Soziale Arbeit und Neoliberalismus heute

Dresden Ev. FH  17.4.24

Prof. Dr. M. Seithe

Ausgangsmotivation für mein erneutes Engagement in Sachen Soziale Arbeit und Neoliberalismus 


Als ich im vergangenen Mai eingeladen wurde, in einem Seminar der der ASH in Berlin etwas über die gegenwärtigen Probleme der Sozialen Arbeit aus meiner Sicht zu erzählen, machte ich eine für mich erschütternde und für meine jetziges Engagement wichtige Erfahrung:

  • Die Studierenden waren alle konzeptmäßig auf das übliche professionelle Konzept der Sozialen Arbeit eingestellt
  • Sie gingen davon aus, dass in der Praxis alles etwas schwieriger würde, weil es wenig Geld gibt und die Soziale Arbeit jetzt auch für diese Situation verantwortlich handeln müsse
  • Sie erwarteten aber alle, dass man auch heute, bei etwas gutem Willen durchaus noch eine qualifizierte und den humanistischen Vorstellungen der professionellen Soziale Arbeit entsprechende Praxis gestalten könne.

Für mich wurde klar:

  • Sie waren nicht oder schlecht auf das vorbereitet, was wirklich in der Praxis auf sie wartet.
  • Mit den Herausforderungen der neoliberalen Transformation hatten sie sich im Studium nicht oder nur marginal auseinandergesetzt. Sie brachten diese nur mit den Begriffen Sparen, auf die Kosten achten etc. zusammen.
  • Der Begriff Neue Steuerung war nicht wirklich klar und dass die Transformation mit der Ideologie des aktivierenden Staates zu tun hat und was das heißt, war mehr oder weniger unbekannt.

Deshalb arbeite ich nun seit fast einem Jahr an meinem neuen Buch-Projekt  „Schwarz auf Weiß: Soziale Arbeit und Neoliberalismus“

Ich werde hier versuchen, meine Schritte nachzuvollziehen, die ich im Rahmen meiner Recherchen und Überlegungen bisher gemacht habe.

Schritt 1: Analyse der Methoden-Lehr-Bücher   

FRAGESTELLUNG 1.

Ich habe mich gefragt, ob das heute allgemein so aussieht, ob die Lehre eine Auseinandersetzung mit dem Neoliberalismus nicht leistet und die Studierenden nicht auf die Praxis angemessen vorbereitet werden.

Deshalb habe ich angefangen, die heute gängigen Methoden-Lehrbücher darauf hin zu analysieren.

In meine Untersuchung habe ich folgende Bücher einbezogen:

  • Heiner, Maja (2004): Professionalität in der Sozialen Arbeit. Theoretische Konzepte, Modelle und empirische Perspektiven. Stuttgart (2004).
  • Müller, Burkhard (2017): Sozialpädagogisches Können. Ein Lehrbuch zur multiperspektivischen Fallarbeit. Freiburg i. B. 2013 (3.)
  • Ehrhardt, Angelika (2013): Methoden der Sozialen Arbeit. Schwalbach (2013)
  • Galuske, Michael (2013): Methoden der Sozialen Arbeit. Eine Einführung. Weinheim und Basel 20013 (10.) Hier habe ich auch die 7. (2007) und die 5. (2003) Auflage einbezogen und mit der von 2013 verglichen.
  • Kreft, Dieter, C. Wolfgang Müller (Hrgs): Methodenlehre in der Sozialen
  • Arbeit. Konzepte, Methoden, Verfahren, Techniken. München 2019 (3.)
  • von Spiegel, Hiltrud (2018): Methodisches Handeln in der Sozialen Arbeit. München, Basel 2018 (6.). Hier habe ich auch die 1. Auflage von 2003 einbezogen und mit der von 2018 verglichen.
  • Braches-Chyrek, Rita (2019) Soziale Arbeit – die Methoden und Konzepte. Opladen 2019
  • Walter, Uta M. (2019): Grundkurs methodisches Handeln in der Sozialen Arbeit. München 2019
    Wendt, Peter-Ulrich (2021) Lehrbuch Methoden der Sozialen Arbeit. Weinheim Basel 2021 (3. Auflage)

Leider bin ich zu dem Ergebnis gekommen, dass auch da genau das Gleiche passiert:            
ERGEBNIS 1.

Die neoliberale Transformation und Herausforderung spielt auch in den aktuellen Lehrbüchern zu den Methoden der Sozialen Arbeit zum Teil gar keine  oder aber eine mehr oder weniger kritische aber marginale Nebenrolle.      
Es werden im Wesentlichen die klassischen und zum Teil auch neuere Methoden ausführlich besprochen.

  • Nur in Ausnahmen wird dabei reflektiert, was die NST z.B. in Bezug auf diese sozialarbeiterischen Methoden bedeutet, bzw. ob diese Methoden noch immer möglich sind, ob sie unter den neuen Bedingungen noch immer dieselben sind.    
    Zum Teil wird über die Ökonomisierung und Neoliberalisierung kritisch gesprochen, aber mehr oder weniger losgelöst vom Rest des Buches.
  • Einzelne Verfahren, die betriebswirtschaftlicher Natur sind und im Kontext des Sozialmanagements stehen, werden vorgestellt, aber sie rangieren meist jenseits der „eigentlichen Methoden“ mehr so als Methoden der Organisation.
  • Das professionelle Konzept der Sozialen Arbeit, was im Wesentlichen auf die LWO nach Thiersch zurückgeht und sich als humanistisches Konzept versteht, wird dagegen in allen Büchern relativ ausführlich vorgestellt und zum Teil auch mit dem Methodenteil intensiv verknüpft.
  • Die neoliberale Ideologie des aktivierenden Staates, die für die Ausprägung des neoliberalen Konzeptes der  Sozialen Arbeit maßgeblich ist, wird gar nicht erwähnt.

Also auch hier wird der Eindruck vermittelt:             
Die alten Konzepte und die „guten alten“ und guten neuen Methoden der Sozialen Arbeit gelten nach wie vor und sind auch möglich. Die Ökonomisierung steuert ein wenig mit ihren Sparabsichten dagegen, aber letztlich zählt die professionelle Arbeit und kann sich im Wesentlichen durchsetzen.

Schritt B. Vergleich der beiden Konzepte

FRAGESTELLUNG 2:

Ich habe darauf beschlossen, diesen Fragen nachzugehen und aufzuklären, ob die hier offenbar angenommene Vereinbarkeit dieser beiden Konzepte wirklich möglich ist, ob es also eine – wie so oft behauptet – beide Seiten befriedigende Symbiose zwischen professioneller SOZIALE ARBEIT und Neoliberalisierung geben kann. 

Kann man beide Konzepte so miteinander verbinden, dass bei keiner Seite die wesentlichen Merkmale und Arbeitsprinzipien verloren gehen?

Sind Kompromisse vorstellbar, wo beide Seiten auf einander zugehen?

Sind die konzeptionellen Vorstellungen gleich berechtigt oder dominiert eine Seite?


Um die Konzepte differenziert vergleichen zu können, habe ich zunächst eine Reihe wesentlicher Aspekte eines Sozialarbeiterischen Konzeptes zusammengestellt. Damit deutlich wird, was im konkreten Fall verglichen wurde, führe ich hier die für meinen Vergleich genutzte Liste von 9 wichtigen Aspekten eines jeden Konzeptes der Sozialen Arbeit auf:

Liste der relevantesten Aspekte einer sozialarbeiterischen Konzeption:

  1. Zielgruppe, Probleme, Themen

Zunächst enthält ein Konzept, das Soziale Arbeit beschreiben will, sinnvollerweise eine Aussage dazu, was die sozialarbeiterische Handlung auslöst, sie erforderlich macht, welche Fragestellungen und Probleme sie zu bearbeiten hat und an wen sie sich mit ihren Handlungen wendet.

  • Aufgabenselbstverständnis, Mandate und Erwartungen

Aufgabenzuschreibungen können dabei von unterschiedlichen Seiten kommen und von unterschiedlicher Verbindlichkeit sein.

Anforderungen und Erwartungen in Bezug auf das sozialarbeiterische Handeln kommen aus drei unterschiedlichen Perspektiven: vom staatlichen Mandat, von den Erwartungen der Klientel und aus dem fachlichen Aufgabenselbstverständnis.        
Das Konzept gibt Auskunft über das Verhältnis dieser drei Anforderungsebenen jeweils untereinander und die daraus entstehende Situation der möglichen Ambiguität für die Sozialarbeiterin.

  • Situationsspezifische Merkmale des Handlungsprozesses in der Sozialen Arbeit

Der nächste Aspekt bezieht sich auf die situationsspezifischen Merkmale der sozialarbeiterischen Tätigkeit, also zum Beispiel auf den der Charakter der Handlung entweder als Interaktion oder als einseitiger Ansprache, als Kommunikation oder Präsentation, auf die Verallgemeinerbarkeit einzelner Situationen, auf das Maß an Direktheit, das erforderlich ist sowie auf die konkreten Anlässe und Faktoren, die sozialarbeiterisches Handeln auslösen können.

  • Menschenbild

Hier richtet sich der Blick auf die Zielgruppe oder Zielperson der Handlung. Werden die Personen als Subjekte oder als Objekte gesehen? Wie werden die Betroffenen unter der ethischen Perspektive wahrgenommen? Welche Bedeutung nehmen sie im Gesamtkontext ein? Geht das Konzept von der Autonomie der Betroffenen aus und von ihrer prinzipiellen Lernfähigkeit und der Fähigkeit zur Selbstermächtigung?

  • Inhaltliche Themenschwerpunkte der Interaktion

Worum geht es in der Interaktion? Was sind die Themen, die behandelt werden? Auf welche Aspekte der Situation wird explizit eingegangen? Was ist der Inhalt der Handlung?

  • Soziale Struktur des Handlungsprozesses

In Korrespondenz zum Aspekt 3 stellt sich die Frage, wie die Interaktion zwischen den beiden beteiligten Personen gestaltet wird. Welche Bedeutung haben welche Formen der Kommunikation und Interaktion? Welche Rollen spielen der Betroffene einerseits und der professionelle Sozialarbeiter andererseits im Interaktionsprozess? Wie wird der Bearbeitungsprozess gestaltet und wer ist für das Ergebnis zuständig?

  • Verhältnis von Menschen und Umwelt bzw. Gesellschaft

Wichtig ist ebenfalls die jeweilige Sicht auf das Verhältnis zwischen dem Betroffenen und seiner sozialen und materiellen Umwelt. In welchem Verhältnis stehen sie zueinander? Welche Bedeutung wird dem sozialen Umfeld und im weiteren Sinn der Gesellschaft und Politik für die Entstehung der Probleme und für ihre Lösung zugeschrieben?

  • Komplexität, Struktur und Methodologie

Schließlich muss ein Konzept Aussagen dazu machen, welche erkenntnistheoretischen Strukturmerkmale ihr Gegenstand hat, das heißt, wie der betroffene Mensch in seiner sozialen Umgebung, der Prozess der Interaktion, die zu bearbeitenden Problemlagen und Problemlösungsprozesse etc. in sich strukturiert sind. Handelt es sich um eine systemische, ganzheitliche Struktur oder lassen sich z.B. direkte Bezüge von Ursache und Wirkung ableiten? Aus der Beantwortung dieser Frage ergeben sich zentrale Grundlagen für die zu entwickelnde Methodologie.         

  • Methodisches Handeln und Anwendung von Methoden

Bedeutet methodisches Handeln einfach nur Anwendung der Methoden? Sind Methoden standardisierbar oder müssen sie dem Einzelfall angepasst werden? Wie und nach welchen Kriterien wird die Methode jeweils ausgesucht?

In Bezug auf diese einzelnen Konzeptaspekte habe ich dann jeweils die Aussagen des professionellen, humanistische orientierten Konzeptes der Sozialen Arbeit – wie es in den Methoden-Büchern vertreten wird – mit den entsprechenden Aussagen aus dem neoliberalen Konzeptansatz sogenannter modernisierter Sozialer Arbeit vergleichen können.

Dieser differenzierte Vergleich der jeweiligen Aussagen von VertreterInnen der Konzepte ergab in vielen Fällen Widersprüche, Unstimmigkeiten und oft auch unvereinbare Widersprüche.

Um klarzumachen, wie das gemeint ist, stelle ich hier in Bezug auf zwei Aspekt-Beispiele das zusammengefasste Ergebnis vor:

1. subjektorientiertes Menschenbild

Zusammenfassung Gemeinsamkeiten und Unterschiede

Für die professionellen Konzepte spielen ethische Fragen eine wichtige Rolle. Sie gehen explizit von einem humanistischen Menschenbild aus, das die Würde des Klienten sichern will, den Menschen in seiner Einzigartigkeit betrachtet und Respekt vor seinem Eigensinn hat.             
Ziel ihrer Arbeit ist es zum einen, Hilfe bei der Lebensbewältigung der Klienten zu leisten und auf diese Weise ihre Autonomie und ihre Selbsthilfekräfte zu stärken. Ziel ist außerdem die Emanzipation von beengenden und behindernden Faktoren bei der Lebensführung.      
Zum zweiten ist das Ziel, Hilfe zur Selbsthilfe zu leisen, also den Klienten zu befähigen, perspektivisch sein Leben selbstständig bewältigen zu können.

Für die neoliberale Konzeption ist von den verschiedenen Aspekten der Subjektorientierung in allererster Linie wichtig, dass Menschen über Selbsthilfepotentiale verfügen. Diese gilt es herauszufordern und zu stärken.
Die Lösung der benannten und erlebten Probleme der KlientInnen selbst steht eher an 2. Stelle. Eine Förderung von Autonomie und Emanzipation außerhalb der direkten Zielsetzung einer Unabhängigkeit von Fremdhilfe und der Entwicklung von Arbeitsfähigkeit spielt hier keine Rolle.

Das Bemühen darum, das der Klient beginnt, sein Leben aktiv selbst in die Hand zu nehmen und eigene, realistische Problemlösungen zu entwickeln, besteht auch in den sozialpädagogischen Konzepten ausnahmslos. Jedoch wird hier die Notwendigkeit gesehen, den Betroffenen zunächst dabei zu unterstützen, die für eine Selbsthilfefähigkeit erforderliche  Motivation und Haltung zu entwickeln.          
Außerdem geht es im professionellen Konzept bei der Ressourcensuche nicht nur um die Stärkung des Klienten durch eine von ihm vollzogenen Verhaltensänderung, sondern auch um die Aufdeckung und Veränderung von hemmenden Einstellungen oder um den Abbau von Ängsten sowie um die Schaffung von materiellen und sozialen Ressourcen, die der Klient nicht selbst oder zumindest nicht ohne Unterstützung erreichen kann.

Im neoliberalen Konzept reduziert sich die sozialarbeiterische Interaktion und Intention auf die Forderung, aktiv zur Lösung der Probleme beizutragen, sie selbständig zu übernehmen und sich so schnell wie möglich daran zu machen, sie im eigenen Leben eigenverantwortlich umzusetzen, ohne länger auf die Unterstützung professioneller Helfer zu bauen. Verlangt wird im neoliberalen Konzept der hochmotivierte, „mündige Kunde“. Ist der Klient nicht bereit oder in der Lage, diese Haltung sofort einzunehmen, wird sie gefordert.  Wer dennoch nicht als motivierbar erscheint, wird sanktioniert oder aber von jeder Unterstützung ausgeschlossen.,

Die beiden Konzeptvorstellungen kollidieren in den Fällen massiv miteinander, wenn beim Klienten die Voraussetzung eines „mündigen Kunden“ nicht gegeben ist.

2. Beispiel

Sicht auf das System Mensch und Umwelt

Gemeinsamkeiten und Unterschiede

Für die professionellen Konzepte spielt die Einbeziehung der sozialen Umwelt in die Konzeption und die Fallbearbeitung eine zentrale und in mehrfacher Hinsicht wichtige Rolle:

Zum einen entspricht sie dem systemischen und ökologischen Ansatz, der Mensch und seine Umwelt als System begreift und Menschen nicht losgelöst von ihren Verbindungen mit ihrer Umwelt erklären kann. Zum anderen richtet sich dieser Ansatz gezielt gegen eine Individualisierung des Menschen und dagegen, ihm für seine Probleme allein die Schuld zuzuschieben.

Das soziale Umfeld wird in der konkreten Arbeit hinsichtlich möglicher Ressourcen, aber auch hinsichtlich problemauslösender Faktoren ins Kalkül gezogen. Die Unterstützung bei der Bewältigung der Lebenswelt kann auch bedeuten, dass versucht wird auf die Lebensbedingungen positiven Einfluss zu nehmen.

Für die neoliberale Konzeption ist das systemische Verhältnis von Menschen und ihrer Umwelt im Wesentlichen nur mit Blick auf die dort möglichen Ressourcen interessant. Denn wo die Ressourcen des Betroffenen zur Selbstermächtigung nicht ausreichen, wird nach Unterstützung im sozialen Umfeld gesucht. Ziel ist nur die Verselbständigung der Klientel, die unter anderem durch soziale nicht-professionelle Unterstützung gelingen kann bzw. auch ganz und gar auf sie baut. Die sozialen Ressourcen stehen in diesem Konzept für Alternativen zur professionellen Fremdhilfe.

Ein Blick auf soziale Aspekte, wenn es um die Verursachung der Probleme der Klientel geht, ist hier nicht vorgesehen.

Die KientIn trägt ganz allein die ganze Verantwortung für das Gelingen ihres Lebens. Deshalb ist auch eine Lösungsfindung, die außerhalb des Betroffenen in einer Veränderung seiner Lebensbedingungen liegen könnte, außerhalb der Möglichkeiten und der Ambitionen dieses Konzeptes.

Wenn es um Fragen der Autonomie jenseits der Zielperspektive des Employability, wenn es um Emanzipation, um Befreiung von Unterdrückung, um die Stärkung von Widerstandskraft u.a. gehen soll, bewegen sich die beiden Konzepte weit auseinander.

…..

Unter dem Strich kam heraus:

ERGEBNIS 2:

Wenn beide Konzepte in voller Klarheit und auch weltanschaulichen Intention  gegeneinander gestellt und nicht irgendwie verwischt werden, heißt das Ergebnis:
Das neoliberale Konzept der Sozialen Arbeit, wie es z.B. von Schönig vertreten wird, hat mit dem professionellen humanistischen Konzept der Soziale Arbeit fast nichts mehr gemein, bis auf das Ziel, die Klientel zur Selbstermächtigung zu befähigen.

Aber auch schon die Frage, wie das Ziel der Selbstermächtigung erreicht werden kann und soll, zeigt deutlich, welche Unterschiede auch hier vorliegen.  

……………………………….

Um zu meinem Ausgangserlebnis und der Ausgangsfrage meiner Untersuchungen zurückzukommen:

Angesichts dieses Ergebnisses, der massiven Unterschiede und zum Teil unvereinbaren konzeptionellen Vorstellungen frage ich mich nun erst recht,

Wieso wird diese Tatsache ganz offensichtlich in den Lehrbüchern verschleiert, verwischt, verharmlost?

3. Schritt: Analyse der Folgen und Konsequenzen der Neoliberalisierung der Sozialen Arbeit      

FRAGESTELLUNG 3:

Um weiter deutlich zu machen, welche Bedeutung die neoliberale Transformation ganz real für die heutige Soziale Arbeit hat, habe ich dann in einem weiteren Schritt deren Folgen und Konsequenzen aufgearbeitet.

Dabei muss deutlich sein:

Neben dem neoliberalen, aktivierenden  Sozialarbeitskonzept, das ich bei dem Vergleich herangezogen habe, spielt ja vor allem die Neue Steuerung, also die Fülle betriebswirtschaftlicher Verfahren, die auf das Prozedere der Sozialen Arbeit quantitativ und qualitativ einen massiven Einfluss haben, eine zentrale Rolle und  nicht zuletzt ist auch die neoliberale Sozialpolitik mit ihrer Definitionsmacht generell ein Faktor, der die Soziale Arbeit massiv bestimmt, z.B. hinsichtlich der Frage, welches Geld man bereit ist, für die Soziale Arbeit und ihre Klientel überhaupt auszugeben.

Ich kann hier diese ganze Untersuchung natürlich nicht vorstellen- aus zeitlichen Gründen, aber ich möchte euch zumindest in Thesenform die Zusammenfassung vorstellen, die am Ende der Betrachtung der Konsequenzen und Auswirkungen herausgekommen ist:

ERGEBNIS 3:

Zusammenfassende Thesen zur Bewertung der Folgen der neoliberalen Transformation der Sozialen Arbeit

Diese Aussagen sind die Quintessenz einer ausführlichen Untersuchung der Folgen der neoliberalen Transformation für die professionelle Soziale Arbeit in der Praxis. Sie beziehen sich auf Folgen, die sich aus der Definitionsmacht, die Ideologie des aktivierenden Staates (die sich im Wesentlichen im neoliberalen Konzept der Sozialen Arbeit zeigt) und die Markt relevanten betriebswirtschaftlichen Verfahren, die mit der Neuen  Steuerung in das gesamte Sozialwesen eingeführt wurden.

Ich werde hier die zentralen Ergebnisse vorstellen und zur Verständlichmachung jeweils ganz kurz ein Beispiel anfügen

1.      Das Soziale degeneriert zur Ware. Mit der Umsetzung der Marktlogik wird aus der Sozialen Arbeit etwas anderes.

Beinah alle Lebensbereiche, Bildung, Kultur, Hochschule, Freizeit, Gesundheit und eben auch das Soziale werden im Rahmen der Neoliberalen einer Umsteuerung nach dem Muster des Marktes unterworfen.

Es hat eine Neubewertung des Sozialen gegeben: Das Soziale verliert seinen Eigenwert und wird dem ökonomischen nach- bzw. untergeordnet. Aus der ehemaligen Non-Profit-Sozialen Arbeit ist ein Marktgeschehen geworden. Es geht, wie Michel-Schwarze betont, eben nicht nur um eine „Überformung“ der bisherigen Sozialen Arbeit, sondern um eine Neuformung der gesamten Denkstruktur und eine umfassende und grundsätzliche Neubestimmung des sozialpädagogischen Hilfesystems“ (Michel-Schwarze 2010    ).
Soziale Arbeit ist nicht länger Unterstützung von Menschen, sondern eine Art ökonomischer Investition.

Beispiel: Eine Jugendberufshelferin soll mit ihren 20 jugendlichen KlientInnen einen Kurs mit 10 Plätzen füllen. Sie erhält die Anweisung, diese 10 Plätze an die Jugendlichen zu vergeben, die am ehesten erwarten lassen, dass sie erfolgreich bestehen. Nur in sie würde die Investition lohnen. Betriebswirtschaftlich konsequent gedacht.             
Aber sozialpädagogisch? Müsste Soziale Arbeit sich nicht gerade für die einsetzen, die sich angeblich nicht lohnen? 
Soziale Arbeit als Produkt, als Ware bedeutet, sie wird in jeder Hinsicht betriebswirtschaftlichen Planungs-, Steuerungs- und Messungsprozessen unterworfen.
Alles, was in der Sozialpädagogik komplexe, systemische und ganzheitliche Strukturen aufweist, also komplexe Werte und Ziele, Handlungsschritte, Entwicklungsverläufe, Ergebnisse, Zusammenhänge, Hintergründe Aushandlungsprozesse usf. lässt sich nicht bzw. nur hochkompliziert quantifizieren.  
Die Messpraxis hat zur Folge, dass die wesentlichen Elemente und Aspekte Sozialer Arbeit nicht bzw. nur ein Teil davon erfasst und das heißt dann: letztlich auch nicht finanziert werden. Das wiederum führt dazu, dass sie zunehmend nicht mehr wirklich umgesetzt werden (können) und perspektivisch auch gar nicht mehr mitgedacht werden.    
Beispiel: Ein Hilfeplan sieht 4 Stunden Einzelfallhilfe für einen Schulverweigerer (12 Jahre alt) vor. Geplant sind Stunden, in denen bei dem Jungen im Rahmen intensiver Einzelarbeit die Motivation für schulischen Lernstoff geweckt werden soll. Der Sozialarbeiterin ist klar, dass die eher negative Einstellung der Eltern zur Schule beim Verhalten des Jungen eine große Rolle spielt und sieht die Notwendigkeit, Gespräche auch mit den Eltern zu führen und evtl. auch gemeinsame Sitzungen mit Eltern und Jungen anzusetzen. Das würde allerdings den Rahmen von 4 Stunden sprengen und außerdem aus Sicht der wirtschaftlichen Jugendhilfe das Thema viel zu weit fassen. Die Sozialarbeiterin ist bemüht, wenn immer möglich, die Eltern anzusprechen und in die Arbeit einzubeziehen, was aber entweder auf Kosten der Stunden mit dem Jungen oder aber auf ihr privates Zeitkonto geht. Schließlich gibt sie nach und beschränkt sich auf das, was im Hilfeplan steht und abrechenbar ist.

  • Der Begriff der sozialen Gerechtigkeit wird neu und anders definiert:
    Im Rahmen des Sozialmarktes Soziale Arbeit geht es nicht mehr um die Bedürfnisse und Probleme der Menschen, sondern um die ökonomischen Interessen der Anbieter der Ware Soziale Arbeit.   
    Butterwegge kommentiert hier:Außerdem wird soziale Gerechtigkeit, die nicht vorstellbar ist ohne mehr Gleichheit, heute in einem merkwürdig reaktiv anmutenden und die Regierungspolitik legitimierenden Diskurs auf „Chancengerechtigkeit“ oder „Startgleichheit“ reduziert, während am Ende die tiefe Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich steht“ (Butterwegge, 2010, 51).             
    Soziale Arbeit bemüht sich nicht mehr, Menschen bei der Lebensbewältigung zu unterstützen und ihre Lebenssituation mit dem Blick auf soziale Gerechtigkeit zu verbessern. An diese Stelle ist das Angebot an Betroffene getreten, dass sie eine Chane bekommen, wenn sie sich selbst entsprechend anstrengen- also  das alte Märchen vom Tellerwäscher zum Millionär.
  • Das impliziert auch den Verzicht auf eine humanistische Zielsetzung und ethischer Werte. Es geht der neoliberalen Sozialarbeit nicht mehr darum, Menschen ganzheitlich bei der Bewältigung ihres Lebens zu unterstützen, sondern nur um die Frage ihrer Employability.

In den vom mir oben erwähnten FB fragt ein Sozialarbeiter:

„Die SozialarbeiterInnen sollen ihre Jugendlichen dazu bringen, sich dem Arbeitsmarkt zu stellen, wo sie die dreckigsten Jobs vermittelt bekommen. Sie sollen dies tun, weil niemand sonst diese Jugendlichen erreicht und sie durch Vertrauensaufbau Kontakt bekommen. Wie soll das funktionieren? Wie soll so Vertrauen bleiben?“

  • Damit sind aus neoliberaler Sicht auch alle Themen und Fragen hinsichtlich der Probleme, die Klienten selbst bei sich sehen und haben, hinfällig und ohne Belang.           
    Die neoliberale Soziale Arbeit hat vor nichts so große Angst wie vor einer angeblichen „Defizitorientierung“ und der Gefahr, dass SozialarbeiterInnen ihre Klientel dadurch von sich abhängig machen, dass sie sich zu sehr und zu lange auf deren Problemsicht und deren persönliche Leiden einstellen. Deshalb wird die neutrale Distanz zur Klientel einer Beziehungsarbeit entgegengesetzt.

Beispiel: Die arbeitslose Bürgergeldempfängerin und Mutter eines 7jährigen Sohnes, Frau W. wird im Jobcenter beraten. Jetzt, wo der Junge in die Schule geht, wird von ihr erwartet, dass sie sich mindestens um einen Halbtagsjob bemüht. Für ihre Sorgen mit dem schüchternen Sohn, der in der Schule gemobbt wird und ihre Ängste vor der Doppelbelastung, wenn sie arbeiten und gleichzeitig für ihren Sohn sorgen muss, hat der Berater kein Ohr.
Wäre sie statt in der Arge beim ASD, hätte die dortige Mitarbeiterin das Problem,  auf Teufel komm raus mit  der Mutter einen Weg finden zu müssen, wie sie die Probleme mit ihrem Sohn trotz der verlangten Berufstätigkeit  notdürftig bewältigen könnte. Denn dieses Ziel ist auch für sie bindend. Deshalb wir sie sich möglichst nur kurz mit den persönlichen Problemen der Mutter aufhalten, in der Befürchtung, das könnte dazu führen, dass die Mutter nicht mehr bereit sein wird, eine Lohn-Arbeit aufzunehmen

6.       Es gibt keine gesellschaftlich verursachten Probleme, sondern nur individuelle. Damit negiert der Staat die Verantwortung für Problemlagen, die ihre Ursachen in den gesellschaftlichen Verhältnissen und Bedingungen liegen.
Armut zum Beispiel ist nur noch eine persönliche Wahrnehmung eines Menschen. Und es geht für die Soziale Arbeit nicht mehr darum, Armut im konkreten Fall aber auch als gesellschaftliches Phänomen zu bekämpfen, sondern nur noch darum, dass Menschen lernen, mit ihrer Armut besser klarzukommen.
Die Ursache für ihre Armut liegt bei der Klienten: Sie hat offenbar versäumt, sich in der Leistungsgesellschaft angemessen einzubringen.

7.      In diesem Zusammenhang wird so den betroffenen Menschen die Verantwortung und ggf. die Schuld für ihre Probleme allein zugeschoben.

Beispiel: Nach 1,5 Jahren sozialpädagogische Familienhilfe wird festgestellt, dass sich kein Erfolg zeigt. Die SozialarbeiterInnen des ASD ziehen den Schuss: „Die Mutter ist und bleibt einfach faul und macht nicht mit. Also ist diese Maßnahme für sie schlicht nicht geeignet.“             
Die Frage, ob vielleicht andere, gesellschaftlich bedingte Problemlagen (zum Beispiel beengte Wohnung) eine positive Wirkung der Hilfemaßnahme verhindert haben, ob die sozialpädagogische Famlienhilfe  vielleicht methodisch falsch angelegt war, ob die zur Verfügung gestellte Zeit möglicherweise für intensive Arbeit nicht ausgereicht hat, all diese Fragen werden nicht gestellt. Die Mutter ist selbst schuld, dass ihr nicht geholfen werden konnte. Sie hat sich keine Mühe gegeben
Eine andere Hilfe wird nicht mehr angeboten.

  • Von den Klienten wird im Rahmen neoliberaler Sozialer Arbeit erwartet, dass sie sich auf dem Arbeitsmarkt wie Unternehmer verhalten, die ihre Fähigkeiten vermarkten.“ Wer Probleme hat, hat sich nicht genug um seine eigenen Marktqualitäten bemüht.       
    Die Erwartung an die Klientel der Sozialen Arbeit, immer rational zu handeln, sich souverän um ihre eignen Interessen und Probleme kümmern zu können und voller Engagement bereit sind, sich für die Lösung der Probleme in eigener Regie einzusetzen – also die Erwartung, souveräner Kunde einer sozialen Dienstleistung sein zu können, ist sehr oft eine schlichte Überforderung. Thiersch spricht in diesem Zusammenhang von einer Denunzierung unserer KlientInnen.

9.      Verrat der eigentlichen Klientel der Sozialen Arbeit

Die Erwartung, dass sich KlientInnen wie „souveräne Kunden“ verhalten, führt dazu, dass die Verlierer dieser Gesellschaft keine Unterstützung, sondern Ausgrenzung erfahren, wenn sie nicht bereit und in der Lage sind, diese Erwartungen des Staates zu erfüllen.     
Damit lässt die neoliberale Soziale Arbeit gerade die KlientInnen im Stich, die traditionell und historisch mit der sozialen Frage des Kapitalismus verknüpft zu den  eigentlichen Klientel der Sozialen Arbeit gehören.

  1. Die neoliberale Transformation läuft auf eine Zwei-Klassen-Soziale Arbeit hinaus, die Beratung und Unterstützung für die motivierten „Kunden“ vorsieht, für die nichtmotivierten und nicht motivierbaren KlientInnen aber nur eine Armenverwaltung und Notfürsorge.          
    Butterwegge kommentiert dieses Ergebnis mit den Worten: Man möchte sich der Aussage von Butterwegge anschließen, dass      
    „Die Transformation der Sozialen Arbeit und die neoliberale Sozialpolitik mit ihrer immer größeren sozialen Ungleichheit lässt die historischen Errungenschaften der französischen Revolution von 1779 hinter sich. Das bedeutet sozialpolitisch wie Demokratietheoretisch den Rückfall ins Mittelalter“ (Butterwegge 2010,72).

11. Die neoliberale Soziale Arbeit läuft auf eine massive Deprofessionalisierung hinaus:

  • Sie entfernt sich immer mehr von den eigentlichen spezifischen Kernelementen der professionellen Sozialen Arbeit.
  • Sie deprofessionalisiert die sozialpädagogischen Prozesse und richtet ihren Blick ausschließlich auf den Output, der nicht an sozialpädagogischen, sondern letztlich an ökonomischen Kriterien gemessen wird.      
  • Sie missachtet das Merkmal der strukturellen Offenheit, die der komplexen und systemischen Struktur Sozialer Arbeit und der Menschen, um die es geht, geschuldet ist, indem sie hemmungslos betriebswirtschaftliche Verfahren einbringt und ihre Anwendung verlangt.

·       Die Qualität dessen, was Soziale Arbeit leisten und erreichen kann, wird – allen Qualitätsmanagementbemühungen zum Hohn – immer schlechter.

  • Unter dem Primat der Effizienz und unter den Bedingungen des sozialen Pseudomarktes sind fachliche Belange von sekundärer Natur und werden von den Erfordernissen des Überlebens auf dem Markt mehr und mehr an den Rand gedrängt.
  • Es gibt außerdem eine Tendenz bei Trägern und Geldgebern zum Verzicht auf professionelle Arbeit. Auf Professionalität wird in vielen Bereichen immer weniger Wert gelegt. Zunehmend werden Nicht-Professionelle in der Sozialen Arbeit beschäftigt und zum Teil den professionellen SozialarbeiterInnen fachlich vorgesetzt.
  • Die gegenwärtige Soziale Arbeit wird von einer Fülle an bürokratischen Hürden, Einschränkungen und Vorschriften überschwemmt, deren Begründung fachlichen Erfordernissen widersprechen oder sie sogar konterkarieren.

FRAGESTELLUNG 4:

Ich frage mich auch, wie die in der Praxis tätigen SozialarbeiterInnen diese Veränderungen erleben und wie sie damit umgehen, wie sie sie ertragen können bzw. wie sie sie bewältigen.

Naiv gesehen, müsste es angesichts oben vorgestellten Untersuchungsergebnisse, dass nämlich

  • die beiden Konzepte durchaus nicht vereinbar und kompatibel sind und
  • die Folgen der Neoliberalisierung für unsere Profession massiv und an empfindlichen Stellen zerstörend sind

dazu führen, dass durch die Reihen der SozialarbeiterInnen ein großer Schrei geht und überall heftiger Widerstand herrscht.

Aber offensichtlich scheint die Mehrheit der PraktikerInnen die tatsächliche Veränderung in ihrem sozialarbeiterischen Alltag nicht in der Form und in den Konsequenzen zu bemerken.

D. Wie gehen die PraktikerInnen mit diesen Sachverhalten um?

Es gibt eine Reihe von Untersuchungen dazu, wie heute die SozialarbeiterInnen ihre Alltagssituation erleben.

Hier einige aktuelle Untersuchungen:

Elke Alsago und Nikolaus Meyer: Prekäre Professionalität.  Soziale Arbeit und die Coronapandemie. Opladen 2024

Yvonne Kahl  und Jürgen Bauknecht: Psychische und emotionale Erschöpfung von Fachkräften der Sozialen Arbeit. Entwicklung, Ausmaß und die Rolle von Belastungs- und Resilienzfaktoren In: Soziale Passagen (2023) 15:213–232

Sarah Henn, Barbara Lochner, Christiane Meiner-Teubner :  Arbeitsbedingungen als Ausdruck gesellschaftlicher Anerkennung Sozialer Arbeit; GEW; Jugendhilfe und Soziale Arbeit, 2017

Dabei sind für mich drei Ergebnisse besonders interessant:

ERGEBNISSE 4:

  1. Allgemein schätzen SozialarbeiterInnen heute ihre Arbeit als sehr belastend ein.
    Faktisch liegt ja auch die Burnout-Quote in unserem Beruf sehr hoch.

  2. Von der Mehrheit der SozialarbeiterInnen wird in verschiedenen Untersuchungen die Tatsache als Hauptbelastungsfaktor genannt, dass sie Abstriche bezüglich der Qualität ihrer eignen Arbeit machen müssen. Unter den Sozialarbeiter*innen sind es fast zwei Drittel, die diesen Umstand problematisieren“ (Henn et al. 2017).      
    Kahl und Bauknecht 2023) stellen fest: „In den Sozial- und Erziehungsberufen wird im Vergleich zu den Berufen insgesamt nicht nur deutlich häufiger eine Diskrepanz zwischen qualitativem Anspruch und beruflicher Realität wahrgenommen. Vielmehr empfinden die Beschäftigten in diesen Berufsgruppen diese Diskrepanz auch weit häufiger als Belastung.“

Das spricht eigentlich dafür, dass die neoliberalen Herausforderungen und die Widersprüche zu dem Konzept, was der Profession eigentlich zugrunde liegt, zumindest in indirekter Form bemerkt, erlebt und auch erlitten wird.

  • Gleichzeitig aber stellen SozialarbeiterInnen in den Befragungen mit großer Übereinstimmung (87 Prozent) fest, dass sie ihre Arbeit in sehr hohem Maße eigenständig planen und einteilen können (Henn et al. 2017,36).

Meine Einschätzung zu diesem merkwürdigen Ergebnis ist:

 Hier wird offenbar weder erkannt, warum es zu der Diskrepanz zwischen qualitativem Anspruch und beruflicher Realität kommt, so dass sie ihre Aufgaben nicht zu ihrer Zufriedenheit zu Ende bringen können, noch merken sie offenbar den Widerspruch zwischen diesen beiden Wahrnehmungen, von denen sie berichten.        
Es kann nicht stimmen, dass sie methodisch freie Hand haben. Denn dann würden sie ja in der Lage sein, ihre Aufgabe in der erwünschten Qualität zu Ende zu bringen.

Nur sehr wenige sehen die eigentlichen Ursachen und den oben beschriebenen Widerspruch.

Das Problem ist m.E., dass die erlebten Hindernisse und Schwierigkeiten nur als Folgen schlechter Organisation, schlechter Kommunikation, verständnisloser Chefs, zu wenig Supervision etc. gesehen werden. Folglich sehen diejenigen, die unter der beschriebenen Diskrepanz leiden, mögliche Lösungen zum einen nur in organisatorischen Änderungen auf der unmittelbaren Ebene des Teams oder der Arbeitsstruktur oder in Möglichkeiten einer besseren „professionellen Selbstfürsorge“ (also: z. B. mehr Supervision, gegenseitige Unterstützung im Team,  Distanzierung von den Problemen der Klientel). 

Die wenigsten wissen, dass der zugrunde liegende Widerspruch zwischen den Zielen und Sichtweisen der beiden Konzepte auf dieser oberflächlichen, und vor allem auf die sogenannte „professionelle Selbstfürsorge“ beschränkten Weise nicht verändert oder überwunden werden kann.

Es wird offensichtlich nur von ganz Wenigen erkannt, dass es sich um systematische und systemische Hintergründe handelt:   
dass nämlich die neoliberalen Bedingungen und Absichten eine fachliche, professionelle Soziale Arbeit verhindern und auch verhindern wollen, denn sie ist zu teuer aber vor allem entspricht sie nicht der neoliberalen Sicht auf die Aufgaben moderner Sozialen Arbeit.

Ich komme am Ende meiner Überlegungen auf meine Ausgangsfrage zurück:

warum leistet sich die Hochschulen es nicht, ihre Studierenden mit der Wirklichkeit vertraut zu machen und sie dabei zu unterstützen, später in der Praxis mit ihren eigentlich fachlichen und ethischen Absichten überleben zu können und nicht hoffnungslos vom neoliberalen Verständnis einer modernisierten Sozialen Arbeit geschluckt zu werden.

Aber Fakt ist: Auch sie müssen sich anpassen, denn auch sie stecken schließlich in der Zwangsjacke.

Und da schließt sich für mich noch eine letzte sehr wichtige Frage an:

FRAGESTELLUNG 5:

E. Ist Widerstand sinnvoll? Ist er möglich? Wie könnte er aussehen?

  • Ist Widerstand möglich,
  • kann Widerstand etwas bringen,
  • macht er Sinn oder ist er eigentlich eher
  • ein berufliches Selbstmordkonzept ?

Widerstand, wenn er denn geleistet wird, erscheint meistens als subversiver Widerstand.
 (
Beispiel: Um für Klient A mehr zurzeit haben, die er dringend braucht, die aber im Rahmen der genehmigten Stunden nicht gegeben ist, wird bei Klient B und C Zeit „abgeknapst“, obwohl diese Zeit eigentlich für diese Klienten zur Verfügung steht und natürlich auch gebraucht würde).            
Das heißt, es wird sozusagen hinter dem Rücken der neoliberalen Vorgaben versucht, anders, wenigstens an einigen Stellen fachlich richtiger zu handeln.  Dabei wird Betrug als erlaubtes Mittel gesehen, wenn man auf diese Weise Menschlichkeit bewahren kann.

Das ist sicher ein verständlicher Versuch.   
Ob er allerdings über das einzelne, konkrete Problem hinaus sinnvoll ist, darüber kann man streiten, denn die Botschaft, die in Richtung des Geldgebers und der neoliberalen Sozialpolitik dabei vermittelt wird, ist ja nur: „Es geht, wir kommen zurecht, alles paletti.“

Die Frage ist für mich, ob es nicht doch möglich wäre, offensive inhaltliche Auseinandersetzung zu führen: im Team, mit der Leitung, mit dem Geschäftsführer, mit den Ämtern, mit dem Ministerium…..

Ich stelle immer wieder fest, dass in der Argumentation mit den VertreterInnen der Verwaltung, der Geldgeber und Kontrolleure nicht mit fachlichen Argumenten gegengehalten wird. Vielmehr bemühen sich die sozialarbeiterischen Fachkräfte auf allen Ebenen darum, die Gegenseite mit deren eigenen ökonomischen Argumenten zu überzeugen. Einer Gegenüberstellung fachlicher Argumente gegen die neoliberale Dominanz von Effizienz und die verengte Sicht auf Output und einen pragmatischen Erfolg wird gemieden.

Auf diese Weise aber wird die gegenwärtige Dominanz des neoliberalen Denkens in der Soziale Arbeit hoffnungslos weiter zementiert.

Ich frage mich allerdings auch, ob Widerstand sich immer nur versteckt äußern kann.

  • Gäbe es nicht Möglichkeiten, wo Soziale Arbeit im Großen wie Kleinen an die Öffentlichkeit treten und sagen kann, was eigentlich passiert?
  • Warum schweigt die Disziplin zum dem, was gegenwärtig in der Praxis abspielt?
  • Warum nimmt sie nicht sozialpolitisch viel öfter und mehr Stellung im Sinne einer humanistischen Position im sozialpolitischen Bereich?
  • Warum greift der Berufsverband nicht stärker in diese Entwicklung ein?
  • Warum beschränken sich die Gewerkschaften auf den – zweifellos auch sehr wichtigen Aspekt – der Tarif- und Arbeitsgestaltungsfragen?
  • Warum spielt die Soziale Arbeit in den politischen Auseinandersetzungen der Gegenwart keinerlei Rolle und wird einvernehmlich als die große Einspargelegenheit gesehen, wenn andere gesellschaftlich angeblich wichtigere Positionen angefragt sind? Warum wehrt sich unsere Profession nicht dagegen?
  • Warum tun sich kritische SozialarbeiterInnen nicht zusammen, innerhalb ihres „Betriebes“, über ihre Träger und Berufsfelder hinaus und stärken sich gegenseitig den Rücken? Warum ist der Organisierungsgrad der SozialarbeiterInnen so katastrophal gering?

Und warum,

 und da bin ich dann wieder am Beginn meiner Überlegungen,

 warum leistet sich die Hochschulen es nicht, ihre Studierenden mit der Wirklichkeit vertraut zu machen und sie dabei zu unterstützen, später in der Praxis mit ihren eigentlich fachlichen und ethischen Absichten überleben zu können und nicht hoffnungslos vom neoliberalen Verständnis einer modernisierten Sozialen Arbeit geschluckt zu werden.

Über m.s.

Ich war 18 Jahre Professorin für Soziale Arbeit an der FH Jena (Methoden, Hilfen zur Erziehung, Schulsozialarbeit). Davor war ich 18 Jahre in der Praxis. Studiert habe ich Psychologie in Münster und Soziale Arbeit in Frankfurt a.M. Bücher: Schwarzbuch Soziale Arbeit Engaging Hilfe zur Erziehung zwischen Professionalität und Kindeswohl Das kann ich nicht mehr verantworten Ambulante Hilfe zur Erziehung und Sozialraumorientierung
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