Gedanken zur Notwendigkeit der Politisierung der Sozialarbeitenden

In: Sozialmagazin

Ab wann steigen wir nicht mehr aufs Dach?

Ausschnitt aus dem Band „Schluss mit dem Schweigen“ , der im Herbst 2013 erscheinen wird.

„Mein Vater ist Dachdecker. Als ich bei meinen Eltern zu Abend aß, erzählte er von seinem Tag, darüber dass er heute ein Dach nicht decken konnte, weil das Gerüst noch nicht da war. Jemand von der Bauleitung meinte zwar, sie sollten einfach im Haus die Treppe hochgehen und aufs Dach steigen und so mit den Baumaßnahmen beginnen. Mein Vater und dessen Kollegen lehnten jedoch diesen Vorschlag ab, was bei der Bauleitung auf Unverständnis stieß. Aber mein Vater war sich darüber im Klaren, dass er Recht hatte. Er wusste genau, dass unzählige Bausicherheitsbestimmungen  auf seiner Seite waren. Er war sich  sicher, dass er solchen Wünschen nicht nachkommen muss und die Arbeit ohne sicheres, geprüftes und abgenommenes Gerüst nicht aufnehmen darf. Schließlich wusste er auch um seine Familie, welche ihn natürlich jeden Tag wieder abends gesund zuhause begrüßen wollte.
Während seiner Erzählung kamen mir Gedanken bezüglich meiner eigenen täglichen Arbeit. Es fielen mir die massiven Kürzungen ein, welche das Land Sachsen gerade verabschiedet hatte und ich erkannte einige für mich wesentliche Parallelen zwischen meiner Arbeit und der  Arbeit meines Vaters. Ähnlich wie ihm, wird auch mir oftmals ein sicheres, meine Arbeit stützendes Gerüst verweigert. Der notwendige Rahmen, innerhalb dessen ich mein an der Hochschule erworbenes, wissenschaftlich anerkanntes, evaluiertes Wissen umsetzen und anwenden könnte, wurde aufgrund von Einsparungen einfach abgeschafft oder es wird brüchig, weil die Arbeitsanforderungen längst über die Rahmenbedingungen hinausgewachsen sind. Trotzdem wird auch von mir täglich verlangt, die Arbeit qualitativ genauso gut auszuführen, „als wenn alles noch da stände“.
Doch genau so, wie es für meinen Vater eine Gefahr bedeutet, ohne Gerüst auf ein Dach zu steigen, bedeutet das Ausüben meiner Tätigkeit ohne schützenden Rahmen für mich, die Gefahr physischer und psychischer Schäden zu riskieren.“

Wenn ich mir die Lage in unserem Team ansehe, dann stelle ich entsetzt fest: Wir gehen schon lange ohne Gerüst und Schutz diese Treppen rauf aufs Dach. Der monatelange Personalmangel z.B. bei uns trifft auf eine seit Jahren ohnehin zu knapp bemessene Personalzumessung, eine hohe Mitarbeiterfluktuation durch Schwangerschaftsvertretung, die dazu führt, dass neue MitarbeiterInnen kurzfristig eingearbeitet werden müssen und nur wenige erfahrene KollegInnen dadurch zusätzlich belastet sind. Die Zahl  der „Neufälle“  in den letzten Monaten ist eklatant gestiegen. Mittlerweile ist eine Vollzeitmitarbeiterin für ca. 130 bis 140 Familien zuständig. Wir sind konfrontiert mit einer ständig ansteigenden Anzahl von Familien mit generationsübergreifenden Multiproblemlagen, die durch dauerhaft prekäre finanzielle Situation (Hartz IV Bezug) und psychische Erkrankungen/Suchterkrankungen, häusliche Gewalt, sexuelle Gewalt, Vernachlässigung oder gravierenden kulturellen Konflikten geprägt sind. Der Zeitdruck und Arbeitsanfall ist erhöht worden, ohne dass mit entsprechenden Personalaufstockungen reagiert wurde. Die Ausfallquote durch Burn Out und Krankheit bei unseren KollegInnen steigt ständig und verschärft die Situation weiter.
Die Liste solcher Beispiele ließe sich für uns im ASD aber eigentlich auch in allen anderen Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit  endlos weiterführen und von einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen ist leider in den nächsten Jahren nicht auszugehen.
Die Frage, die wir SozialarbeiterInnen uns also zu stellen haben, lautet: „Ab wann steigen wir nicht mehr aufs Dach?“

Das genau ist die Frage, wenn es um die Zukunft der Sozialen Arbeit geht. Wann lassen wir uns das alles nicht mehr gefallen?  Wann sagen wir „Stopp“ und machen nicht mehr mit? Wann fangen wir an, die Hintergründe und Absichten, die Ziele und das Menschenbild, das hinter den uns zugemuteten neoliberalen Konzepten der „modernen Sozialen Arbeit“ steht, zu entlarven und die Öffentlichkeit darüber aufzuklären?

Worum es geht

„Ach, weißt du, ich bin gar kein politischer Mensch. Ich möchte einfach nur eine gute Arbeit machen und die unterstützen, die es brauchen“, so sagte vor einiger Zeit eine Kollegin zu mir. Sozialarbeitende sind doch keine PolitikerInnen, so denken viele: ‚Wer die Welt verändern will, der sollte nicht die Soziale Arbeit für sein Medium halten. Da würde es doch wirklich um Einmischung und politische Stellungnahmen in der Öffentlichkeit, in den Medien, in der offiziellen und der außerparlamentarischen Politik gehen. Sozialarbeitende helfen konkreten Menschen bei konkreten Problemen. Da bleiben doch für Politik kein Raum und keine Zeit!‘

Diese Haltung ist genau das, was man von uns will. „Macht ihr mal eure Aufgaben, wir kümmern uns um die Rahmenbedingungen und da haben wir eben unsre Maßstäbe“. Faktisch regelt und reglementiert die herrschende Politik unser Tun durch Vorschriften wie Begrenzung auf Case Management und 5 Sitzungen, oder die Verpflichtung zur ausführlichen Dokumentation und Nutzung der vorgegebenen Software. Sie steuert  unsere Handlungsspielräume durch Kürzungen, Zeitbegrenzungen, Festlegung der Dauer von Maßnahmen (entgegen wissenschaftlicher Empfehlungen). Sie legt die  Zielrichtungen fest: Es geht immer darum, das KlientInnen zukünftig besser funktionieren sollen und ihr eigenes Humankapital verantwortlicher im Interesse des Systems zu pflegen haben. Sie definiert, was unser Erfolg zu sein hat. Sie definiert das anhand von formalen Kriterien und betriebswirtschaftlichen Erfolgsdefinitionen. Man muss den Erfolg zählen und sehen können und er muss sich rechnen.

Wir sind Sozial Arbeitende. Wir wollen helfen, das ist unser Beruf, o.k. deshalb sind wir auch so lange still gewesen haben immer versucht, das Bester aus der Situation für unsere Klienten zu machen. Helfer kämpfen für ihre Klienten, reden nicht groß darüber.
Wenn wir die Lage aber mal wirklich kritisch betrachten, dann  müssen wir hier und heute feststellen:
Aber es ist jetzt an der Zeit, dass wir nicht länger den Mund halten und schweigen. Es ist vielmehr unsere Pflicht und unsere Verantwortung, nach draußen, an die Öffentlichkeit zu treten und klar zu sagen, was los ist bei uns. Denn wir haben schon lange nicht mehr die Bedingungen in unserer Arbeit, die wir brauchen, um auch gut und nachhaltig helfen und unterstützen zu können. Und wir haben schon lange große Sorge, dass es in unserer Arbeit und überhaupt in dieser Gesellschaft nicht mehr um die Chancen und das Glück von Menschen geht, sondern nur noch darum, dass diese Menschen sich mit all ihrer Kraft für das Funktionieren und das Florieren der Wirtschaft geht und um deren Gewinne, die dann aber nur bei wenigen ankommen.

Es bewegen deshalb die kritische Soziale Arbeit zwei große Sorgen:

  1. Soziale Arbeit kann so viel, aber sie braucht die erforderlichen Arbeitsbedingungen (vgl. z.B. Seithe 2012, Kessl/Reutlinger/Ziegler 2006, Messmer 2007). Und die haben wir schon lange nicht mehr:
  • Uns werden die Stellen gestrichen.
  • Es fehlt die Zeit für die KlientInnen.
  • Die Aufgaben werden immer schwieriger, weil die Probleme, die Menschen in unserer Gesellschaft haben können, immer schwerer werden.
  • Die Verantwortung, die wir tragen müssen wiegt gerade unter diesen schlechten Bedingungen immer schwerer.
  • Wir können unter den gegebenen Bedingungen unsere Aufgaben nicht mehr so bewältigen, dass eine gute Soziale Arbeit dabei herauskommt.
  • Wir arbeiten zudem selber unter höchst prekären Bedingungen

Deshalb verlangen wir bessere Arbeitsbedingungen, um gute Soziale Arbeit machen zu können und Menschen nicht abspeisen zu müssen mit halben Sachen und nur oberflächlicher Hilfe.

  1. Soziale Arbeit, wie wir sie uns vorstellen und wie es unsere wissenschaftlich orientierte Profession nahelegt, tritt ein für soziale Gerechtigkeit. Sie ist kein Kind neoliberaler Gedanken und Absichten. Aber sie wird gegenwärtig dazu verleitet und praktisch gezwungen, es doch zu sein.
    Man macht uns vor, dass man heute Menschen nur dann fördern soll, wenn sie selber was dafür leisten, dass man auch mal locker mit Sanktionen arbeiten kann, wenn Leute nicht aus dem Knick kommen. Man macht uns vor, dass manche Menschen mehr Wert sind als die anderen, weil sie angeblich für diese Gesellschaft mehr leisten. Man macht uns vor, dass unsere Aufgabe darin besteht, zu allererst dafür zu sorgen, dass Menschen alles tun, um zu arbeiten, irgendwas, irgendwie, zu irgendeinem Lohn. Man erzählt uns, dass dies das Ziel der Entwicklung von Menschen sei.

Wir aber wollen eine Soziale Arbeit, die Zeit hat für die Probleme der Menschen und die die Menschen nicht als Waren behandelt  und zu  Befehlsempfänger abwertet.

  • Wir wollen eine Soziale Arbeit, in der die die Menschen und nicht das Geld ausschlaggebend sind und
  • bei der nicht die Entscheidung für Unterstützung davon abhängig gemacht wird, ob ein Mensch das Geld und diese Investition auch lohnt, weil er vielleicht nie ein wirklicher Leistungsträger werden kann. Wir halten vielmehr diese Fragestellung für höchst unmoralisch und menschenverachtend.
  • Wir fordern eine Soziale Arbeit, die versucht, für die Menschen da zu sein und alle Menschen  zu integrieren, statt einen Teil von ihnen wegzuschieben und auszuschließen.

Kritische Soziale Arbeit ist entsetzt und erbost darüber, dass wir durch die Politik gezwungen werden, uns an einer neuen, quasi industriellen Sozialen Arbeit zu beteiligen, die sich zudem auch noch an den Problemen der Ausgeschlossenen und Belasteten und Benachteiligten bereichern darf. Soziales ist keine Ware. Soziales kann nicht als Gewinngeschäft geführt werden. Mit Sozialem darf niemand Profit machen.
Unsere Profession sollte darauf bestehen,  dass es möglich gemacht wird, dass Soziale Arbeit wieder das tun kann, was die Aufgabe unserer Profession ist:  nämlich für die Menschen parteilich einzutreten, die unter den gesellschaftlichen Bedingungen leiden, die also von der Gesellschaft vernachlässigt und zurückgedrängt werden.
Warum schweigen die KollegInnen? *

Erstaunlich ist die Widerstandslosigkeit, mit der diese Veränderungsprozesse abgelaufen sind und weiter ablaufen. Woher kommt diese Ohnmacht?  Hier dürften verschiedene Faktoren eine Rolle spielen.

  1. Zum einen ist in Deutschland, selbst im Westen des Landes, Soziale Arbeit eine Profession mit gering ausgeprägtem Selbstbewusstsein und wenig professioneller Identität (vgl. z.B. Seithe 2010, Heite 2008, Nadai et al. 2005).
    Das hat zu tun mit der Tradition Sozialer Arbeit als helfendem Beruf, der es schon immer schwer hatte, seine Aufgaben und Kompetenzen von dem abzusetzen, was jeder gutwillige Bürger meint, im Sinne von Nächstenliebe oder Altruismus selber leisten zu können (vgl. Seithe 2010 ). Soziale Arbeit war und ist zudem ein Frauenberuf und wird in der Gesellschaft nach wie vor entsprechend gewertet (vgl. Nadai et al. 2005).
    Hinzu kommt die Tatsache, dass die gesellschaftliche Akzeptanz eines Berufes korreliert mit den Bevölkerungsgruppen, um die er sich kümmert bzw. die seine Leistungen nutzen. Soziale Arbeit hat so wenig eine wirkliche Lobby in unserer Gesellschaft wie unsere Klientel.
    Kein Wunder also, dass das Angebot des „aktivierenden Staates“ an diese Profession, eine neue, wichtige Rolle im großen neoliberalen „Erziehungsprojekt“ der Menschen zu spielen, bei unserer nach Anerkennung und gesellschaftlicher Bedeutung lechzenden Profession von vielen PraktikerInnen (aber auch von vielen WissenschaftlerInnen) mit Freude aufgegriffen wurde und weiter aufgegriffen wird (vgl. Heite 2008). Der Preis dafür ist allerdings ist hoch: Hiermit wird  jede gesellschaftskritische Position der Sozialen Arbeit aufgegeben und Soziale Arbeit nur noch auf „Verhaltenstraining“ und Verwaltung reduziert (vgl. z.B. Seithe 2010).
  2. Zum Zweiten erlebt zwar ein großer Teil der PraktikerInnen die derzeitige Situation als verstärkte Belastung (vgl. z.B. Eichinger 2010, Seithe 2010, Messmer 2007). Viele sehen sich dabei aber einer Zwangslage gegenüber,  die für den „normalen Sozialarbeitenden“ nicht auflösbar ist. Für PraktikerInnen, die mitten in diesen Veränderungsprozessen stehen und mit den alltäglichen Zumutungen und Herausforderungen der Ökonomisierung und der neosozialen Politik konfrontiert sind, ist es tatsächlich nicht so einfach, sich diesen Entwicklungen entgegen zu stellen. Sie sind nämlich – im Unterschied z.B. zu WissenschaftlerInnen – nicht nur von den fachlichen Widersprüchen, sondern dazu auch noch von existenziellen Problemen betroffen: Sie müssen ständig um ihren Arbeitsplatz fürchten, ja sogar um das Fortbestehen ihres Trägers bangen und für diesen dann mit Verantwortung tragen: Denn Träger, die als wirtschaftliche Unternehmen geführt werden, stehen unter permanentem Druck, sich zu behaupten, um wirtschaftlich  überleben zu können. Insofern ist es heute für PraktikerInnen doppelt und dreifach schwer, sich zu wehren und gegen die Deprofessionalisierung und Vereinnahmung unserer Profession Widerstand zu leisten (vgl. Eichinger 2010). Unter solchen Bedingungen ist es nicht verwunderlich, dass die Betroffenen alle möglichen Formen und Wege der Bewältigung dieser Belastungen und Diskrepanzen wählen: von der bloßen ängstlichen oder pragmatischen Anpassung zur Verleugnung der eigenen Wahrnehmung, über Versuche des passiven Widerstandes durch subversive Tricks, die die neuen Bedingungen unterlaufen und aushebeln sollen, bis hin zu Reaktionen wie Burnout oder dem radikalen,  ethischen Umschwung zu einem Berufsverständnis, das die Klientel für Nichterfolge Sozialer Arbeit schuldig spricht und sich von jeder Parteilichkeit für sozial Benachteiligte kalt verabschiedet.
  3. Ein dritter Erklärungsversuch findet Ursachen für diese widerstandlose Übernahme der Profession in deren eigenen theoretischen Grundlagen, also in der Disziplin Soziale Arbeit selber. Füssenhäuser (2009) stellt die Frage, ob die lebensweltorientierte Soziale Arbeit nicht selber mit ihren eigenen konzeptionellen Vorstellungen dazu beiträgt bzw. beigetragen hat, die Dethematisierung sozialer Probleme und den Abbau sozialstaatlicher Leistungen und Notwendigkeiten zu legitimieren. Somit würde die lebensweltorientierte Soziale Arbeit möglicherweise sich selber in die Fallen hineinführen, in die die Aktivierungspolitik sie locken will. Notwendig wäre aus diesem Grund aus Sicht der kritischen Sozialen Arbeit eine konsequente Infragestellung und Entlarvung der Umcodierung von in der Sozialen Arbeit „bislang als gültig erachteter Denk-, Handlungs- und Problematisierungslogiken des sozialstaatlichen Arrangements“ (Ziegler 2008, S. 168) durch den „aktivierenden Staat“, der die lebensweltlichen Ansätze als Module einer modernen Sozialtechnik nutzt – jenseits und abgelöst von ihrer kritischen Intention.
    Betrachtet man diese drei Ursachenhintergründe, die  für die gegenwärtige Ohnmacht der Sozialen Arbeit gegenüber den neoliberalen Zumutungen eine Rolle spielen könnten, so ergeben sich strategische Ansätze,  die eine engagierte und kritische Soziale Arbeit auf dem Weg in einen organisierten und bewussten Widerstand verfolgen müsste:
  4. Alles, was zu mehr Selbstbewusstsein der professionellen Sozialarbeitenden beiträgt, was die eigenen fachlichen und ethischen Positionen stärkt, kann dazu beitragen, dass PraktikerInnen mehr Mut und mehr Durchsetzungskraft in der alltäglichen Auseinandersetzung gewinnen. Hier sind vor allem Hochschulen (vgl. z.B. Seithe 2010, Kessl/Reutlinger/Ziegler 2006, S. 117 f),  Gewerkschaften, der Berufsverband und Fortbildungsträger gefordert.
  5. Um dem täglichen Stress, der Angst um die eigene Existenz und um der paralysierende Identifikation mit dem Arbeitgeber zu entgehen, ist das Zusammenschließen mit KollegInnen die beste Bewältigungsstrategie. Gemeinsamer Erfahrungsaustausch, die Entwicklung gemeinsamer Strategien der Gegenwehr, die gemeinsame Verbesserung von Berufsidentität und Selbstwertgefühl als praktizierende SozialarbeiterIn gelingen übrigens am besten außerhalb des eigenen Betriebes in informellen oder auch formellen Gruppen und /oder Organisationen (vgl. Eichinger 2010).
    Auch hier kommt zum Beispiel den vorhandenen berufsständigen, kritischen Organisationen eine große Bedeutung zu. Sie sollten sich für potentielle Mitglieder nicht  allein und in erster Linie als Dienstleister anbieten, sondern sich als Selbsthilfegruppen profilieren, also als Organisationen, in denen Sozialarbeitende aktiv und im eigenen Interesse mitarbeiten und mitgestalten können und dabei von der Organisation Unterstützung, Schutz und  Ressourcen für ihr Engagement erhalten.
  6. Der im dritten Punkt dargestellte mögliche Hintergrund für die scheinbar widerstandslose Vereinnahmung unserer Profession legt vor allem die Notwendigkeit einer theoretischen Neu- bzw. Wieder-Orientierung der Disziplin und Profession Soziale Arbeit nahe. Soziale Arbeit muss sich schnellstens daran machen, ihre Position zu den eigenen sozialpolitischen Wurzeln und Aufgaben neu zu durchdenken und sich gegenüber dem herrschenden gesellschaftlichen System neu positionieren.
    Es ist war ihr nie gegeben, selber und alleine die Gesellschaft zu verändern, aber Soziale Arbeit ist bzw. könnte sein, was schon Mollenhauer von ihr sagte: die „geborene Kritikerin des Kapitalismus“ (Mollenhauer 1991). Auf dieser theoretischen Basis erhält ein wissenschaftlicher aber ebenso ein praktischer, kritischer Umgang mit den neoliberalen Herausforderungen  eine tragfähige und grundlegende Unterstützung und Orientierung.

Sozialarbeitende sind eben keine PolitkerInnen?

Dennoch,  viele SozialarbeiterInnen nehmen die gegenwärtige Realität als normal und unveränderlich und als eben üblich wahr und halten es nicht für ihre Aufgabe, diese zu hinterfragen oder zu bekämpfen. Sie beruhigen sich mit den Sprüchen, mit denen Politik uns abspeist und  abzulenken versucht. Dabei sollte man all diese Sprüche kritisch hinterfragen:

„Es ist doch kein Geld da“

Aber wo ist denn dann das viele Geld in unserer Gesellschaft? Ist der Sozialbereich nur nicht wichtig genug, nicht so wichtig wie z.B. der neue Flughafen, wie die großen teuren Prestigeprojekte und wie die Gewinne der Superreichen?  Das ist eine politische Frage.

„Es werden halt eben immer mehr Fälle, da wird es eben eng. Das Geld reicht dann nicht für so viele“.

Warum werden es mehr? Ein Blick auf die gesellschaftliche Entwicklung macht doch deutlich, dass diese Gesellschaft immer mehr Problemlagen erzeugt und immer Menschen in diese Problemlagen geraten.
Und wer sagt denn, dass unsere Gesellschaft z.B. für Familien mit Problemlagen für gescheiterte Minderjährige nur das ausgeben kann, was sie bisher ausgegeben hat? Was sind ihr die Menschen, besonders die, die sie selber ausgrenzt, eigentlich noch wert?

„Gegen die Armut der Leute kann ich doch als Sozialarbeiterin ohne hin nichts machen“.

Soziale Arbeit ist sogar per Gesetz (KJHG §1) dazu aufgerufen, sich in die Lebenslagen der ihr anvertrauten Minderjährigen politische einzumischen. Und wenn ich meinen KlientInnen vermittle, dass ihre Armut nicht ihre eigene Schuld ist, so ist das auch schon Politik – freilich nicht sehr erwünscht. Und wenn ich mittags in der Kantine ein Gespräch darüber vom Zaune breche, warum eigentlich die Armut zunimmt, dann ist das Politik – freilich auch nicht erwünscht. Und wenn ich in meiner Organisation Flugblätter schreibe gegen die  Selbstverständlichkeit, mit der die Zunahme von Armut  in unserer Gesellschaft  hingenommen wird, dann ist auch das natürlich Politik. Soziale Arbeit kann Armut nicht abschaffen, aber dazu beitragen, dass sie als Unrecht erkannt wird.

„Wir sind doch an die Gesetze gebunden und müssen dafür sorgen, dass sie erfüllt werden“.

Sind wir bei der Polizei? Gesetze sind von Menschen gemacht und können von Menschen geändert werden. Es gibt Gesetze, die heute mit Füßen getreten werden wie das KJHG. Das Gesetz Hartz IV aber z.B. ist menschenfeindlich und es wäre unsere Aufgabe, mit dafür zu sorgen, dass die Öffentlichkeit das kapiert und die Politik unter Druck setzt, dieses Gesetz zu ändern.

„Wir tun doch unser Bestes. Die Rahmenbedingungen werden halt von oben gesteckt, da haben wir doch keinen Einfluss drauf“.

Eben. Aber  wir vertreten eine Profession, die aus wissenschaftlichen und ethischen Gründen andere Rahmenbedingungen braucht,  um ihre Arbeit wirklich gut, d.h. nachhaltig, im Interesse der Betroffenen machen zu können. Dass Politik heute einfach nach ihren Maßstäben und Interessen unzureichende Bedingungen vorgibt, ist ein verschärfter Eingriff in unsere Autonomie.

„Also wir haben gar keine Zeit, uns auch noch mit so was zu befassen.“

Man hat schon immer Kritik und Widerstand dadurch zu verhindern versucht, dass man die Menschen so mit Arbeit und Stress eingedeckt hat, dass sie sich meinten, sich nicht auch noch wehren zu können.
Wenn aber Politik zum persönlichen Anliegen wird, dann wird man nicht mehr darüber klagen, dass man keine Zeit dafür hat. Man wird begreifen, dass sich diese eingesetzte Zeit doppelt und dreifach lohnt: Politische Arbeit macht einem den gekrümmten Rücken wieder  gerade, es  macht Spaß mit anderen Leuten politisch zu agieren und außerdem: Es gibt auch kurz- mittel- und vor allem langfristige Erfolge dabei.

Soziale Arbeit ist immer politisch – so oder so.

Wenn man es genau besieht, so bleibt uns eigentlich gar nichts anderes übrig, als politisch zu werden und zu handeln. Wenn wir nicht anfangen, zu begreifen, dass diese von uns angestrebte „gute Soziale Arbeit“ heute weder gewollt noch unterstützt wird, und dass das schlicht und ergreifend die Folgen politischer Entscheidungen und politischer Konzepte sind, die den humanistischen Zielen unserer Profession mehr oder weniger diametral entgegenstehen, dann wird sich nichts mehr ändern und unsere Profession wird sich Schritt für Schritt in eine Dienstleistung  für die Zwecke des aktivierenden Staates verwandeln. Hier wird es nur noch um die Pflege des Humankapitals gehen und darum, dass Menschen lernen, für ihr Schicksal ganz alleine gerade zu stehen und es wird nur noch das geleistet, was sich rechnet und das auch nur so, wie es sich rechnet.

Wir sind letztlich gezwungen „politisch“ zu werden, auch wenn Politik eigentlich nicht unser Ding und unser Interesse ist, wir sind gezwungen es zu werden, auch wenn wir nichts anderes wollen, als eine gute Arbeit in unserem Beruf zu leisten, eine „gute“ Arbeit, die denjenigen wirklich bei der Lebensbewältigung hilft, die in unserer Gesellschaft am Rande stehen, besser: an den Rand gedrückt werden. Sozialarbeitende müssen sich überlegen, was sie sein wollen und für wen sie arbeiten möchten. Und wenn sie eines Tages spüren und nicht mehr darüber hinwegsehen können, dass sie gegen die Interessen von Menschen arbeiten müssen, dann spätestens ist es soweit: Sie müssen sich entscheiden.

So gesehen ist Soziale Arbeit immer politisch. Wenn eine/r sagt: „Da mache ich nicht mehr mit. Ich suche mir Wege, mich mit anderen zusammen gegen die Neoliberalisierung unserer Profession zu stellen“, genau dann fängt sie oder er an,  bewusst politisch zu handeln.

Wenn man aber sagt: „Ich bin eigentlich kein politischer Mensch. Darum kann ich mich nicht auch noch kümmern. Ich mache meine Arbeit halt immer so gut es geht“ – dann ist man faktisch genauso politisch – nur unterstützt man durch das Wegschauen eine politische Richtung und eine politische Ausrichtung der eigenen Arbeit, die man möglicherweise eigentlich gar nicht unterstützen will. Und das heißt: Wer schweigt, wer die Schultern zuckt, wer wegsieht, wer sich einfach anpasst, wer tut, was von oben gesagt wird, wer dem Klienten verkauft, was er verkaufen soll …. Der handelt eben auch politisch.

 

Literatur:

Füssenhäuser, C. (2006): Lebensweltorientierung. In: Dollinger, B./Raithel, J. (Hrsg.): Aktivierende Sozialpädagogik. Ein kritisches Glossar. Wiesbaden 2006, S. 127 ff

Heite, C. (2008): Soziale Arbeit im Kampf um Anerkennung. Professionstheoretische Perspektiven. Weinheim 2008

Kessl, F./Reutlinger, Ch./Ziegler, H. (Hrsg.) (2006): Auf Basis systematischer Vergewisserungen aus dem Mainstream heraus. Ein Gespräch mit Hans-Uwe Otto. In: widersprüche. H. 100 6/2006, S. 111ff

Messmer, H. (2007): Jugendhilfe zwischen Qualität und Kosteneffizienz. Wiesbaden 2007

Seithe, M. (2010): Schwarzbuch Soziale Arbeit. Wiesbaden 2010

Sorg, R. (2007): Soziale Arbeit und Ökonomisierung. In: Neue Praxis 2/2007, S. 209 ff

Thiersch, H. (1993): Strukturierte Offenheit. Zur Methodenfrage einer lebensweltorientierten Sozialarbeit. In : Rauschenbach, Th. et al.: Der sozialpädagogische Blick. Weinheim 1993

Ziegler, H. (2008): Sozialpädagogik nach dem Neoliberalismus: Skizzen einer post-sozialstaatlichen Formierung Sozialer Arbeit. In: Bütow, B./Chassé, K.-A./Hirt, R. (Hrsg.): Soziale Arbeit nach dem Sozialpädagogischen Jahrhundert. Positionsbestimmungen Sozialer Arbeit im Post-Wohlfahrtsstaat. Opladen 2008, S. 159ff