Soziale Arbeit – autonome Profession oder Büttel der neoliberalen Politik?

SiO (Wien) 2/11

Soziale Arbeit – autonome Profession oder Büttel der neoliberalen Politik?

Gedanken zu den Ursachen einer scheinbar widerstandslosen Übernahme

 

Die Verhältnisse in der Sozialen Arbeit in Deutschland sind grundsätzlich nicht anders als in Österreich. Besonders im Osten Deutschlands, das vor 25 Jahren die gesamte Jugendhilfe neu aufbauen musste, traf die neoliberale Sparwelle und der aktivierende Staat kurze Zeit später auf eine Profession, die mehr oder weniger alles mit sich machen ließ. Im Westen war der Stand der Profession weitaus gesicherter und ausgebauter. Trotzdem sind alle Tendenzen und Folgen der Ökonomisierung und der Vereinnahmung der Sozialen Arbeit in eine neoliberale Sozialpolitik auch hier auf dem Vormarsch.

Erstaunlich ist die Widerstandslosigkeit, mit der diese Veränderungsprozesse abgelaufen sind und weiter ablaufen. Woher kommt diese Ohnmacht?  Hier dürften verschiedene Faktoren eine Rolle spielen.

  1. Zum einen ist auch in Deutschland, selbst im Westen des Landes, Soziale Arbeit eine Profession mit gering ausgeprägtem Selbstbewusstsein und wenig professioneller Identität (vgl. z.B. Seithe 2010, Heite 2008, Nadai et al. 2005).
    Das hat zu tun mit der Tradition Sozialer Arbeit als helfendem Beruf, der es schon immer schwer hatte, seine Aufgaben und Kompetenzen von dem abzusetzen, was jeder gutwillige Bürger meint, im Sinne von Nächstenliebe oder Altruismus selber leisten zu können (vgl. Seithe 2010 ). Soziale Arbeit war und ist zudem ein Frauenberuf und wird in der Gesellschaft nach wie vor entsprechend gewertet (vgl. Nadai et al. 2005).
    Hinzu kommt die Tatsache, dass die gesellschaftliche Akzeptanz eines Berufes korreliert mit den Bevölkerungsgruppen, um die er sich kümmert bzw. die seine Leistungen nutzen. Aus dieser Anerkennungsfalle scheint die Soziale Arbeit nicht herauszukommen, es sei denn, sie ist bereit, ihre Identität als gesellschaftliche Instanz aufzugeben, die mit der Linderung und Bewältigung von individuellen Problemlagen zu tun hat, die durch die gesellschaftlichen Verhältnisse selber maßgeblich mitbedingt sind. Kein Wunder also, dass das Angebot des „aktivierenden Staates“ an diese Profession, eine neue, wichtige Rolle im großen neoliberalen „Erziehungsprojekt“ der Menschen zu spielen, bei unserer nach Anerkennung und gesellschaftlicher Bedeutung lechzenden Profession von vielen PraktikerInnen (aber auch von vielen WissenschaftlerInnen) mit Freude aufgegriffen wurde und weiter aufgegriffen wird (vgl. Heite 2008). Der Preis dafür ist allerdings ist hoch: Hiermit wird  jede gesellschaftskritische Position der Sozialen Arbeit aufgegeben und Soziale Arbeit nur noch auf „Verhaltenstraining“ und Verwaltung reduziert (vgl. z.B. Seithe 2010).
    Zu einer schlecht entwickelten Identität der Professionellen als Sozialarbeitende trägt auch die Tendenz zur immer weiter voranschreitenden Spezialisierung, zur Auflösung der Profession in  verschiedenste Arbeitsfeldern bei (vgl. z.B. Sorg 2007). Die meisten Sozialarbeitenden fühlen sich mit ihrem Arbeitsfeld wesentlich mehr verbunden als mit ihrer eigentlichen Profession (vgl. Seithe 2010). Man kennt das Phänomen schon aus den Hochschulen: Wenn man einen Studierenden der Sozialen Arbeit fragt, was er oder sie denn in diesem Beruf eigentlich machen wird, weichen fast alle Befragten auf die Beschreibung von Arbeitsfeldern aus. Die Kernidentität, die gemeinsame Handlungsorientierung, die verbindende Ethik, die methodische Konzeption der Sozialpädagogik, die theoretischen Konzepte Sozialer Arbeit wie z.B. die Lebensweltorientierung sind für viele bestenfalls Worthülsen und haben nur geringe Bedeutung für das berufliche Selbstverständnis in einem konkreten Arbeitsfeld (vgl. z.B. Galuske 2003). Die spezifischen, strukturellen Merkmale der Profession Soziale Arbeit, wie z.B. Alltagsorientierung und Allzuständigkeit, machen es für die Sozialarbeitenden zudem schwer, ihre Profession nach außen offensiv und für die anderen Menschen begreiflich darzustellen. Gleichwohl sind sie konstituierend für die Profession (vgl. Thiersch 1993). Es ist eben einfacher, ein konkretes Arbeitsfeld zu beschreiben und den Grundfragen der Profession damit auszuweichen. Diese Tendenz der Orientierung allein am Arbeitsfeld und nicht an der Profession verhindert es aber, dass Sozialarbeitende aus verschiedenen Arbeitsbereichen sich überhaupt als  KollegInnen betrachten können, die tatsächlich gemeinsame Interessen, Absichten, Ziele aber auch Probleme haben können.
  2. Zum Zweiten erlebt zwar ein großer Teil der PraktikerInnen die derzeitige Situation als verstärkte Belastung (vgl. z.B. Karges 2011, Eichinger 2010, Seithe 2010, Messmer 2007). Viele sehen sich dabei aber einer Zwangslage gegenüber, die für den „normalen Sozialarbeitenden“ nicht auflösbar ist. Für PraktikerInnen, die mitten in diesen Veränderungsprozessen stehen und mit den alltäglichen Zumutungen und Herausforderungen der Ökonomisierung und der neosozialen Politik konfrontiert sind, ist es tatsächlich nicht so einfach, sich diesen Entwicklungen entgegen zu stellen. Sie sind nämlich – im Unterschied z.B. zu WissenschaftlerInnen – nicht nur von den fachlichen Widersprüchen, sondern  dazu auch noch von  existenziellen Fragen betroffen: Sie müssen ständig um ihren Arbeitsplatz fürchten und sogar um das Fortbestehen ihres Trägers bangen und für diesen mit Verantwortung tragen: Denn Träger, die als wirtschaftliche Unternehmen geführt werden, stehen unter permanentem Druck, sich zu behaupten, um wirtschaftlich  überleben zu können. Insofern ist es heute für PraktikerInnen doppelt und dreifach schwer, sich zu wehren und gegen die Deprofessionalisierung und Vereinnahmung unserer Profession Widerstand zu leisten (vgl. Eichinger 2010). Unter solchen Bedingungen ist es nicht verwunderlich, dass die Betroffenen alle möglichen Formen und Wege der Bewältigung dieser Belastungen und Diskrepanzen wählen: von der bloßen ängstlichen oder pragmatischen Anpassung zur Verleugnung der eigenen Wahrnehmung, über Versuche des passiven Widerstandes durch subversive Tricks, die die neuen Bedingungen unterlaufen und aushebeln sollen, bis hin zu Reaktionen wie Burnout oder dem radikalen,  ethischen Umschwung zu einem Berufsverständnis, das die Klientel für Nichterfolge Sozialer Arbeit schuldig spricht und sich von jeder Parteilichkeit für sozial Benachteiligte kalt verabschiedet (vgl. Heiner 2004 ). Seithe (2010) charakterisiert in ihrem „Schwarzbuch Soziale Arbeit“ die verschiedenen Möglichkeiten und Typen von Bewältigungsstrategien, derer sich in der Gegenwart WissenschaftlerInnen und PraktikerInnen bedienen, um mit der veränderten Situation umgehen zu können.  Die VertreterInnen dieser verschiedenen Strategien sind mehr oder weniger kritisch eingestellt, die Strategien aber  haben aber eines gemeinsam: Sie gehen die Konflikte und Widersprüche nicht offen und offensiv an, setzen eher auf die Chance einer „Unterwanderung der Unterwanderung“ (vgl. Seithe 2010, S. 233 ff ).
  3. Ein dritter Erklärungsversuch findet Ursachen für diese widerstandlose Übernahme der Profession in deren eigenen theoretischen Grundlagen, also in der Disziplin Soziale Arbeit selber. Füssenhäuser (2009) und z.B. auch Winkler (2008) stellen die Frage, ob die lebensweltorientierte Soziale Arbeit nicht selber mit ihren eigenen konzeptionellen Vorstellungen dazu beiträgt, die Dethematisierung sozialer Probleme und den Abbau sozialstaatlicher Leistungen und Notwendigkeiten zu legitimieren. Somit würde die lebensweltorientierte Soziale Arbeit möglicherweise sich selber in die Fallen hineinführen, in die die Aktivierungspolitik sie locken will. C. Müller reflektiert, ob es angesichts der Umdeutung und Einvernahme der sozialpädagogischen, lebensweltlichen Begrifflichkeiten durch den aktivierenden Staat wirklich schon ausreiche, die lebensweltliche Strategie Sozialer Arbeit zu betonen und den Eigen- und Selbstwert des Subjektes hervorzuheben, zu achten, zu aktivieren und zu stärken. (C. Müller 2009, S. 38). Notwendig wäre also eine konsequente Infragestellung und Entlarvung der Umcodierung von in der Sozialen Arbeit „bislang als gültig erachteter Denk-, Handlungs- und Problematisierungslogiken des sozialstaatlichen Arrangements“ (Ziegler 2008, S. 168) durch den „aktivierenden Staat“, der die lebensweltlichen Ansätze jenseits und abgelöst von ihrer kritischen Intention als Module einer modernen Sozialtechnik nutzt.
    Roer geht in ihrer Analyse und Einschätzung noch weiter: Ausgangspunkt auch ihrer Überlegungen ist die Frage, wieso gerade die Soziale Arbeit so stark vom neoliberalistischen Umbau ergriffen werden konnte (Roer 2010). Sie stellt fest, dass mit der Adaptation der individualisierenden Gesellschaftstheorie z.B. von Ulrich Beck in den 80er Jahren eine tief greifende Veränderung des wissenschaftlichen Selbstverständnisses der Profession hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen und damit auch sozialpolitischen Positionierung stattgefunden hat, die auch beim Konzept der Lebensweltorientierung durchaus feststellbar ist. Das weitgehende Ausgrenzen gesellschaftlicher Aspekte zu Gunsten einer massiven und umfassenden Individualisierung, die auf diese Weise fehlende gesellschaftstheoretische Fundierung der Disziplin, die Propagierung vom Ende der Sozialen Frage und die Auffassung Sozialer Arbeit als Dienstleistung, so Roer, haben der einige Jahre später einsetzenden neoliberalen Wirtschafts- und Sozialpolitik objektiv in die Hände gearbeitet. Da die Soziale Arbeit sich auf diese Weise ihrer eigenen Kernidentität als eine gesellschaftliche Instanz beraubt hat, die ihre Aufgabe in der Linderung der durch das gesellschaftliche System hervorgerufenen Problemlagen und in der Verbesserung der gesellschaftlich bedingten Lebenslagen der betroffenen Menschen liegt, hat sie nunmehr – in Konfrontation mit einer Ideologie, die die gesellschaftliche Ursachen geleugnet und soziale Probleme individualisiert – große Schwierigkeiten, ihre fachlichen und ethischen  Standards professionellen Handelns aus der eigenen Wissenschaftlichkeit heraus zu begründen. Vielleicht, so die Vermutung,  liegt hier ein wichtiger Grund dafür, dass eine offensive, von der neoliberalen Ideologie abweichende theoretische Haltung gar nicht eingenommen werden kann.

Betrachtet man diese drei Ursachenhintergründe, die  für die gegenwärtige Ohnmacht der Sozialen Arbeit gegenüber den neoliberalen Zumutungen eine Rolle spielen könnten, so ergeben sich Ansätze für Strategieebenen, auf denen sich eine engagierte und kritische Sozial Arbeit auf den Weg in einen organisierten und bewussten Widerstand begeben müsste:

  1. Alles, was zu mehr Selbstbewusstsein der professionellen Sozialarbeitenden beiträgt, was die eigenen fachlichen und ethischen Positionen stärkt, kann dazu beitragen, dass PraktikerInnen mehr Mut und mehr Durchsetzungskraft in der alltäglichen Auseinandersetzung gewinnen. Hier sind vor allem Hochschulen (vgl. z.B. Seithe 2010, Kessl/Reutlinger/Ziegler 2006, S. 117f),  Gewerkschaften, der Berufsverband und Fortbildungsträger gefordert. Aber letztlich liegt eine solche Entwicklung in der Verantwortung der PraktikerInnen selber. Dass es dabei sinnvoll und äußerst hilfreich ist, gemeinsam tätig zu werden und sich nicht als EinzelkämpferIn zu verheizen, versteht sich von selber.
  2. Um dem täglichen Stress, der Angst um die eigene Existenz und um der paralysierende Identifikation mit dem Arbeitgeber zu entgehen, ist das Zusammenschließen mit KollegInnen das Gebot der Stunde und die beste Bewältigungsstrategie. Gemeinsamer Erfahrungsaustausch, die Entwicklung gemeinsamer Strategien der Gegenwehr, die gemeinsame Verbesserung von Berufsidentität und Selbstwertgefühl als praktizierende SozialarbeiterIn gelingen am besten außerhalb des eigenen Betriebes in informellen oder auch formellen Gruppen und /oder Organisationen (vgl. Eichinger 2010).
    Auch hier kommt zum Beispiel den vorhandenen berufsständigen, kritischen Organisationen eine große Bedeutung zu. Sie sollten sich für potentielle Mitglieder nicht  allein und in erster Linie als Dienstleister anbieten, sondern sich als Selbsthilfegruppen profilieren, also als Organisationen, in denen Sozialarbeitende aktiv und im eigenen Interesse mitarbeiten und mitgestalten können und dabei von der Organisation Unterstützung, Schutz und  Ressourcen für ihr Engagement erhalten.
  3. Der im dritten Punkt dargestellte mögliche Hintergrund für die scheinbar widerstandslose Vereinnahmung unserer Profession legt vor allem die Notwendigkeit einer theoretischen Neu- bzw. Wieder-Orientierung der Disziplin und Profession Soziale Arbeit nahe. Soziale Arbeit muss sich schnellstens daran machen, ihre Position zu den eigenen sozialpolitischen Wurzeln und Aufgaben neu zu durchdenken und sich gegenüber dem herrschenden gesellschaftlichen System neu positionieren.
    Es ist war ihr nie gegeben, die Gesellschaft zu verändern, aber Soziale Arbeit ist bzw. könnte sein, was schon Mollenhauer von ihr sagte: die „geborene Kritikerin des Kapitalismus“ (Mollenhauer 1991). Auf dieser theoretischen Basis erhält ein wissenschaftlicher aber ebenso ein praktischer, kritischer Umgang mit den neoliberalen Herausforderungen  eine tragfähige und grundlegende Unterstützung und Orientierung.

 

Literatur:

Füssenhäuser, C. (2006): Lebensweltorientierung. In: Dollinger, B./Raithel, J. (Hrsg.): Aktivierende Sozialpädagogik. Ein kritisches Glossar. Wiesbaden 2006, S. 127 ff

Heiner, M. (2004): Professionalität  in der Sozialen Arbeit. Theoretische Konzepte, Modelle und empirische Perspektiven. Stuttgart 2004

Heite, C. (2008): Soziale Arbeit im Kampf um Anerkennung. Professionstheoretische Perspektiven. Weinheim 2008

Karges, R. (2011): Hartz IV im beruflichen Alltag von SozialarbeiterInnen. Soziale Arbeit zwischen eigenen, fachlichen, gesellschaftlichen und gesetzlichen Ansprüchen. Unveröffentlichter Forschungsbericht an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin. Berlin. Im Internet unter http://www.khsb-berlin.de/hochschule/personen/lehrende/hauptamtliche-lehrkraefte/karges-rosemarie/ (Stand 26.3.2011)

Kessl, F./Reutlinger, Ch./Ziegler, H. (Hrsg.) (2006): Auf Basis systematischer Vergewisserungen aus dem Mainstream heraus. Ein Gespräch mit Hans-Uwe Otto. In: widersprüche. H. 100 6/2006, S. 111ff

Messmer, H. (2007): Jugendhilfe zwischen Qualität und Kosteneffizienz. Wiesbaden 2007

Mollenhauer, K. (1991): Einführung in die Sozialpädagogik. Probleme und Begriffe der Jugendhilfe. Weinheim 1991 (1964)

Müller, C. (2009): Wer herrscht in der Sozialen Arbeit? Oder: eine Re-Politisierung mittels Gouvernementalitätsdiskurs. In: Beitrag Politik und Soziale Arbeit 2009, S. 36ff

Roer, D.: Soziale Arbeit und Sozialpolitik. Der Beitrag der Mainstream-Sozialarbeitswissenschaften zu (Ent-) Politisierung der Profession. In: Michel-

Seithe, M. (2010): Schwarzbuch Soziale Arbeit. Wiesbaden 2010

Sorg, R. (2007): Soziale Arbeit und Ökonomisierung. In: Neue Praxis 2/2007, S. 209 ff

Thiersch, H. (1993): Strukturierte Offenheit. Zur Methodenfrage einer lebensweltorientierten Sozialarbeit. In : Rauschenbach, Th. et al.: Der sozialpädagogische Blick. Weinheim 1993

Winkler, M. (2008): Annäherungen an den neuen gesellschaftlichen Ort sozialer Arbeit. In: Bütow, B./Chassé, K.-A. Hirt, R. (Hrsg.): Soziale Arbeit nach dem Sozialpädagogischen Jahrhundert. Positionsbestimmungen Sozialer Arbeit im Post-Wohlfahrtsstaat. Opladen 2008, S. 191ff

Ziegler, H. (2008): Sozialpädagogik nach dem Neoliberalismus: Skizzen einer post-sozialstaatlichen Formierung Sozialer Arbeit. In: Bütow, B./Chassé, K.-A./Hirt, R. (Hrsg.): Soziale Arbeit nach dem Sozialpädagogischen Jahrhundert. Positionsbestimmungen Sozialer Arbeit im Post-Wohlfahrtsstaat. Opladen 2008, S. 159ff