„Soziale Arbeit – wo der Neoliberalismus den Untergang des Sozialen übt“
Ich habe unter diesem Titel eine kleine Artikelserie erstellt für eine Leserschaft, die nicht vom Fach ist. Ich dachte mir, es wäre an der Zeit, kritischen Menschen dieser Gesellschaft deutlich zu machen, dass die Soziale Arbeit von den gegenwärtigen Entwicklungen ebenso, vielleicht sogar besonders hart, betroffen ist.
Dabei bin ich mir darüber im Klaren, dass für viele auch für kritische Zeitgenossen Soziale Arbeit weder im Bewusstseinshorizont existiert, und selbst wenn, dann dort nicht als ein gesellschaftliches Feld gesehen wird, das eigentlich vom professionellen Anspruch her im Widerspruch steht zu den Tendenzen, die unsere Gesellschaft derzeit ertragen muss (erträgt, sag ich mal).
Nun habe ich mir gedacht: Eigentlich kann es nicht schaden, diese Aufklärungsartikel auch hier zu veröffentlichen, denn vieles davon ist ja auch innerhalb der Profession nicht gerade alltäglicher Talk.
Deshalb hier der erste Text
Teil 1
Soziale Arbeit – was hat sie mit den gegenwärtigen politischen Entwicklungen zu tun?
Die wenigsten Menschen nehmen Kenntnis von der Sozialen Arbeit und dem, was sie tut – noch weniger von dem, was man ihr antut. Soziale Arbeit ist für viele Mitmenschen etwas, mit dem sie nichts zu tun haben und auch nichts zu tun haben wollen. Sie ist schließlich für andere da. Für die Verlierer dieser Gesellschaft?
In Zeiten, wo es passieren kann, dass man selbst plötzlich zu den Verlierern dieser Gesellschaft gehört, sollte man sich lieber nicht über diesen gesellschaftlichen Bereich erheben.
Wer sich ein Bild von der gesellschaftlichen Bedeutung machen will:
Allein im Bereich der Jugendhilfe (ein wichtiger Teil der Sozialen Arbeit) waren 2022 in Deutschland rund 1,3 Mio. Personen beschäftigt, davon etwa eine halbe Million an einer Fachhochschule ausgebildete SozialarbeiterInnen. Damit ist der Personalbestand dort höher als in anderen bedeutenden Branchen in Deutschland, wie der Landwirtschaft oder der Automobilindustrie.
Die Jugendhilfe ist in vielen Arbeitsfeldern tätig, von der sogenannten Heimerziehung über das Adoptionswesen, die Jugendarbeit, die Unterstützungen der Familien bei der Erziehung bis z.B. zur Schulsozialarbeit, das Jugendamt nicht zu vergessen. Wie viele Kinder, Jugendliche, junge Erwachsene und Familien mit Kindern die Jugendhilfe erreicht, kann nur geschätzt werden. Die hoheitlichen Aufgaben, das sind die gesetzlich festgeschriebenen Hilfen und Betreuungen von besonders vulnerablen Personengruppen, betreffen laut Statistik des Bundesamtes ungefähr 1,5 Millionen Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene im Jahr. Dazu kommen 3,9 Millionen Kinder, die in Kindertagesstätten betreut werden und mehrere Millionen Kinder und Jugendliche die im Rahmen der Jugend- und Freizeitarbeit mit Angeboten der Jugendhilfe in Kontakt sind.
Das heißt, dass von den ca. 14 Millionen Kindern und Jugendlichen in Deutschland mindestens ein Drittel in Berührung oder auch intensiveren Kontakt mit der Jugendhilfe kommt.
Das Haushaltsvolumen allein der Kinder- und Jugendhilfe betrug 2022 rund 66 Milliarden Euro (wobei der Kindertagesstätten-Bereich die meisten Kosten ausmachte, 68,8%).
Das klingt nach viel Geld. Faktisch ist es jedoch so, dass der Zuwachs der bereitgestellten Mittel nicht im Ansatz mit der Zunahmen der Problemlagen der Kinder und Jugendlichen in Deutschland Schritt hält. Die Zunahme der gesellschaftlich bedingten Problemlagen von Familien mit Kindern, von Jugendlichen und Kindern selbst ist allgemein bekannt. Dennoch bemüht man sich, die Kosten zu senken, die Personaldecken auszudünnen, Hilfen zu verkürzen, Stellen einfach unbesetzt zu lassen, Hilfen immer unzugänglicher zu machen, Hilfemaßnahmen nur noch dann durchzuführen, wenn die Betroffenen ein hohes Maß an Mitarbeitsbereitschaft zeigen und außerdem ganze Bereiche, wie die Jugendarbeit, einfach auszuhungern.
Das soll offenbar auch so sein: Im neoliberalen Washington Consensus, von dem der englische Ökonom John Williams erstmals 1989 sprach, wurden zehn wirtschaftspolitische Empfehlungen formuliert, um letztlich die Gesellschaft dem Marktradikalismus zu unterwerfen. Die Empfehlungen umfassten laut Wikipedia „marktwirtschaftliche Maßnahmen wie Handelsliberalisierung, Privatisierung und Finanzliberalisierung. Sie beinhalteten auch Fiskal- und Geldpolitiken zur Minimierung von Haushaltsdefiziten und Inflation“.
Der Einschränkung der Staatsausgaben für Gesundheit, Bildung, Soziales kommt dabei, wie Staub-Bernasconi feststellt, enorme Bedeutung zu.
Die gegenwärtige neoliberale Politik in Deutschland hat vor Jahren ganz in diesem Sinne beschlossen, die Gelder für den Sozialbereich überhaupt und für die Jugendhilfe im Besonderen zu deckeln, nach Möglichkeiten zu reduzieren und nicht mehr einem aus ihrer Sicht „erfundenen“ Bedarf anzupassen. So ist die Soziale Arbeit und speziell die Jugendhilfe seit Beginn der neoliberalen Politik (etwa seit der Hartz-IV Gesetze) ein ständiges Opfer einer irrationalen Sparpolitik, die innerhalb des Tätigkeitsfeldes immer wieder zu partiellen Katastrophen führt.
Dass die Kosten dennoch steigen, verärgert die Politik sehr. Aber der Bedarf steigt ständig an. Und da die Leistungen der Jugendhilfe großenteils gesetzlich geregelt sind, hat der Staat wenig Chancen, aus dieser „Misere“ herauszukommen.
In Coronazeiten war besonders deutlich, wie der Staat mit diesem „Stiefkind“ umgeht. Bis auf die Bereiche, wo die Bevölkerung flächendeckend von Kürzungen betroffen gewesen wären (insbesondere die Kindertagesstätten) und dort, wo gesetzliche Vorgaben bestimmte Leistungen erzwingen, hat sie alles andere nicht mehr beachtet. Die VerliererInnen der Gesellschaft, die sozial Benachteiligten, Menschen in Lebenskrisen, Menschen in Armut und alleinerziehende Mütter waren ihr ziemlich gleich.
Eine aktuelle Studie zu den Folgen der Corona-Maßnahmen für den Bereich der Jugendhilfe (Alsago und Meyer 2023: „Prekäre Professionalität“) stellt fest, dass der Bedarf an Unterstützung in allen Bereichen der Jugendhilfe nach Corona stark angestiegen ist.
Sie berichten: „Stark oder sehr stark gestiegene Zahlen verzeichneten die Inobhutnahme-Stellen (58,4 %), der Allgemeine Soziale Dienst (51,5 %), Beratungsstellen (47,1 %), die Sozialpädagogische Familienhilfe (30,5 %), die Sucht-/Drogenhilfe (25,4 %), die Arbeit mit arbeitslosen Menschen (25 %) sowie die Heimerziehung nach SGB VIII (20,7 %). Während der Corona-Zeit aber wurden die Kontakte in fast allen Bereichen um etwa 50% zurückfahren. Heute, zwei Jahre nach Beendigung der Corona-Maßnahmen ist der vorige Stand der Leistungen keineswegs wieder erreicht worden und das, obwohl gerade durch Corona der Bedarf drastisch angestiegen ist. Die Folgen zeigen sich inzwischen immer deutlicher. Laut der neu veröffentlichten Trendstudie Jugend in Deutschland ist zum Beispiel jeder zehnte Jugendliche aktuell wegen psychischer Störungen in Behandlung.
Offenbar war die Corona-Entwicklung eine willkommene Gelegenheit, in diesem Bereich drastisch zu sparen. Aber Corona war nicht allein der Grund: Die Fachleute sind sich einig, dass Corona die vorhandenen Probleme nicht neu hervorgerufen, aber die schon lange bestehenden Problemlagen erheblich verstärkt hat.
Was z. B. mit den Jugendzentren in Deutschland los ist bzw. was ihnen und den betroffenen Kindern und Jugendlichen seit vielen Jahren vom Staat angetan wird, zeigt eindrücklich der folgen Ausschnitt eines Interviews:
Kurzfassung eines Interviews mit dem Mitarbeiter (44 Jahre) eines Jugendzentrums in einem größeren, sozial belasteten Wohngebiet in Berlin, veröffentlicht 2023 in der Berliner Zeitung unter dem Titel „Marzahn-Hellersdorf – Berliner Sozialarbeiter warnt: „Wir haben immer mehr Kinder, die sich selbst verletzen“. Der Leiter der Einrichtung schildert die Situation in seinem Jugendzentrum:
„Den Kindern und Jugendlichen in Berlin scheint es zunehmend nicht gut zu gehen. Einiges deutet darauf hin: Sei es die Zunahme von Jugendgewalt oder psychischen Erkrankungen, seien es Krawalle wie an Silvester, als Teenager Brandsätze auf Polizisten und Feuerwehrleute warfen und eine ganze Stadt sich fragte, wie das passieren konnte. Die Jugendlichen leiden unter einer massiven Perspektivlosigkeit, unter körperlicher Verwahrlosung, sexuellen Übergriffen. Es gibt nicht selten Suizidgedanken unter ihnen. Aber wir im Jugendzentrum können oft nur noch eine Notversorgung leisten.
Die meisten der Kinder wohnen hier in den Plattenbauten, etwa die Hälfte hat einen Migrationshintergrund. Ansonsten sind sie sehr verschieden. Und sie kommen nicht nur aus sogenannten Problemfamilien. Die Eltern sind oft Empfänger von Bürgergeld, Studenten und Geflüchtete.
Was aber auffällt, ist, dass es immer häufiger Kinder gibt, die nicht mehr nach Hause wollen, weil sie Angst haben, sich nicht wohlfühlen.
Eigentlich müssten hier fünf ausgebildete Vollzeitkräfte arbeiten. So sieht es das Jugendamt für eine Einrichtung dieser Größe vor. Im nächsten Doppelhaushalt für Berlin sind aber nur Mittel bewilligt, die bei uns für drei Stellen reichen. Wir versuchen das auszugleichen, aber es reicht nicht. Es kommen gleichzeitig immer mehr Kinder zu uns.
Ich denke, wir kriegen jetzt erst mit, was die Corona-Pandemie eigentlich bewirkt hat. Wir haben Drittklässler, die können nicht richtig schreiben. Wir haben Zweitklässler, die können nicht richtig sprechen. Wir würden gerne jeden Tag Hausaufgabenhilfe anbieten, aber auch das können wir nicht.
Wir haben auffällig viele Kinder, die sich selbst verletzen, sich ritzen oder draußen so lange gegen Gegenstände schlagen, bis ihre Hand blutet. Und die erzählen, dass sie nicht wissen, was sie mit ihrem Leben anfangen sollen, wo in diesem Leben ihr Platz ist. Auch das nimmt leider zu. Aber woran das liegt, können wir leider auch nur erfahren, wenn wir den Raum und das Personal dafür haben, um zum Beispiel öfter eine Gesprächsrunde speziell für solche Themen anzubieten.
Ich merke aber: Wenn Kinder fünf, sechs Jahre lang zu uns kommen, dann sind sie nicht mehr so. Weil sie hier lernen, über ihre Bedürfnisse zu sprechen und ihre Talente entdecken. Tanzen zum Beispiel oder Theater. Das können sie hier ausleben, anstatt auf der Straße Randale zu machen, Ärger mit der Polizei und Stress mit den Eltern zu bekommen.
Vor kurzem haben mehr als 70 Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen Alarm geschlagen und mehr finanzielle Unterstützung gefordert. Die Leute wundern sich immer, warum es so viele Gewaltexzesse unter Jugendlichen gibt, gleichzeitig gewährt man der Jugendhilfe zu wenig Mittel. Ich frage mich: Was denkt ihr eigentlich, wo die Prävention stattfindet? Wenn man keine Gewalt an Silvester will, dann muss man auch kontinuierlich etwas dafür tun.“
Soziale Arbeit war also nie das Lieblingskind irgendeiner unserer Regierungen und ist es schon gar nicht heute. Sie wurde mehr oder weniger ungeduldig bedient, und wenn es ans Sparen ging, war sie stets bei den ersten, die bluten mussten. Und die Zukunft wird noch ganz anders mit ihr umgehen: Irgendwo muss das Geld für die Rüstung ja herkommen!
So mancher meint, SozialarbeiterInnen, das seien doch die, die die Kinder ins Heim stecken oder die, die geholt werden, wenn es irgendwo mal wieder brennt zwischen Jugendgangs. Viele sehen in ihr den rechten Arm der Staatsgewalt. Soziale Arbeit hat als Profession die Aufgabe, Menschen, insbesondere die Verlierer der Gesellschaft, dabei zu unterstützen, ihr Leben so zu bewältigen, dass sie es autonom und in Würde meistern können. Sie hat auch die Aufgabe, die Lebensbedingungen der Betroffenen zu verbessern so weit es der politische Rahmen zu lässt. Unter den neoliberalen Bedingungen des Aktivierenden Staates ist es für die SozialarbeiterInnen sehr schwer ihr professionelles Konzept durch- und umsetzen.
Wie kaum ein anderer gesellschaftlicher Bereich ist die Soziale Arbeit ein Spiegelbild unserer Gesellschaft und zeigt wie ein Seismograf die aktuellen politischen Entwicklungen an. Sie ist Teil des Staates und gleichzeitig – wie niemand sonst – mit den Schicksalen und Problemen derjenigen Menschen konfrontiert, die in dieser Gesellschaft eben nicht zu denen gehören, die leistungsstark sind und damit das große Los gewonnen haben. In ihrer Arbeit werden die SozialarbeiterInnen ständig mit dem konfrontiert, was diese Gesellschaft anrichtet. Niemand hat so intime und spezielle Kenntnisse über das, was bei uns mit Menschen passieren kann. Eigentlich liegt dort ein riesiger Schatz an Wissen und Erfahrung vor, den aber in dieser Gesellschaft offenbar keiner haben will. Was sie wissen und denken wird nicht erfragt. Dieses Wissen ist wohl auch nicht erwünscht.
Die neoliberale Ideologie hat die Soziale Arbeit wie auch alle anderen Bereiche des Sozialen – vom Gesundheitswesen über die Pflege, die Altenarbeit und die Schulen – zu Marktereignissen degradiert, die sich nicht unterscheiden von jedem Industriebetrieb, der nur sinnvoll scheint, wenn er auch Gewinn abwirft. Heute soll die Soziale Arbeit sich nicht mehr um die Sorgen und Probleme der Menschen kümmern, sondern nur noch darum, dass Menschen sich an die vorgegebenen Normen halten und dass sie möglichst in der Lage sind, einer – egal welcher – Erwerbstätigkeit nachzugehen und damit dem Staat nicht mehr aufs Säckel zu fallen. Aus einer humanistischen Konzeption, wie sie die Soziale Arbeit spätestens seit etwa 1970 versuchte umzusetzen, wird derzeit immer mehr ein Domestikationskonzept, das Menschen zu ‚SelbstunternehmerInnen‘ erziehen möchte, die ganz allein selbst für sich zu sorgen haben und auch allein die Verantwortung tragen, ob sie im Leben zurechtkommen.
Weiter geht’s demnächst mit: „Soziale Arbeit – Neuerdings die rechte Hand der Polizei?„