Aktivierung versus Aktivierung 2010 avenir social

oder – wie man neoliberalen Essig in sozialpädagogische Schläuche füllt

der Artikel ist erschienen in: SozialAktuell (Schweiz) Heft: 9/2011

 Björn, 23 Jahre, seit einem halben Jahr ohne Arbeit, hinter sich zwei abgebrochene Lehren, hatte gestern einen Termin in der ARGE und wurde dort aktiviert.

Seine Fallmanagerin hat sich alle Mühe gegeben, ihn auf Trab zu bringen, hat ihm Jobs vorgestellt, bei denen er sich bewerben soll, hat ihm Dampf gemacht und unmissverständlich klargestellt, dass er nicht länger einfach nur rumhängen kann. Aber Björn hat das alles nicht hingekriegt. Er hat Angst, sich wieder zu blamieren und er will doch auch eigentlich Maurer werden und nicht Lagerarbeiter.  

Jetzt sitzt er doch wieder auf dem Sofa seiner Eltern und weiß nicht weiter. Weil er nicht funktioniert hat, wurde nun auch sein noch Hartz IV gekürzt. Aber, so kann man in der Akte der Fallmanagerin lesen: Björn wurde erfolgreich aktiviert. Es ist seine eigene Schuld, wenn er nichts damit anfängt.

 

Von Aktivierung ist sowohl im aktivierenden Staat als auch in der Sozialen Arbeit die Rede. Unter demselben Begriff verbergen sich jedoch jeweils unterschiedliche Inhalte, die verschiedene, wenn nicht sogar gegensätzliche Ziele und Absichten verfolgen und unterschiedlichen Weltbildern verpflichtet sind.

Aktivierung im sozialpädagogischen Sinne bedeutet den Versuch, Menschen zu (re)integrieren, indem man sie bei der Bewältigung ihres Alltags und Lebens unterstützt und befähigt und mit ihnen zusammen diesen Lernprozess plant und steuert. Die aktive Rolle der Klientel ist eines der wichtigsten emanzipatorischen Elemente der modernen Sozialen Arbeit. Nicht länger soll für die KlientInnen gesorgt werden (Fürsorge), noch sollten sie durch Druck oder Überredung zu ihrem Glück gezwungen werden. Soziale Arbeit versucht vielmehr, die Menschen intrinsisch zu motivieren und sie für das eigene Leben und seine Gestaltung zu interessieren und zu engagieren, d.h. sie (wieder) zum selbstverantwortlichen und selbstbestimmenden Regisseur ihres eigenen Lebens zu machen. Soziale Arbeit verbindet dies mit einem grundsätzlich humanistischen Welt- und Menschenbild, d.h., Soziale Arbeit versucht, die Menschen zu stärken – in ihren Kompetenzen, ihren Rechten und auch in ihren Fähigkeiten, sich zu Wehr setzen zu können gegen Ungerechtigkeit und Entwertungen.

Aktivierung im „aktivierenden Staat“ bedeutet, die Menschen dieser Gesellschaft dazu zu bewegen, für sich eigenverantwortlich selber zu sorgen, für Krisenfälle ihres Lebens selber vorzusorgen, ihre Arbeitskraft immer und unter allen Umständen zur Verfügung zu stellen und sich dafür ordentlich anzustrengen und einzusetzen. Beschäftigungsfähigkeit ist das entscheidende Ziel der Aktivierung. Ob ein Mensch in Arbeit kommt oder nicht, wird ausschließlich als eine Folge seiner persönlichen Anstrengungen und seiner Anstrengungsbereitschaft gesehen. Ausschluss, Misserfolg und Marginalisierung werden als selbst verschuldet angeprangert. Sanktionen und Schuldzuweisungen gelten als „aktivierende“ Maßnahmen für diejenigen „Kunden“, die keine Bereitschaft zu Eigenverantwortung, zur Arbeit unter allen Bedingungen etc. zeigen. Nachzulesen ist das z.B. im Anleitungstext für das „Beschäftigungsorientierte Fallmanagement“, das entstanden ist im Kontext der Betreuung und Vermittlung von Arbeitssuchenden im Kontext von Hartz IV (vgl. Glöckner 2006). 

Ein Vergleich der beiden Aktivierungsbegriffe und -prozesse zeigt, Aktivierung im Sinne des aktivierenden Staates und Aktivierung im Sinne der professionellen Sozialen Arbeit bedeuten keineswegs das Gleiche. Mit Schaarschuch ist festzuhalten, „dass der Aktivierungsbegriff der Sozialen Arbeit „unterschieden werden muss von der heute proklamierten neoliberalen Vorstellung einer „Erziehung zur Aktivität“ (vgl. Schaarschuch 2006, S. 106). Das bedeutet: Die in der Sozialen Arbeit traditionell verankerte Zielsetzung einer „Hilfe zur Selbsthilfe“  ist im Rahmen der neoliberalen Umdeutung zu einer bloßen Hilfe im Wettbewerb um entweder nicht vorhandene oder unzumutbare Arbeitsplatzbedingungen geworden.

Versucht wird also im Rahmen der neoliberalen Aktivierungspolitik, dem Klienten, der aufgrund angeblicher, mangelnder Initiative und Anstrengung nicht zurecht kommt und damit für die Gesellschaft eine Belastung oder gar Gefahr darstellt, die „Hängematte“, auf der er sich bisher meinte ausruhen zu können, einfach wegzunehmen. Soziale Arbeit dagegen bemüht sich, die Menschen zu stärken und zu aktivieren, und zwar mit ihnen und nicht gegen sie, in ihrem Rhythmus, ohne ihnen den Rücken zu brechen und nicht zum Zweck der Verbesserung von Humankapital, sondern zur gelingenden Lebensbewältigung zur Schaffung von menschenwürdigen Lebensbedingungen (vgl. Seithe 2010).

Nicht allein der Begriff Aktivierung hat im Rahmen der neosozialen Vorstellungen neue Inhalte und neue ideologische Ausrichtungen erhalten: ‚Eigenverantwortung’ z.B. ist ein in der lebensweltorientierten Sozialen Arbeit (zum Konzept der Lebensweltorientierung z.B. Thiersch  2009, Füssenhäuser 2006) wichtiger Begriff, der ebenfalls übernommen und dann anders gefüllt wurde. Das Gleiche gilt auch für die Begriffe „Partizipation“ oder „Empowerment“. So geht es der Sozialen Arbeit z.B. beim Empowerment darum, Menschen zu stärken, damit sie ihr eigenes Leben (wieder) selber steuern können. Der aktivierende Staat dagegen meint mit Empowerment, der Betroffene habe zu begreifen, dass er selber und allein für sein Schicksal und seine Problemlagen verantwortlich zeichnet.

Es handelt sich bei dieser begrifflichen Vereinnahmung um eine „semantische Übernahme“ sozialpädagogischer Begriffe durch den aktivierenden Staat, eine Übernahme mit höchst problematischen Konsequenzen für die Soziale Arbeit. Hier wird ein allgemein anerkanntes sozialpädagogisches Konzept, die Lebensweltorientierung, scheinbar sozialpolitisch „geadelt“. Faktisch aber erhalten die sozialpädagogischen Begriffe nunmehr andere, neue Inhalte und verpflichten zu anderen Zielsetzungen. Da aber die ursprünglich sozialpädagogischen Begriffe „auf alle Fahnen des aktivierenden Staates“ geschrieben werden, glauben viele Sozial Arbeitende, es ginge hier um nichts anderes, als um die Durchsetzung dieser sozialpädagogischen Konzeption und z.B. um die Absicht, die soziale und persönliche Integration von Menschen zu fördern. Durch diese scheinbare, begriffliche Gleichheit läuft das Konzept der Lebensweltorientierung derzeit Gefahr, in eine sozialpolitische und ideologische Falle zu laufen.

Was also kann und was müsste die Soziale Arbeit tun?

Es wird nicht ausreichen, angesichts der Umdeutung und Einvernahme der sozialpädagogischen, lebensweltlichen Begrifflichkeiten durch den aktivierenden Staat, die lebensweltliche Strategie Sozialer Arbeit zu betonen und den Eigen- und Selbstwert des Subjektes hervorzuheben, zu achten, zu aktivieren und zu stärken. Es wäre vielmehr eine theoretische Weiterführung der Lebensweltorientierung notwendig, die die semantische Vereinnahmung durch den aktivierenden Staat offensiv aufgreift, die zentralen Unterschiede zwischen beiden Vorstellungen von Aktivierung aufdeckt und das Verständnis hierfür vertieft. Es ginge dabei um die Infragestellung und Entlarvung der Umcodierung von solchen Begriffen durch den „aktivierenden Staat“, die aus der Sozialpädagogik stammen und dort in ihrer spezifisch sozialpädagogischen Bedeutung  die fachlichen und ethischen Denkmuster und Handlungsstrukturen bestimmen. Letztlich müsste eine theoretische Wieder-Herauslösung der sozialpädagogischen Begriffe und Konzepte aus einem Kontext geleistet werden, in dem diese, von ihrer kritischen, auch gesellschaftskritischen  Intention abgelöst, nur noch als Module einer modernen Sozialtechnik genutzt werden.

 

Warum aber, auch diese Frage sollte man sich stellen, war und ist es so einfach, die sozialpädagogischen Begriffe zu besetzen und scheinbar unbemerkt mit anderen Inhalten aufzufüllen?

In der Fachliteratur finden sich weitergehende Überlegungen zu dieser Frage. So stellt z.B. Roer  (2010)  fest, dass mit der Adaptation der individualisierenden Gesellschaftstheorie z.B. von Ulrich Beck in den 80er Jahren eine tief greifende Veränderung des wissenschaftlichen Selbstverständnisses der Profession hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen und damit auch sozialpolitischen Positionierung stattgefunden hat, die auch beim Konzept der Lebensweltorientierung durchaus feststellbar ist: Das weitgehende Ausgrenzen gesellschaftlicher Aspekte zu Gunsten einer massiven und umfassenden Individualisierung, die – dadurch bedingte – fehlende gesellschaftstheoretische Fundierung der Disziplin, die Propagierung vom Ende der Sozialen Frage und die Auffassung Sozialer Arbeit als bloße Dienstleistung haben der einige Jahre später einsetzenden neoliberalen Wirtschafts- und Sozialpolitik objektiv in die Hände gearbeitet.

Die Soziale Arbeit hat sich, so müsste man schlussfolgern, auf diese Weise ihrer eigenen Kernidentität beraubt. Sie sieht ihre Aufgaben nicht mehr in der Linderung von durch das politische und ökonomische System hervorgerufenen Problemlagen und in der Verbesserung der gesellschaftlich bedingten Lebenslagen der betroffenen Menschen. Konfrontiert mit einer Ideologie, in der soziale Probleme individualisiert und  gesellschaftliche Ursachen geleugnet werden hat sie nun  große Schwierigkeiten, ihre fachlichen und ethischen  Standards professionellen Handelns aus der eigenen Wissenschaftlichkeit heraus zu begründen.

Man muss sich also die Frage stellen, ob die lebensweltorientierte Soziale Arbeit mit ihren eigenen konzeptionellen Vorstellungen nicht auch selber dazu beiträgt, die Dethematisierung sozialer Probleme und den Abbau sozialstaatlicher Leistungen und Notwendigkeiten zu legitimieren. Denn somit würde die lebensweltorientierte Soziale Arbeit sich selber in die Fallen hineinführen, in die die Aktivierungspolitik sie lockt.

Um im Bild zu bleiben:

Es gilt, die „sozialpädagogischen Schläuche“ erst einmal selber auf  Risse und Materialschäden hin zu untersuchen, und dann zu prüfen, wie man sie, gegen „neoliberalen Essig“ abweisend und widerstandsfähig, erneuern könnte.

Hinweis:

Mit Fragen wie dieser, die die Auseinandersetzung mit den aktuellen Herausforderungen der Profession Soziale Arbeit durch die Ökonomisierung und den aktivierenden Staat aufwerfen, befasst sich das 2010 erschienene „Schwarzbuch Soziale Arbeit“. Dort geht es nicht nur um eine Analyse der Verhältnisse, sondern auch um die Frage, welche Wege Profession und die Disziplin Soziale Arbeit beschreiten könnten und sollten, um aus dieser Falle herauszukommen. (Seithe, M.: Schwarzbuch Soziale Arbeit. Wiesbaden 2010. ISBN: 987-3-531-15492-3. 22.95 Euro)

 

Literatur:

Füssenhäuser, C: Lebensweltorientierung. In: Dollinger, B./Raithel, J. (Hrsg.): Aktivierende Sozialpädagogik. Ein kritisches Glossar. Wiesbaden 2006, S. 127 ff
Glöckner, R.: Beschäftigungsorientiertes Fallmanagement. Praxisorientierte Betreuung und Vermittlung in der Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II) – Eine Einführung. Regensburg 2006
Roer, D.: Soziale Arbeit und Sozialpolitik. Der Beitrag der Mainstream-Sozialarbeitswissenschaften zu (Ent-) Politisierung der Profession. In: Michel-Schwartze, B. (Hrsg.) (2010): „Modernisierungen“ methodischen Handelns in der Sozialen Arbeit, Wiesbaden 2010, S. 33 – 48
Schaarschuch, A.: Dienstleistung. In: Dollinger, B./Raithel, J. (Hrsg.): Aktivierende Sozialpädagogik. Ein kritisches Glossar. Wiesbaden 2006, S. 91ff
Seithe, M.: Schwarzbuch Soziale Arbeit. Wiesbaden 2010
Thiersch, H.: Lebensweltorientierte Soziale Arbeit. Weinheim 2009 (1992)