1. Begegnung mit einem Albtraum

Roman: Das war gestern, Ackermann!    

Ungeliebte Verwandtschaft

Den ganzen Tag über hatte ein feiner Sprühregen die Luft erfüllt, sodass er auf seiner Fahrt von Mühlheim nach Köln ständig den Scheibenwischer anstellen musste. Aber sobald der Regen etwas nachließ, quietschte der und zerrte an Dieters Nerven.

Er war schon gegen 8.00 Uhr losgefahren, damit er pünktlich zur Begräbnisfeier eintreffen würde. Er war froh, dass seine ältere Schwester die Organisation der Beerdigung in die Hand genommen hatte. Was ihn betraf, wurde von ihm nicht mehr verlangt, als diesen Tag einigermaßen gut hinter sich zu bringen und seine Rolle als betroffener Sohn zu aller Zufriedenheit zu erfüllen. Dennoch sah er dem Ereignis mit gemischten Gefühlen entgegen. Nicht wegen des Todes seiner Mutter. Sie hatte lange Zeit an ihrer Krankheit gelitten, und seine Schwester und er waren erleichtert, dass sie nun von ihren Leiden erlöst worden war. Ihr Tod hatte sie nicht überrascht. Aber er hätte sich gewünscht, an diesem Tag allein bei ihr zu sein, um ungestört Abschied nehmen zu können.
Was ihn heute dort erwartete, machte ihn nicht froh. Sein Gesicht verdüsterte sich, wenn er es sich nur vorstellte: All die Leute, die mehr oder weniger trauernd dabeistehen würden, die nahen und fernen Verwandten, die peinlichen Fragen, das Getuschel hinter seinem Rücken.

am Eingang zum Friedhof

Auch das Wiedersehen mit seiner Schwester Gabriele war kein Ereignis, auf das er sich freute. Er hatte sie fünf oder sechs Jahre nicht mehr gesehen, das letzte Mal bei der Beerdigung des Vaters. Sie lebte seit Langem in Dresden und war für ihn von Jahr zu Jahr mehr in ihrer Hochschule und ihren politischen Aktivitäten verschwunden. Ab und an erreichte ihn eine Mail seiner Schwester mit dem Hinweis auf eine neue Publikation von ihr. Was sie beruflich leistete und was sie schrieb, war nicht übel, doch wie sie es zur Geltung brachte, mit welcher Bedeutung und Wichtigkeit sie aufzutreten pflegte, hatte ihn schon immer genervt. Vermutlich würde sie auch heute die Gelegenheit nutzen, um ihren kleinen Bruder mit ihren Weisheiten und Ratschlägen vollzustopfen.
Der Regen hatte inzwischen aufgehört. Am Horizont zeigten sich hellblaue Flecken.

Als er von der Autobahn abfuhr, schien sogar die Sonne. Sein Navi kündigte ihm die Ankunft am Ziel in wenigen Minuten an. Gerade rechtzeitig bog er in die Straße am Zentralfriedhof ein. Das Sonnenlicht hatte inzwischen das aprilnasse Pflaster getrocknet und schickte grelle Strahlen durch die Bäume hinter dem Parkplatz. Die meisten waren noch kahl, über einigen Baumkronen hing schon ein grüner Schleier.
Beim Laufen spürte Dieter mit Unbehagen, dass der schwarze Anzug, den er sich vor Jahren anlässlich der Beerdigung seines Vaters zugelegt hatte, beim Laufen zwischen den Beinen und am Bauch viel zu stramm saß. Schon auf der Fahrt hatte er ihn ständig eingeengt und gekniffen.

Vor der Kapelle entdeckte er ein Dutzend Trauergäste. Sie standen da, als würden sie auf ihn warten. Von Weitem erkannte Dieter mitten in der Gruppe seine Schwester Gabriele. Sie trug ein dunkles Cape, das ihr bis zu den Knöcheln reichte. Über ihrem rotgefärbten Haar schwebte ein Hut mit breiter, silberfarbener Krempe. Nicht zu übersehen. Natürlich nicht. Er grinste in sich hinein.
Die Trauergäste begrüßten Dieter mit Handschlag. Ihre beinah regungslosen Mienen drückten Anteilnahme, aber keinerlei Herzlichkeit aus. Nur seine Schwester trat auf ihn zu und umarmte ihn. Dieter hasste diese Umarmungen von Gabriele. Soweit er sich erinnerte, hatten sie für ihn immer etwas Besitzergreifendes gehabt.
Man unterhielt sich leise miteinander. In Erwartung der kommenden Ereignisse bemühten sich alle um Respekt und Zurückhaltung dem Sohn der Verstorbenen gegenüber. Das war Dieter nur recht. Er hätte gerne komplett auf die Begrüßungsszene verzichtet, da er sich nicht mehr an alle Namen seiner Cousins und Cousinen erinnerte und nicht einmal in der Lage war, seine beiden Tanten auseinanderzuhalten. Die eine war hager und groß. Das Gesicht der Fülligeren, die sich schwer auf einen Stock stützte, erinnerte ihn entfernt an einen Pfannkuchen. War das Tante Almut?
Schon neigte sie sich ihm zu und flüsterte: „Nun ist unsere Lucie, deine liebe Mutter, als erste von uns drei Schwestern zum Herrgott gegangen. Dabei war sie die Jüngste von uns.“ Sie tätschelte Dieter die Schulter.
„Wo ist denn Renate?“, fragte ihn die andere Tante. Ihre laute Stimme durchbrach die allgemeine Stille. Sie zupfte mit steifen Fingern am Revers seines schwarzen Anzuges. Ihre Augen blitzten vor Neugier.
Gabriele stieß ihr dezent gegen den Oberarm: „Bitte, Tante Emelie, Dieter ist doch seit vielen Jahren geschieden. Das weißt du doch.“

Tante Emelie stammelte eine Entschuldigung und starrte dann mit weit aufgerissenen Augen an Dieter vorbei: „Ach ja, wie die Zeit vergeht. Ich sehe deine nette Frau noch vor mir. Bist du denn jetzt ganz allein?“
„Komm!“ Gabriele rettete Dieter vor Tante Emelie, bevor er vor Ärger rot anlaufen konnte. Sie zog ihn mit sich zum Eingang der Kapelle, um nachzusehen, ob die Tür inzwischen offen war. Den trauernden Geschwistern sah man bewegungslos und stumm hinterher.
„Diese Tanten sind furchtbar wie immer!“ Gabriele lächelte Dieter aufmuntern zu.

„Bist du schon lange in Köln?“, fragte Dieter, nur um etwas zu sagen.
„Ich bin gestern Abend gekommen. Wahrscheinlich fahre ich erst morgen zurück. Das wird mir sonst zu viel. Vielleicht haben wir nach der Trauerfeier noch ein bisschen Zeit für uns? Oder willst du gleich wieder los?“
„Mal sehen“, murmelte Dieter. Er drückte die Klinke der Kapelle herunter. Sie war tatsächlich nicht mehr verschlossen und die Geschwister traten ein.

Man hatte ihre Mutter im offenen Sarg vor dem Altar aufgebahrt. Ein Blütenmeer bedeckte sie beinahe vollständig. Der Deckel des Sarges lag auf einem provisorischen Gestell daneben. Den Angehörigen sollte ein letztes Mal die Gelegenheit gegeben werden, von der Verstorbenen Abschied zu nehmen.
Dieter trat vor und erschrak, als er das geschminkte, puppenhaft entfremdete Gesicht seiner Mutter erblickte. Er hätte sich gewünscht, sie so vorzufinden, wie sie bei seinem letzten Besuch ausgesehen hatte: angegriffen, erschöpft, aber dennoch mit einem ironischen Lächeln um die eingekerbten Mundwinkel. Das da war bestenfalls eine Karikatur seiner Mutter. Er wandte sich irritiert ab. Aus den Augenwinkeln stellte er fest, dass Gabriele ähnlich reagierte. Sie sahen sich an. Gabriele schüttelte unmerklich den Kopf.

Dieter nahm in der ersten Reihe Platz, die für Lucies direkte Angehörige reserviert war. Gabriele setzte sich wenig später neben ihn. Während aus dem hinteren Teil der nüchtern gehaltenen Kapelle das Gloria aus der c-Moll Messe von Mozart erklang – das war Lucies Lieblingsmesse gewesen – spürte er, wie seine innere Anspannung endlich nachließ. Das stillschweigende Einvernehmen mit Gabriele eben am Sarg hatte ihn ein wenig beruhigt. Ab jetzt konnte er die weitere Szene vor sich ablaufen lassen wie einen Film, in dem er zufällig eine Statistenrolle übernommen hatte.

Der langsame Gang der Trauergemeinde auf dem Weg zur Grabstätte zwang Dieter dazu, seinen Schritt zu bremsen. Gabriele ging neben ihm her. Vor ihnen rollte der Wagen mit dem nun geschlossenen Sarg. Gabriele drückte ihm die Hälfte ihres Rosenstraußes in die Hand. An Blumen hatte er nicht gedacht. Er nickte ihr dankbar zu.
Der Zug führte zunächst über den breiten, asphaltierten Hauptweg und bog dann in kleinere, von immergrünen Büschen eingerahmte Pfade ab. Die Natur ringsherum schien unter den wärmenden Strahlen der Sonne zum Leben erweckt, in den hohen Buchen sangen Amseln. Die Erde roch frisch. Dieter fragte sich, ob er diesen Weg zum Grab seiner Mutter je ohne fremde Hilfe wiederfinden würde.
„Immerhin, ein wunderschöner Tag“, murmelte Gabriele ihm zu.
Jetzt kamen sie an Gräbern vorbei, die sehr gepflegt wirkten, aber nur ab und zu auch mit dezenten, frischen Blumengrüßen geschmückt waren. Später folgten neuere Gräber, denen man am üppigen Blumenschmuck ansah, dass die Verstorbenen in den Köpfen der Angehörigen noch ganz und gar lebendig waren.

Schließlich blieb der Wagen mit dem Sarg neben einem frisch ausgehobenen Erdloch stehen. Hier also würde Lucie liegen. Dieter sah sich um. Direkt nebenan türmten sich auf einem frischen Grab Berge von Kränzen. Der Stein dort glänzte wie frisch poliert. Erika Hummer, las er. Geboren 22. 4. 1930, gestorben 20. April 2012. Nun wird Lucie für immer an der Seite dieser Erika liegen, ging es Dieter durch den Kopf. Vielleicht hätten sie sich im Leben gut verstanden? Jetzt konnte es den beiden egal sein.
Die Stimme des älteren Pfarrers tönte warm und strömte eine Aura von tiefer Ergriffenheit aus. Dieter versuchte, den Worten zu folgen, musste aber bald seinen aufkommenden Ärger herunterschlucken: Es kam ihm so vor, als spräche der Pfarrer über eine ihm völlig fremde Frau. Dieser Mann hatte seine Mutter vermutlich gar nicht gekannt. Was reimte er sich da also zusammen? Dieter fragte sich, wie viele solcher Reden der Herr Pfarrer im Repertoire hatte. Nein, so eine wunderbare Ehefrau und Mutter war Lucie wahrhaftig nicht gewesen! Am liebsten wäre Dieter dem Pfarrer ins Wort gefallen und hätte den Anwesenden erklärt, wie seine Mutter wirklich war. Nicht dass er noch immer Groll gegen sie hegte, das war alles lange her. Aber warum durfte man über Tote nicht die Wahrheit sagen? Er schielte zu Gabriele hinüber, doch die schaute ernst in das Erdloch, wo eben der Sarg ihrer Mutter verschwunden war.

Wenig später trat Gabriele an den Rand der Grabloches, warf mit der kaum wahrnehmbaren Bewegung ihres Handgelenkes ihre Rosen hinunter und ließ von einer bereit gelegten, winzigen Schaufel ein paar Krümel Erde in das Loch rieseln. Dieter folgte ihrem Beispiel.
Erst als sich am Ende der Zeremonie die Trauernden seiner Schwester und ihm mit dem eintönig gemurmelten „Mein Beileid“ zuwandten und ihre Hand ausstreckten, um zu kondolieren, fiel ihm ein, dass er eigentlich eine der Hauptpersonen war. Wahrscheinlich zerbrachen sich die lieben Verwandten längst den Kopf darüber, ob er über den Tod seiner Mutter auch hinreichend Traurigkeit zeigte. Er war Gabriele dankbar, dass sie bisher nicht geweint und genauso wie er nur still und scheinbar erstarrt dagestanden hatte.

Der Leichen-Schmaus

Nun musste Dieter nur noch die Begräbnis-Feier überstehen. In einer Nobel-Gaststätte am Dom wartete ein üppiges Buffet auf sie. Gabriele hatte dieses Arrangement ausgewählt. Offenbar entsprach das dem Geschmack und den Erwartungen der lieben Verwandten und Freunde seiner Mutter. Dieter fand es nervig, dass erst alle in ihre Autos steigen und in die Innenstadt fahren mussten. Es gab sicher in der Nähe des Friedhofes auch Gelegenheiten für eine Trauergemeinde, zusammenzusitzen. Allein die Parkplatzsuche würde ein Albtraum werden.
Aber seine Sorge war unnötig gewesen. Das Restaurant verfügte über jede Menge Gästeparkplätze, und die Gesellschaft – inzwischen munter und in Redelaune – fand sich nach und nach im eleganten Speisesaal ein, wo Kellner warteten, um die Getränke auszuschenken.

Dieter kannte die meisten der Gäste von früher und hätte einiges darum gegeben, sie nicht treffen und ihre ermunternden Worte anhören zu müssen. Auch die vornehm lockere Atmosphäre unter den so gebildeten, wohlhabenden und renommierten Gästen, die er so gut aus seiner Kindheit und Jugend kannte, war ihm verhasst. Auf dem Weg zum Buffet konnte er zu seinem Ärger nicht vermeiden, mit dem einen oder anderen Trauergast Small Talk führen zu müssen.
Endlich saß er – im zu engen Anzug und eingeklemmt zwischen Gabriele und einem guten Freund seiner Mutter, einem Universitätsprofessor – an einem der mit Blumen stilgerecht geschmückten Tische. Die beiden tauschten sich über ihn hinweg zur neuen Hochschulreform aus. Schnell gerieten sie ins Fachsimpeln. Der Professor setzte sein charmantestes Lächeln auf und meinte, er erkenne in ihr den sprühenden Geist seiner verstorbenen Freundin, ein Kompliment, das Gabriele mit einem kleinen Lächeln entgegennahm. Gabriele, studierte Politologin und Erziehungswissenschaftlerin, war seit einigen Jahren Institutsleiterin an der erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Evangelischen Hochschule Dresden.

Dieter sah sich am Tisch um. Jeder aß seine am Buffet zusammengestellten Leckerbissen. Manche der Trauergäste waren so ins Essen vertieft, dass sie kein Wort mit ihren Tischnachbarn wechselten. Andere führten lebhafte Gespräche. Obwohl die Speisen auf seinem Teller verführerisch aussahen, kam bei ihm kein rechter Appetit auf. Er saß teilnahmslos dabei und wünschte sich weit fort. Was hatte er, Dieter Ackermann, nur hier zu suchen? Schon nach wenigen Minuten spürte Dieter, wie er immer mehr in sich zusammenschrumpfte und sich fühlte, als wäre er an Händen und Füßen gefesselt. Er hätte vor Wut schreien können. Es brauchte also immer noch nur ein paar Stunden im Schoße seiner arroganten und überheblichen Familie und er, anerkannter Profi in Sachen Lebensberatung, schnurrte zu einem Nichts zusammen. Er hatte gedacht, er wäre diesem Albtraum entwachsen – immerhin war er inzwischen 58 Jahre alt.

Der Leichenschaus

Dieter erschrak, als ihn der Professor plötzlich ansprach: „Und Sie, Herr Ackermann, was machen Sie beruflich?“
„Ich bin Psychologe. Ich bin in der Lebensberatung tätig“, antwortete Dieter gottergeben. Mehr fiel ihm nicht ein.
„Aha“, sagte der Professor. „Das ist ja interessant. Für Psychologie hat sich Ihre Frau Mutter auch immer interessiert. Da drüben sitzt übrigens ein Kollege von mir, Professor Hünerwolf. Er hat hier in Köln einen Lehrstuhl für Verkehrspsychologie. Er war auch mit Lucie – ich meine, mit Ihrer Mutter – gut bekannt. Wenn Sie wollen, kann ich Sie ihm vorstellen.“
Dieter reagierte nicht.
„Sind Sie Psychoanalytiker?“, hakte der Mann nach.
„Ich bin nur Diplom-Psychologe.“ Dieter merkte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss. Warum war ihm das nur herausgerutscht? Warum bloß machte er sich freiwillig klein vor diesem Lackaffen?
„Dieter ist begeisterter Psychotherapeut und ich glaube auch ein sehr begabter“, schlug Gabriele eine Bresche für ihren kleinen Bruder.
Dieter wäre am liebsten im Boden versunken. Sicher sagt Gabriele das nur, weil sie sich eigentlich für mich schämt, dachte Dieter zerknirscht.  Dankbar war er ihr dennoch.
„Ach was, ich bin ein ganz einfacher Feld- und Wiesen-Psychologe“, hörte er sich sagen. Es klang wie das patzige Widerwort eines Jugendlichen.
„Wie schön!“ Der Professor lächelte. Dann fiel ihm eine Frage ein, die er unbedingt Gabriele stellen musste.

Dieter atmete auf. Er war froh, dass er nicht mehr im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit des Professors stand.
Er hatte es kommen sehen: Die Gegenwart seiner Familie zog ihn augenblicklich runter. Sie ließ ihn erneut zu dem kleinen Versager werden, der er in den Augen seiner Eltern und akademischen Verwandten immer gewesen war. Es hatte sich nichts geändert. Wie hatten ihn seine Verwandten nach dem Abitur alle beschwatzen wollen, Jura zu studieren, um Onkel Heinrichs Anwaltspraxis übernehmen zu können. Gabriele war damals schon promoviert und stand gerade auf der ersten Stufe ihrer Karriereleiter. Wie hatten sie die Köpfe geschüttelt, als er sein Psychologiestudium begann.

„Das ist doch nichts Vernünftiges“, hatte seine Mutter gesagt und gemeint, sie wäre enttäuscht, da sie doch so große Hoffnung in ihn gesetzt hätte. Und Jura hätte ihm bestimmt gelegen.
Erstaunlicherweise hatte Dieter sich damals durchgesetzt. Er wollte etwas ganz anderes werden, wollte ein ganz anderes Leben führen, als es seine Verwandtschaft von ihm erwartete.  Schon als Junge und erst recht als Jugendlicher hatte er gewusst, was er später beruflich machen wollte: Er würde Menschen bei der Bewältigung ihres Lebens helfen, sie unterstützen und lernen, sie so zu beraten, dass seine Hilfe mehr war als nur Trost und Anteilnahme, dass sie etwas bei ihnen bewirkte.
Mit viel Mühe hatte er sich durch das Psychologie-Studium geschlagen, hatte das grauenhafte Studienfach Statistik durchgestanden und mit einigen Qualen seine Diplomarbeit geschrieben. Aber schließlich war es geschafft und er konnte seinen ersehnten Beruf ergreifen. Danach hatte er sich dann mehr und mehr stabilisiert. Als er nach etlichen Jahren, in denen er an verschiedenen Beratungsstellen gearbeitet hatte, zu seinem jetzigen Arbeitgeber der EWV wechselte, war er inzwischen ein erfahrener, durchaus selbstbewusster Berater geworden. Jetzt endlich war er nicht mehr der kleine Versager, als der er in seiner Kindheit und Jugend und noch Jahre danach für seine Familie gegolten hatte.  Fast wunderte er sich jetzt darüber, dass er damals so stark gewesen und trotz aller Versuche, ihn davon abzuhalten, seinen Berufsplänen treu geblieben war.

Aber heute, hier im Schoße seiner Familie, ging es ihm wieder genau wie früher. Er war wieder nicht in der Lage, diesen Menschen gegenüber selbstbewusst aufzutreten.  Am liebsten wäre er aufgestanden und fortgelaufen! Er wollte weg aus dieser entwürdigenden Lage, dorthin, wo er wieder frei atmen konnte und wo man ihn achtete und wertschätzte.  

Doch irgendwann war auch das Essen vorbei. Als Gabriele ihn fragte, ob er mit ihr noch irgendwo einen Kaffee oder besser einen Whisky trinken würde, erwachte er aus seiner Benommenheit. Er blinzelte.
„Du magst unsere Leute nicht.“ Sie lächelte ihn an.
„Das weißt du ja“, erwiderte er lakonisch und ohne sie anzusehen, ließ sich aber willig von ihr hinausziehen und zu einem Bummel durch die Kölner Innenstadt verführen.

Geschwister

Langsam wurde er wieder klar im Kopf. Die Straßen hatten sich nach einem kurzen Schauer erneut mit Menschen gefüllt. In der Altstadt schlenderten die beiden durch die Fußgängerzone, schauten sich die Häuserfronten an und ließen den Strom der Menschen an sich vorbeiziehen. Bald bedauerte er es jedoch, dass er nicht allein spazieren gegangen war. Gabriele meinte es vielleicht gut mit ihrem kleinen Bruder, aber auch sie hatte in ihm bisher immer dieses miese Gefühl hervorgerufen, das ihm sein Selbstbewusstsein raubte.

Sie fanden nach einer knappen halben Stunde ein kleines, unscheinbar aussehendes Café in einer Seitenstraße und kehrten dort ein. Hier war es dämmrig und anheimelnd. An den runden Tischen saßen nur wenige Gäste.
Sie suchten sich einen Platz am Fenster, wo sie auf die belebte Straße hinaussehen konnten. Gabriele hatte ihren Hut und das weite Cape abgenommen und über einen der freien Stühle gelegt. Sie nahm Platz und sah ihn erwartungsvoll an.

mit Gabriele im Café

„Nun erzähl mal“, fing seine Schwester an. Er setzte sich ihr gegenüber an den Tisch. „Was willst du wissen?“, fragte er reserviert. Er hatte keine große Lust, sein Privatleben vor Gabriele auszubreiten.

„Na, nun sei nicht so zugeschnürt, Dieter, erzähl mal, wie es dir so geht! Wir haben uns schließlich sechs Jahre nicht gesehen.“
„Stimmt“, meinte Dieter.
„Bist du noch bei diesem christlichen Träger beschäftigt, wie hieß er noch gleich?“
Er nickte. „EWV. Es gefällt mir dort. Ich liebe meine Arbeit, weißt du.“ Dieter sprach wachsam, als dürfte er nichts verraten, was gegen ihn verwendet werden könnte.
„Meine Güte, Bruderherz, da hast du es aber gut! Ich ärgere mich Tag und Nacht mit irgendwelchen Problemen herum, die die Arbeit in meinem Institut erschweren. Jetzt haben sie uns wieder die Zuschüsse gekürzt. Ich bin gezwungen, Lehrbeauftragte zu entlassen. Das macht keinen Spaß.“
„Mit so was habe ich Gott sei Dank nichts zu tun!“ Dieter seufzte erleichtert.
„Da kannst du froh sein! Es frisst einen auf. Ich wäre so glücklich, wenn ich die Zeit dafür hätte, wieder öfter selbst im Seminarraum zu stehen. Aber ich bin nun leider auf der Karriereleiter so hochgerutscht, dass ich in der Verwaltungsarbeit untergehe. Doch es juckt mich in den Fingern, wenn ich sehe, wie die meisten meiner lieben Kollegen ihre Arbeit als Hochschullehrer einfach nur so runterreißen. Denen ist die Lehre völlig egal! Sie interessieren sich bestenfalls für ihre Forschungsanliegen und ihren Ruf als Wissenschaftler. Ich versuche ständig und ohne großen Erfolg sie für eine bessere Lehre zu motivieren. Du ahnst nicht, wie oft ich mich über sie ärgere.“
„Aber das hast du dir doch selbst so ausgesucht“, wandte Dieter stirnrunzelnd ein.
„Klar, hab ich, und ich beklage mich auch nicht.“ Sie lachte ein wenig verschämt. „Na, jedenfalls nur ein bisschen.“
Die Kellnerin brachte den bestellten heißen Kakao mit Sahne. Als sie gegangen war, griff Gabriele nach ihrer Tasse und probierte einen kleinen Schluck. Dieter beobachtete sie. Wenn sie nicht mit ihren Erfolgen angibt, dann muss sie wenigstens mit ihren Problemen punkten, dachte er leicht genervt.
„Immerhin habe ich ja meine politische Arbeit nebenher“, nahm jetzt Gabriele den Faden wieder auf. „Da kann ich wenigstens sagen, was ich denke. Hast du meinen Artikel gelesen, den ich dir vor Monaten geschickt habe?“
„Ehrlich gesagt, ich bin noch nicht dazu gekommen. Meine Arbeit ist ziemlich kräftezehrend und abends bin ich erledigt, weißt du.“

Dieter stellte erstaunt fest, wie bedenkenlos ihm diese Notlüge herausrutschte. Damals hatte er den Text in irgendeinen Ordner verschoben. Er hatte schlicht keine Lust gehabt, sich mit den anstrengenden Gedanken und kritischen Fragen seiner Schwester zu befassen. Und es ärgerte ihn, dass sie offenbar nur ihre eigene Arbeit für anstrengend hielt.
Gleichzeitig, so musste er sich in diesem Moment eingestehen, würde er es gar nicht so schlecht finden, wenn er am Abend tatsächlich so ausgepowert sein würde, wie er es eben behauptet hatte. Wenn er daran dachte, wie oft er abends zu Hause herumsaß und sich wünschte, irgendetwas Interessantes oder Anregendes würde passieren! Außer seiner Arbeit geschah eigentlich nichts von Bedeutung in seinem Leben. Auch seine Wochenenden waren wenig abwechslungsreich. Meist sah er fern oder las mit mäßiger Begeisterung einen Krimi, den ihm ein Arbeitskollege empfohlen hatte. Er hatte schon manches Mal festgestellt, dass er ohne seine Arbeit ein eher langweiliger Typ war. Aber das stand auf einem anderen Blatt. Und es ging auch seine Schwester nichts an.

„Ich stell mir das anstrengend vor, sich jeden Tag die traurigen Geschichten fremder Leute anhören zu müssen“, hörte er seine Schwester sagen.
„So schlimm ist es auch wieder nicht.“ Dieter lächelte bescheiden. Also hatte er doch ein wenig Eindruck auf sie gemacht. Er wagte sich weiter vor. „Aber mitunter habe ich ganz schöne Brocken bei mir im Büro sitzen. Zum Beispiel berate ich einen Mann, der regelmäßig Briefe an Außerirdische schreibt und glaubt, sie hätten ihn beauftragt, über die Erde Bericht zu erstatten.“
„Meine Güte! Wie verrückt! Und was machst du mit dem?“ Gabriele schien mit einem Mal wirklich interessiert.
„Ich höre ihm zu. Eigentlich ist er ein ganz vernünftiger Mensch. Ich mag ihn.“ Jetzt grinste Dieter der erstaunten Gabriele selbstbewusst ins Gesicht.
„Nein, da bleibe ich lieber bei meinen Verrückten! Manchmal freue ich mich auf die Zeit, wenn ich pensioniert sein werde. Ist ja nicht mehr lange hin … Dann kann ich endlich nur noch machen, was mich interessiert, und bin diesen sinnlosen Ärger los.“

Dieter schwieg.

„Und sonst geht es dir gut, ich meine persönlich?“, fragte er nach einer Weile in die Stille hinein, die plötzlich zwischen ihnen entstanden war.
„Dass ich mich von Friedrich getrennt habe, das weißt du? Ist ja schon ein paar Jahre her. Das war ein guter Schritt. Ich bin jetzt viel freier und es geht mir besser. Wir sehen uns ab und zu, sind Freunde geblieben, wie man so sagt. Er hat jetzt eine 25 Jahre jüngere Freundin, sie bekommen ein Baby. Wenn es ihm darum ging, war er bei mir wirklich nicht mehr richtig.“
Gabriele lachte.
Ihr Lachen klingt hölzern, dachte Dieter. So einfach, wie sie es darstellte, wird die Trennung für sie nicht gewesen sein. Er sah sie von der Seite an. „Ich fand deinen Ex-Mann immer etwas umtriebig“, sagte er.
Gabriele nickte belustigt. „Ja, du hast recht. Ich bin gespannt, wie lange er es bei ihr aushält! Und bei dir? Tut sich da was Neues?“

„Du meinst mit ’ner Frau? Nichts von Dauer oder Bedeutung“, erwiderte er lahm.
„Schade, ich denke, das täte dir gut.“
„Wie kommst du darauf?“, fragte er irritiert.
„Das seh‘ ich dir an, mein Kleiner!“ versuchte Gabriele zu scherzen. Dieter fand das nicht witzig.
„Ach ja, du hast ja immer gewusst, was für mich gut ist, stimmt!“ Es kam gereizt heraus. Er konnte es nicht unterdrücken.
„Komm, nun sei nicht gleich eingeschnappt. Wir sind doch nun wirklich beide erwachsen. Ich weiß, ich habe dich immer wie den kleinen Bruder behandelt, aber das ist doch Schnee von gestern. Lass uns einfach ganz normale Geschwister sein, okay?“
„Kein schlechtes Angebot.“ Dieter lächelte mit einem säuerlichen Zug um den Mund. „Ich bin mir nur nicht sicher, ob du das kannst!“

„Komm, gib mir ’ne Chance! Jetzt, wo beide Eltern nicht mehr da sind, sollten wir uns vielleicht zusammenraufen. Du bist immerhin mein einziger Bruder.“
„Na, sieh mal an! Schön, dass du das merkst, Gabriele. Aber da wir uns ja nur alle sechs Jahre sehen, kann da nicht viel draus werden.“
Gabriele nickte. Doch plötzlich hob sie den Kopf und ihr Gesicht hatte sich erhellt:
„Vielleicht sollten wir uns jetzt ab und an mal treffen?“ Sie nippte an ihrer Kakaotasse und sah ihn dann fragend an.
„Ist das dein Ernst?“ Dieter warf ihr einen irritierten Blick zu.
„Warum denn nicht? Wär‘ doch mal nen Anfang“, überlegte Gabriele.
„Wenn du meinst? Okay. Wie wär’s zum Beispiel, wenn wir uns nächstes Jahr zum 1. Todestag unserer Mutter wieder hier treffen? Ist nur so ’ne Idee.“ So konkret wird sie es sicher auch nicht haben wollen, dachte er amüsiert.  Aber Gabriele nickte zufrieden.
„Das ist lang hin, aber vielleicht realistisch. Von mir aus gerne!“
„Meinst du das wirklich?“ Jetzt staunte Dieter doch.
„Natürlich!“
Dieter sah seine Schwester nachdenklich an. Warum eigentlich nicht?, dachte er dann.
„Gut, abgemacht. Hier in diesem Café, okay?“
„Prima. So machen wir das! Mittags um 12.00 Uhr, was meinst du?“
Sie lachten – vermutlich zum ersten Mal ohne jeden Hinterhalt.

Gabriele hätte gerne die neue Geschwisterfreundschaft mit einem Glas Wein begossen, aber Dieter musste bald fahren. Morgen würden gleich um 8.00 Uhr die ersten Klienten auf ihn warten. Er verabschiedete sich. Diesmal fand er Gabrieles Umarmung nicht unangenehm. Er nahm seine Jacke und kämpfte sich einen Weg durch das inzwischen gut gefüllte Lokal. An der Tür drehte er sich noch einmal zu Gabriele um. Sie winkte ihm zu. Sie wollte noch ein wenig bleiben.
Als er auf die Straße trat, merkte er, dass es wieder geregnet hatte. Das Pflaster glänzte vor Nässe.

Zwei Stunden später betrat Dieter seine Wohnung im Mühlheimer Süden. Er setzte sich im Dunkeln auf das Sofa und betrachtete die wandernden Lichtstreifen, die die Scheinwerfer der vorbeifahrenden Autos an die Wände warfen. Ohne Licht zu machen befreite er sich von den engen Kleidungsstücken, die ihn den ganzen Tag über gequält hatten.

Endlich hatte er diesen Mummenschanz hinter sich! Das Gespräch mit Gabriele war ja sogar ganz nett verlaufen, aber jetzt war er froh, daheim in seinen vier Wänden zu sein. Hier konnte er endlich wieder in sein eigenes Leben schlüpfen – wie in einen liebgewonnenen Pullover, der ihm passte und gefiel und in dem er sich wohlfühlte.
In diesem Moment wurde ihm zum ersten Mal richtig bewusst, dass seine Mutter gestorben war. Er fühlte sich einen langen Augenblick so, als hätte man ihm plötzlich den Boden unter den Füßen weggezogen, als würde er im freien Fall ins Nichts stürzen.

Doch so schnell, wie das Gefühl gekommen war, war es vorbei. Er stand auf, ging zum Fenster und zog die Vorhänge zu, tastete sich in der Dunkelheit zum Lichtschalter und sagte in die Stille hinein: „Immerhin habe ich ja noch eine Schwester.“ Seine Stimme gluckste dabei und er wusste nicht, ob vor Lachen oder Weinen.

Über m.s.

Ich war 18 Jahre Professorin für Soziale Arbeit an der FH Jena (Methoden, Hilfen zur Erziehung, Schulsozialarbeit). Davor war ich 18 Jahre in der Praxis. Studiert habe ich Psychologie in Münster und Soziale Arbeit in Frankfurt a.M. Bücher: Schwarzbuch Soziale Arbeit Engaging Hilfe zur Erziehung zwischen Professionalität und Kindeswohl Das kann ich nicht mehr verantworten Ambulante Hilfe zur Erziehung und Sozialraumorientierung
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