therapie und Beratung macht. Sozialamt wie Krankenkasse können nur noch solche Entscheidungen als gut befinden, die sich rechnen.

So werden die PatientInnen um die ihnen zustehende und die erforderliche Hilfe betrogen, die Professionellen werden aufgefressen und aufgebraucht und die Verfahren drohen zu mechanischen und unprofessionellen Steuerungsverfahren zu verkommen.

Einschätzung der Lage und Reaktion der betroffenen SozialarbeiterIn

  • Die Kollegin reagiert auf den Bescheid völlig arglos handelt  professionell.
    Sie hat mit dieser Reaktion nicht gerechnet. Sie fragt die Entscheidungsbehörde nach den Gründen und versucht noch einmal, ihre Argumente – diesmal mündlich – vorzutragen. Die Antwort macht ihr deutlich, dass außer ihr selbst niemand Interesse für ihre Klientin hat. Im Gegenteil, ihrer Klientin gegenüber wird sogar Misstrauen geäußert und die Vermutung angedeutet, dass sie vielleicht gar keine Hilfe bräuchte. Die Therapeutin ist so erschrocken, dass sie sich spontan nicht zu helfen weiß.
  • Ihr tut es um ihre Patientin Leid, auch um die viele und durchaus erfolgreiche Arbeit, die jetzt einfach zunichte gemacht werden soll. Und sie ist nicht so einfach bereit, den bequemen Weg zu gehen, den ihr Auftraggeber ihr anbietet.
  • Sie spielt mit dem Gedanken, sich zu beschweren oder Widerspruch einzulegen. Aber sie schwankt.
  • Es wird angedeutet, dass sie sich fügt und damit tröstet, dass der nächste Klient schließlich auch Hilfe braucht.

Grundsätzlich mögliche Handlungsperspektiven und Strategien der Gegenwehr im beschriebenen Beispiel

Hätte sie mehr tun können?

  • Sie hätte noch einmal anrufen und auf einem Termin mit der Sachbearbeiterin der Krankenkasse und dem Sozialamt bestehen können. Möglicherweise hätte sie mit ihren fachlichen Argumenten die beiden doch noch beeindruckt und sie soweit stärken können, das diese ihrerseits ihre Vorgesetzten entsprechend aufgeklärt hätten.
  • Bei Misserfolg eines solchen direkten Gespräches mit den Leuten an der Basis gäbe es auch die Möglichkeit, sich beim eigenen Träger Rückendeckung zu holen für weitere Gespräche mit deren Vorgesetzten, der Amtsleitung etc. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Träger hier sehr ängstlich sind, weil sie befürchten, als „renintent“ eingeschätzt zu werden und keine weiteren Fälle mehr zugewiesen bekommen.
  • Möglich wäre z.B. auch, den Vormund ihrer Patientin dazu zu bewegen, Widerspruch einzulegen oder sogar mit einer Dienstaufsichtsbeschwerde zu drohen.
  • Wichtig wäre in solchen Gesprächen und Auseinandersetzungen, den Gebrauch ökonomischer Begriff für sozialarbeiterische Prozesse infrage zu stellen. Hier müsste klar gemacht werden, was Erfolg für die Profession bedeutet und was nicht.

Welche Schritte sie auch immer unternimmt im Rahmen ihrer Arbeit, sie muss gute fachliche Argumente haben und diese gut vorbringen können. Und sie sollte immer klar ausstrahlen, dass sie nicht die Kolleginnen für solche Fehlentscheidungen verantwortlich macht, sondern das System der Ökonomisierung.

Es gälte, BündnispartnerInnen zu finden, denen die Ökonomisierung auch als Problem erscheint und die bereit sind, sich über die Regeln der Ökonomisierung hinwegzusetzen und Sie infrage zu stellen.

Mit anderen zusammen  wäre es gut möglich, den Fall in die Öffentlichkeit zu tragen, nicht durch Bruch des Dienstgeheimnisses oder gar der Schweigepflicht, sondern durch Veröffentlichung einer grundsätzlichen Meinung hier konkret zur Frage: Wozu wird PatientInnen geholfen – damit man Kosten einspart oder damit sie in Zukunft mit ihrem Leben besser klar kommen? Dafür kann man Leserbriefe oder Flugblätter nutzen. Wenn das Problem die öffentliche Jugend- oder Sozialhilfe betrifft sind auch offizielle Fragen im Stadtparlament und in den Ausschüssen geeignet.

Es soll eine Gruppe kritischer SozialarbeiterInnen gegeben haben, die mit einer Tageszeitung eine wöchentliche Kolumne vereinbart haben: „Neues aus der Sozialen Arbeit“, oder „Unser Sozialstaat auf dem Prüfstein“…. Und die so unbehelligt sagen konnten, was sie nicht in Ordnung fanden. Als Träger und Ämter Druck auf die Zeitung ausübten, diese Kolumne einzustellen, war die Gruppe in der Lage, so viele Leute zu Leserbriefen zu bewegen, dass es für die Zeitung nicht möglich war, den Wünschen nachzugeben. Aus so was könnte mehr entstehen, z.B. ein Forum über die Lage des Sozialen in dieser Stadt….

Was könnte man allgemein gegen die Ökonomisierung tun?

Unabhängig vom konkreten Arbeitgeber und von den zuständigen Ämtern in der Stadt müsste etwas gegen die Ökonomisierung insgesamt getan werden.
Das geht am besten in entsprechenden sozialen, sozialpolitischen Organisationen oder auch im eigenen Berufsverband und in Gewerkschaften. Dass hier so etwas geschieht, ist freilich nicht selbstverständlich. Da reicht es nicht, einzutreten und abzuwarten.
Es hängt davon ab, ob die jeweilige Organisation von möglichst vielen Mitgliedern dazu bewegt wird, sich politisch in bestimmten Fragen zu engagieren. Also bedeutet, sich zu organisieren mehr als darauf zu warten, dass die Organisation was für einen tut. Es bedeutet, zusammen mit Gleichgesinnten und mit der Unterstützung der Organisation im Rücken selbst aktiv werden und dabei ein dickes Fell und viel Geduld mitzubringen.

Gäbe es so etwas wie eine „Sozialarbeiter-Kammer“, könnte man sie als Sprachrohr gegenüber Ämtern und z.B. der Krankenkasse benutzen.
Aber auch schon der Gedanke, dass ein Träger, ein Amt, eine Behörde nervös werden könnte, weil sich der Berufsverband in eine Angelegenheit eingemischt hat, auch dieser Gedanke könnte einem gut gefallen. Dahin haben wir allerdings noch einen weiten Weg. Bisher wird der Berufsverband kaum mehr beachtet, als die störende Fliege an der Wand. Wir könnten das ändern. Nur wir.

Die Ökonomisierung des Sozialen, des Gesundheitsbereiches, der Bildung, der Pflege etc. ist ein hochbrisantes gesellschaftspolitisches Thema, das so manchen bewegt in unserer Gesellschaft. Hier besteht die Notwendigkeit, das sich die Soziale Arbeit, dass wir uns in den Diskurs einmischen. Da mag mancher kritische Wissenschaftler einen zündenden Zeitungsartikel oder Fachtext schreiben. Die „einfache SozialarbeiterIn“ mischt sich in diesen Diskurs vielleicht beim Mittagessen in der Kantine ein oder sie gründet eine Gruppe kritischer SozialarbeiterInnen in ihrer Stadt, die gemeinsam diese Fragen diskutieren und einen Weg finden, die Ergebnisse ihrer Diskussion in die Öffentlichkeit zu tragen.

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