Was wird aus der Profession Soziale Arbeit? (Siegen 2012)

Zukunft der Profession unter den gegebenen Bedingungen
Ausblick auf mögliche Widerstandsformen

1. Teil

Wie sieht die neosozial veränderte Soziale Arbeit aus und wie wird sie sich entwickeln?

Nicht überall und nicht überall in gleichem Maße ist der neue Trend der Ökonomisierung und der programmatischen Wende zum aktivierenden Sozialstaat in der Sozialen Arbeit zu spüren. Aber die „Inseln der Seligen“ werden immer rarer. Die neosozialen Umsteuerungen der Sozialen Arbeit finden auf zu vielen Ebenen statt und dringen über zu viele Kanäle in die Profession ein, als dass sich Bereiche, Arbeitsfelder oder auch einzelne Einrichtungen dagegen langfristig abschirmen könnten. Roer stellt fest, dass die heutige Soziale Arbeit „ in einer kaum vorstellbaren Weise involviert ist in den neoliberalen Umbau der Gesellschaft (Roer 2010, S. 34).

1.1. Die modernisierte und veränderte Soziale Arbeit

Was kennzeichnet die veränderte Soziale Arbeit aus, die durch Ökonomisierung geprägt ist und der Aktivierungsideologie folgen muss?

  • Wir haben es zu tun mit einem nicht enden wollenden Sparkurs.
  • Die Folge sind verschlechterte Arbeitsbedingungen.
  • Erste Folge der verschlechterten Arbeitsbedingungen: es fehlt an Personal, an hinreichend Zeitkontingenten.
    Zweite Folge der verschlechterten Arbeitsbedingungen: Eine sozialpädagogische Fachlichkeit ist nicht mehr wirklich gefragt.
  • Durch den Rückzug des Staates aus seiner sozialen Verantwortung fehlt die ausreichende Finanzierung.
  • Soziale Einrichtungen werden wirtschaftliche Unternehmen.
  • Der wichtigste Auftrag für Sozialarbeitende ist das Kostensparen.
  • Das betriebswirtschaftliche Denken, das die Soziale Arbeit zunehmend steuert, verpasst dabei die Kernelemente sozialpädagogischen Handelns wie etwa die Partizipation, die Koproduktion und die Kommunikation. Das hat zur Folge:
    • Fachfremde Definition fachlicher Aspekte
    • Fachfremde Zielorientierung und Erfolgsdefinition
  • Darüber hinaus beschert uns der aktivierende Sozialstaat ein neues leitendes Menschenbild: Ziel ist es oft nur noch, die Menschen für diese Gesellschaft funktionstüchtig zu machen bzw. die Funktionsuntüchtigen auszusieben und zu verwalten, damit man an sie keine Investitionen verschwendet.
    • Das bedeutet zum einen für unsere Klienten Barmherzigkeit statt Rechte der Klientel.
    • Soziale Arbeit wird im diesem Kontext immer mehr zur ordnungspolitische Instanz.
    • An die Stelle von Rechtsansprüchen der Klientel tritt heute die Barmherzigkeit mit ihnen.
  • Es gibt zunehmend nicht nur zwei Klassen von KlientInnen, sondern auch zwei Klassen von Sozialarbeitenden.

Die deprofessionalisierenden Auswirkungen der Ökonomisierung scheinen dabei den Vorstellungen des aktivierenden Staates durchaus entgegen zu kommen. Eine Professionalität der Sozialen Arbeit im Sinne einer eigenständigen, fachlich und wissenschaftlich fundierten Sozialen Arbeit, so muss man schlussfolgern, ist im aktivierenden Staat gar nicht wirklich gewollt.

1.2 Die weitere Entwicklung der Sozialen Arbeit

Manche denken, dass die neoliberale Politik und ihre Ideologie vorübergehen und man sie einfach aussitzen kann. Andere glauben, dass die Folgen und Auswüchse irgendwann überdeutlich werden müssten und man deshalb irgendwann die neue Entwicklung auf ein Mittelmaß zurückschrauben wird. Andere gehen davon aus, dass der einmal in Gang gekommene Prozess der Vermarktlichung Sozialer Arbeit weiter und ständig fortschreiten wird.

Für manchen ist die Botschaft beruhigend, dass all das das nicht bedeuten muss, dass die Soziale Arbeit ganz abgeschafft wird, dass sie überflüssig werden oder einfach aufhören könnte. Denn es ist keineswegs zu erwarten, dass die Soziale Arbeit verschwindet.
Aber ist das, was bei dieser Veränderung herauskommt, noch die Soziale Arbeit, hinter der wir stehen? Galuske prognostiziert, „dass die Soziale Arbeit des 21. Jahrhunderts eine andere sein wird, als sie in der reformoptimistischen Phase der 70er und 80er Jahre gedacht und auf den Weg gebracht wurde“ (2006, S. 2). Und er kommt an anderer Stelle zu der Forderung: „Angesichts der (Definitions-) Macht des digitalen Kapitalismus stellt sich heute die Frage, wie es gelingen kann, die Kernprinzipien der Sozialpädagogik und Sozialarbeit als Stützpfeiler einer dem Menschen zugewandten Sozialpädagogik auch in Zukunft zu halten“ (Böhnisch, 2005, S. 230).

Tatsächlich wird Soziale Arbeit heute mehr denn je von der herrschenden Politik eingefordert. Der allgemein übliche Sparkurs, der den Sozialbereich und die Soziale Arbeit insbesondere trifft, bedeutet keineswegs, dass die Soziale Arbeit nicht erwünscht wäre, nicht gebraucht würde und nicht von der herrschenden Politik eingeplant würde. In bestimmten Bereichen verzeichnen wir einen Boom sozialpädagogischer Herausforderungen und Angebote an die Profession: so im frühkindlichen Bereich, zunehmend auch als Helfer beim nicht gelingen wollenden Bildungsauftrag der Gesellschaft und z.B. als Verhaltenstrainer für Menschen, die lernen sollen, die von ihnen geforderte Eigenverantwortung und Selbstvermarktung zu meistern.

1.3. Veränderungsdruck und Bewältigungsstrategien

Wie gehen die PraktikerInnen und WissenschaftlerInnen mit diesen Zumutungen und mit dem stetigen Veränderungsdruck um?

Wenn man sich die hier dargelegten Folgen der Aktivierungsdoktrin und der Ökonomisierung für die professionelle Soziale Arbeit vor Augen führt, könnte man sich verwundert fragen, warum dieser Prozess nicht auf heftigen Widerstand gestoßen ist, warum diese schleichende Umwandlung fast lautlos und scheinbar widerspruchslos über die Bühne der sozialpädagogischen Praxis gegangen ist bzw. noch weiter geht. Viele der Veränderungen und Prozesse werden z.B. von den PraktikerInnen in ihren Folgen kaum wahrgenommen. Sie sind allmählich eingeführt worden und gelten längst als unumstößliche Gesetze (vgl. z.B. Eichinger 2004).

1.3.1 Wie erleben PraktikerInnen diese veränderte Situation?

In der Fachliteratur wird immer wieder hervorgehoben, dass PraktikerInnen diese Veränderungen nicht nur in großer Mehrheit erdulden, sondern in Teilen selber aktiv zu ihrer Ausbreitung und Verwurzelung beitragen.

PraktikerInnen erleben die problematischen Veränderungen auf drei Ebenen:

  • Sie erfahren die fachlich-ethische Widersprüche in ihrer Arbeit selber.
    Es ist zu vermuten und die Erfahrung spricht dafür, dass viele PraktikerInnen die Veränderungen und die neuen Entwicklungen in ihrer Profession durchaus wahrnehmen. Den Widersprüchen und Herausforderungen auf dieser Ebene stehen die Beschäftigten außerdem oft mit dem Gefühl von Ohmacht gegenüber. Sie erleben sich ohnehin als Angehörige einer Berufsgruppe, der sehr geringe soziale Anerkennung zuteil wird (vgl. Nadai et al. 2005; Heite 2008).
  • Vor allem nehmen sie eine zunehmende Belastung wahr.
    Unbestritten ist, dass die meisten Praktikerinnen die Veränderungen als Stress, als Belastung und als Erschwerung ihrer Arbeitsbedingungen erleben (vgl. Messmer 2007; Eichinger 2009; Job et al. 2009). Das Burnout ist im Bereich der Sozialen Arbeit zunehmend eine reale Bedrohung (vgl. Poulsen 2008). Auf die Dauer sind die Belastungen nicht auszuhalten. Es stellt sich die Notwendigkeit ein, Regulierungsstrategien zur Reduktion des eigenen psychischen Druckes zu entwickeln.
  • Die Angst vor dem Arbeitsplatzverlust ist ein Grundgefühl.
    Bei vielen PraktikerInnen in der heutigen Sozialen Arbeit bestehen eine ständige Unsicherheit und die begründete Angst vor dem Arbeitsplatzverlust. Als Fachkräfte erleben sie sich als durchaus ersetzbar und leben in einem ständigen latenten Konkurrenzverhältnis zu ihren BerufskollegInnen (vgl. z.B. Eichinger 2009, S. 151 ff) und zu möglichen nichtfachlichen Kräften, die sie auf ihrem Arbeitsplatz verdrängen könnten. Die Arbeitgeber in der Sozialen Arbeit, die heutigen UnternehmerInnen sozialer Betriebe, haben also reichlich Druckmittel, die Hinnahme nichtakzeptabler Arbeitsbedingungen aber ebenso Wohlverhalten und Anpassung in fachlichen und ethischen Fragen zu erzwingen.

 1.3.2 Bewältigungsstrategien

Sowohl die VertreterInnen der Sozialen Arbeit in Wissenschaft, Forschung und Lehre als auch die praktizierenden SozialpädagogInnen bedienen sich der unterschiedlichsten Bewältigungsstrategien, um mit der „Krise“ ihres bisherigen fachlichen, ethischen und beruflichen Selbstverständnisses umgehen zu können. Sie können hier nur kurz angeführt werden:

  • Psychologisch-individuelle Entlastungsstrategien
    Entlastungsstrategien dienen der Reduktion des psychisch empfundenen Drucks. Beispiele: „Jammern“, Ausstieg, Burnout, die Schuld für Misserfolge den Klienten in die Schuhe schieben, aber auch der Trend zu Fortbildungen.
  • Fortgesetzte Selbstausbeutung – die geduldigen HelferInnen
    Es sollen nicht auch noch die Klienten darunter leiden müsse. Lieber beutet man sich selber aus. Die Botschaft an die Verwaltung und Politik aber heißt: „Es geht ja“.
  • Pragmatismus ist alles – die Realos
    VertreterInnen dieser Haltung sind u. U. sehr wohl in der Lage die Veränderungen auch kritisch zu bewerten, aber sie entscheiden sich dennoch für die Unterstützung der neuen Entwicklungen, weil sie ihnen Vorteile verspricht.
  • Modern ist immer gut – die ModernisiererInnen
    Eine ganze Reihe von WissenschaftlerInnen sowie PraktikerInnen begrüßen die neuen Entwicklungen ganz ohne Zögern und ohne kritische Untertöne, weil sie denken, dass alles Moderne auch etwas Fortschrittliches haben muss. So glauben viele z.B. dass hiermit die Lebensweltorientierung endlich umgesetzt wird.
  • Endlich wird ein Geschäft daraus – die Modernisierungs-gewinnlerInnen
    auch die gibt es und nicht zu knapp.
  • Das Beharren auf dem Verlorenen – die Konservativen
    Die Konservativen, so wie sie hier verstanden werden, haben eine kritische Distanz zu den neuen Entwicklungen und den neuen Herausforderungen, aber ohne dass sie eine wirkliche Gegenwehr entfalten und ohne Soziale Arbeit offensiv weiter zu entwickeln.
  • Passiver Widerstand und subversive Tricks – die unbeeindruckten Profis
    Viele PraktikerInnen, die sich von den Zumutungen und klientenfeindlichen Folgerungen der Aktivierungsstrategie und ihrer Ökonomisierung betroffen sehen, meinen, die neue Politik einfach hinters Licht führen zu können.
    So ist es z.B. verbreitete Strategie von MitarbeiterInnen der Sozialen Arbeit etwa im Umgang mit zu knapp bemessenen Zeitressourcen, die ihnen eine fachlich angemessene Arbeit unmöglich machen, den Kostenträger „auszutrixen“: Durch Umstrukturierungen schafft man sich die notwendigen Bedingungen, damit man doch tun kann, was man für nötig hält. Die Botschaft aber, die die MitarbeiterInnen durch ihren „Trick“ an Geldgeber und die Kontrolleure ihrer Arbeit senden, lautet: ‚Die Zeit, die ihr uns gebt, reicht aus. Alles o. k’.
    Ähnlich wie die schlauen PraktikerInnen, die versuchen, die neue Entwicklung zu umgehen, indem sie deren Vertreter und ihre Absichten austrixen, nehmen die „unbeeindruckten Profis“ die ökonomischen Anforderungen hin und diskutieren bereitwillig über ihre Erfüllung, versuchen dann aber, ihre fachlichen Vorstellungen quasi wie Trojanische Pferde mitten in die neuen ökonomischen Kategorien hinein zu platzieren und sie damit doch im Sinne der Profession zu bestimmen. Letztlich wird das Problem auf diese Weise verharmlost und entschärft.
  • Aber da wäre noch eine andere, eine letzte Haltung möglicher Bewältigungsstrategien in unserer Profession: der aktive Widerstand einer kritisch denkenden und handelnden Sozialen Arbeit.

 2. Teil

Repolitisierung und Politisierung der Sozialen Arbeit

2.1 Gibt es unpolitische Soziale Arbeit?

Soziale Arbeit fügt sich heute weitgehend stillschweigend in die neuen Bedingungen und Herausforderungen, wie inzwischen auch etliche empirische Untersuchungen gezeigt haben (Tilmann Lutz, Karges, Job et al.).

Soziale Arbeit war nicht immer in diesem Sinne unpolitisch. Die Jahre intensiver politischer Aktivitäten und hohen sozialpolitischen Engagements innerhalb der Sozialarbeiterschaft waren die 68er Jahre und das nachfolgende Jahrzehnt, jene Zeit, in der die Soziale Arbeit als parteiliche und auf Seiten der Menschen stehende Profession neu gedacht und professionell z.B. im Rahmen der Lebensweltorientierung und als Hochschulausbildung verankert wurde.

In den folgenden Jahrzehnten wähnte die Soziale Arbeit ihre ethischen, fachlichen und politischen Implikationen und Standards leichtfertiger Weise als sicher. So trafen und treffen die Zumutungen der neoliberalen Sozialpolitik heute auf eine Soziale Arbeit, die sich selber kaum noch als politische Disziplin versteht, geschweige denn, die Erfahrungen in politischen Aktionen hat oder sich irgendwie politisch verhalten könnte.

 

Tatsächlich aber hatte und hat Soziale Arbeit sehr viel mit Politik zu tun.
Soziale Arbeit ist selber eine sozialpolitische Instanz und wirkt in unterschiedlicher Weise politisch. So wie sie als notwendige Antwort des frühen Industriekapitalismus auf die von ihm selber verursachte Soziale Frage entstanden ist, ist sie auch heute Teil der Sozialpolitik der herrschenden politischen Kräfte kapitalistischer Gesellschaftssysteme.

Sie wird über Gesetze, über deren politische Auslegung und über die öffentliche Finanzierung weitgehend durch das politische System bestimmt, wirkt aber auch selber politisch, indem sie zwischen System und den Menschen der Gesellschaft vermittelt und deren Überleben unter den gegebenen politischen Bedingungen zu sichern versucht.

Deshalb kann Soziale Arbeit sich nicht wirklich unpolitisch verhalten:

  • Auf der einen Seite ist Soziale Arbeit immer eng mit der herrschenden Politik verbunden und damit befasst, sie zu transportieren und umzusetzen.
  • Gleichzeitig kann Soziale Arbeit aber auch selber eine treibende politische Kraft sein, wenn es darum geht, menschenwürdigere sozialpolitische Perspektiven zu eröffnen und zu fördern.

Im Sinne der oben gemachten Feststellung, dass Soziale Arbeit nicht unpolitisch sein kann, bedeutet das für unsere heutige Situation: Soziale Arbeit, die sich „unpolitisch“, angepasst und langmütig verhält, ist und wirkt also sehr wohl politisch. Sie unterstützt und festigt das System und in unserem Fall das neoliberale sozialpolitische Konzept und schadet der eigenen Profession.

 

2.2 Gibt es heute kritische SozialarbeiterInnen?

Diese Frage stellt sich angesichts der massiven Veränderungen und Umdeutungen Sozialer Arbeit und angesichts der mehr oder weniger starken Tendenz in Wissenschaft wie Praxis, sich an die neuen Erwartungen und Zumutungen anzupassen.

Tatsächlich gibt es nicht wenige PraktikerInnen und WissenschaftlerInnen, die etwas tun möchten gegen die Deprofessionalisierung und die Inanspruchnahme der Sozialen Arbeit durch das  neosoziale Projekt. Es sind diejenigen, denen ihre Berufssituation im sozialen Prekariat unerträglich wird, die die Auswirkungen auf die Klientel nicht akzeptieren können (weniger Hilfe, unzureichende Hilfe und Abschiebung sowie keine Hilfe für Ausgegrenzte) und die die Profession, ihre ethischen Grundlagen, ihre professionellen Methoden und Orientierungen nicht aufgeben wollen.

 

2.3 Strategieebenen kritischer Sozialer Arbeit 

Strategien für die Gegenwehr ergeben sich auf unterschiedlichen Ebenen, die wiederum aufeinander aufbauen und mit einander korrespondieren. Wenn wirklich etwas durch Gegenwehr geändert werden soll, so wird es notwendig sein, sich auf all diesen Ebenen kritisch einzubringen und aktiv zu werden.

Zu unterscheiden sind vier Strategieebenen.

2.4.1 Reflexivität als Gegenbild einer sozialtechnologischen Anpassung
Reflexivität bedeutet, den entscheidenden Schritt zu wagen von der bloßen Unzufriedenheit und dem unbestimmten Unbehagen an der gegenwärtigen Situation in der Sozialen Arbeit hin zur reflektierten und wissenschaftlich begründeten Kritik.
Das Begreifen der Zusammenhänge, das Durchschauen von gesellschaftlichen Hintergründen und von nur scheinbar begrifflichen Ähnlichkeiten sind somit wichtige Aspekte und gleichzeitig die Voraussetzung einer Erfolg versprechenden Gegenwehr. Sie stellen die Basis für kritisches Herangehen, für Widerstand und politisches Handeln dar. „Will die Soziale Arbeit nicht zum Spielball einer Turbomodernisierung und ihrer sozialen Verwerfungen werden, bleibt ihr einzig und allein der kritische, aufgeklärte und wissensbasierte Blick auf die ihr systemisch abverlangten Aufgaben, Funktionen und die ihr zur Verfügung gestellten Ressourcen“, so führt Galuske die Bedeutung der Reflexivität aus (Galuske 2002, S. 21). Auf diese Weise entwickelt sich das notwendige „Gegengift“ (ebenda). Reflexivität liefere keine Lösungen, aber oft seien Fragen produktiver als das in „Glaubenskämpfen mündende Ringen um eine abschließende Antwort, die zur Voraussetzung (meist) eine andere Gesellschaft hat, die es (noch) nicht gibt“ (ebenda, S. 348).
Diese erste Strategie ist vordergründig eine Strategie der Theorie und der Wissenschaft. Aber die PraktikerInnen können und sollten sie sich unbedingt zu Eigen machen. Das Bewusstsein davon, warum bestimmte Dinge so und nicht wie gewünscht laufen, allein schon dieses Bewusstsein, nimmt etwas fort von der persönlichen Belastung, und es ist eine gute Ausgangsbasis für weitere Schritte des Widerstandes. C. W. Müller (2006) betont z.B. die Notwendigkeit eines kritischen Bewusstseins bei den PraktikerInnen, wenn diese versuchen wollen, die ihnen zugemuteten Anforderungen nicht einfach widerstandslos auszuhalten und hinzunehmen: Nur so würden sie in der Lage sein, ihre Situation in der Praxis kritisch zu durchschauen und die dort erfahrbaren Probleme zuzuordnen. Für die kritischen WissenschaftlerInnen der Disziplin Soziale Arbeit wiederum bedeutet Reflexivität unter anderem, dass sie sich verstärkt in Theorie und Forschung mit neosozialen oder neosozial-kompatiblen Positionen und Interpretationsweisen Sozialer Arbeit – auch mit denen aus den eigenen Reihen – auseinandersetzen sollten.

 

2.4.2 Beharren auf sozialpädagogischen Positionen
Bei der folgenden Strategieebene geht es um den Schritt von der Kritik und Analyse hin zum offensiven Handeln.
Reflexivität ist zwar eine Voraussetzung für widerständiges Handeln, aber noch keine Garantie dafür. Kappeler und W.C. Müller (2006) stellen fest, dass ein kritisches Bewusstsein und eine affirmative Praxis in der Realität nämlich durchaus, auch innerhalb einer einzigen Person, „in Frieden miteinander leben können“. Die oben angeführten Bewältigungsstrategien für die neuen Herausforderungen machen dies offenkundig. Zum Handeln gehört offensichtlich mehr als nur Reflexivität. In erster Linie ist der Entschluss erforderlich, sich mit den „Herrschenden“ anzulegen, also offen eine andere Position zu beziehen und für sie zu kämpfen.
Der alltägliche Widerstand im Kleinen gegen fachfremde und fachlich unzumutbare Anforderungen und Rahmenbedingungen in der Praxis der Sozialen Arbeit ist von größter Wichtigkeit. Es geht schlicht darum, dass jeder Sozialarbeitende vor Ort und jede WissenschaftlerIn an ihrem Schreibtisch die Kernaussagen und die ethischen und wissenschaftlichen Orientierungen der Sozialen Arbeit bewusst, gezielt und offensiv thematisiert, herausfordert und sich den Tendenzen, sie zu unterlaufen und zu konterkarieren unmissverständlich und selbstbewusst entgegenstellt.
Von „störrischer Professionalität“ wird gesprochen (vgl. z.B. Galuske 2002, Walther 2005), wenn es darum geht, bestimmte neosoziale Entwicklungen in der Sozialen Praxis offen zu unterlaufen und zu stören. Mit dieser Strategie soll versucht werden, im Rahmen der Profession und mit den Mitteln der Profession offenen Widerstand zu leisten, nicht im Sinne eines Rückzuges oder einer Verweigerung, sondern im Sinne einer aktiven Praxis, die den Konflikten an den Grenzlinien zwischen Fachlichkeit und neoliberaler Herausforderung nicht aus dem Wege geht.
Gerade auch für PraktikerInnen ist diese Strategie äußerst hilfreich und durchaus alltäglich praktizierbar: Sie setzt allerdings zunächst voraus, dass die PraktikerInnen ein angemessenes Selbstbewusstsein als Sozialarbeitende und eine gute Kenntnis ihrer Profession entwickelt haben.
Die Strategie des alltäglichen und konkreten Widerstandes setzt bei PraktikerInnen allerdings nicht nur viel Selbstbewusstsein und professionelle Sicherheit voraus, sondern natürlich auch die Kraft und Bereitschaft, Konflikte durch das „störrische Beharren“ hervorzurufen und durchzustehen.
Auch der Kampf gegen prekäre Arbeitsbedingungen ist ein Beispiel für das Beharren auf fachlichen Positionen und Bedingungen qualifizierter Sozialer Arbeit. Er ist nicht nur zum Schutze der Sozialarbeitenden selber notwendig, sondern genauso ein wichtiger Schritt im Widerstand gegen die schleichende Deprofessionalisierung, Entkernung und Banalisierung unserer Profession (vgl. z.B. Staub-Bernasconi 2007). Hierher gehören politische Forderungen nach einer angemessenen Bezahlung für fachliche Qualität und Qualifikation und ebenso nach der Bereitstellung der notwendigen Rahmenbedingungen, die Soziale Arbeit braucht, um nachhaltig wirken zu können (z.B. Kontinuität, hinreichend Zeit).
2.3.3 Das politische Mandat der Sozialen Arbeit wieder aufnehmen
Wenn von einer „Politisierung“ der Sozialen Arbeit die Rede sein soll, so ist das in dem Sinne zu verstehen, dass es darum geht, wieder bewusst das politische Mandat aufzugreifen und eine parteiliche Haltung für die KlientInnen unserer Profession einzunehmen.
Soziale Arbeit, die wie beschrieben, gar nicht unpolitisch sein kann, wäre in dem hier gemeinten Sinne dann „politisiert“, wenn sie sich dieser Tatsache bewusst geworden ist und sich dann gezielt dafür entscheidet, im Sinne ihrer ethischen Grundsätze und im Zweifel auch gegen systemische Forderungen nach Anpassung und Unterordnung unter unzumutbare Anforderungen und Angebote zu wirken.
Die Einsicht in die unabweisbare politische Rolle der Sozialen Arbeit und der Wille, diese Rolle im Interesse der Menschen – auch derjenigen, die die Gesellschaft ausgrenzt – wahrzunehmen, sind Voraussetzungen für ein tatsächlich politisches Handeln der Sozialen Arbeit. In diesem Zuge kommt es zu einer Reformulierung politischer Handlungsstrategien und politischer Ziele Sozialer Arbeit.
Parteilichkeit als politische Haltung und Handlung wird als erkennbare und konsequente Parteinahme für die Teile der Gesellschaft verstanden, die klassisch Klientel der Sozialen Arbeit sind, die von der Gesellschaft schon immer ausgegrenzt wurden und die, die im neoliberalen Staat einer verschärften Ausgrenzung und dazu auch noch einer Moralisierung und Entwertung ausgesetzt werden (vgl. z. B. Galuske 2008, S. 25).
Die streitbare Aufklärung der Gesellschaft über die Ideologie des Neoliberalen und ihre impliziten wissenschaftlich inakzeptablen theoretischen Schlussfolgerungen sind eine weitere politische Aufgabe einer kritischen Sozialen Arbeit.
Der Notwendigkeit, sich in unserer Gesellschaft für die Rechte Sozial Benachteiligter einzusetzen, macht die Soziale Arbeit zu einer gesellschaftlichen Kraft, die explizit und offensiv für soziale Gerechtigkeit und Menschenrechte eintritt. Es gibt in unserer Gesellschaft kaum noch glaubwürdige Gruppen oder Instanzen, die für ein humanistisches Menschenbild und für eine verantwortliche Gesellschaft stehen. Mit ihrer lebensweltlichen Konzeption aber tritt Soziale Arbeit genau dafür ein. Ihre Bedrohung durch das neosoziale Modell ist gleichzeitig eine Bedrohung der Gesellschaft und ihrer humanistischen Wurzeln und Verpflichtungen. Somit wäre ein Kampf für die Erhaltung der Profession gleichzeitig ein Kampf um eine menschliche Gesellschaft.

 

2.4 Initiierung und Selbstinitiierung politischer Lernprozesse in der Praxis

Solche Handlungen und politischen Strategien sind nicht von heute auf morgen einfach da und verfügbar. Zunächst müssen die Voraussetzungen dafür geschaffen werden bzw. muss die Profession selber dafür sorgen, dass sie entstehen.

Die Aufforderung, die alltäglichen Zumutungen und den beschriebenen Veränderungsdruck aufzuhalten, sie in die Grenzen zu weisen, sich zur Wehr zu setzen, richtet sich zunächst an die Praxis. Schließlich muss befürchtet werden, dass deren widerstandlose Indienstnahme vor allem anderen das neoliberale Projekt besiegeln könnte.
Voraussetzungen für eine (Re-)Politisierung und (Re-)Solidarisierung der sozialarbeitenden Zunft ist aus meiner Sicht die weitere und konsequentere Verbreitung folgender Erkenntnisse und Haltungen bei WissenschaftlerInnen und PraktikerInnen:

  • Die Erkenntnis, dass die gegenwärtigen Probleme der Klientel sowie die der Profession von Menschen gemacht sind und keine unabwendbaren Naturgewalten darstellen,
  • die Bereitschaft, sich zu wehren, für die eigenen Interessen und Rechte einzusetzen und sich nicht anzupassen, sich nicht treiben zu lassen, sei es aus Pragmatismus, aus Faulheit oder aus Angst,
  • die Bereitschaft und Fähigkeit, sich mit Menschen gleicher Interessenlage und gleicher Gesinnung zusammen zu tun und gemeinsam gegen die bestehenden Missstände anzugehen.

All diese Voraussetzungen sind heute offenbar weitgehend verschüttet. Es gilt, sie neu zu schaffen und zu vermitteln und zu erarbeiten.

Auf Hochschulen, Wissenschaft, Berufsverband und Gewerkschaften käme die Aufgabe zu, diese Prozesse zu fördern und zu unterstützen. Letztlich aber müssen diese Lernschritte von den PraktikerInnen in ihrer alltäglichen Arbeit und in der Reflexion ihrer Arbeit initiiert und neu vollzogen werden.

 

2.5 Wiederentdeckung der Kultur des solidarischen Handelns
Natürlich ist weder eine „störrische“ Soziale Arbeit noch sind alternativem Projekte weder in der Wissenschaft und schon gar nicht in der Praxis beliebt und es wird sicher auch versucht, sie abzuwehren oder gar auszuschalten. Die ernstzunehmende Sorge vieler PraktikerInnen, bei Widerstand ihre Stelle zu verlieren, die direkten Folgen widerständigen Verhaltens und offener Kritik auch bei Leitungspersönlichkeiten machen deutlich, dass Widerstand keine einfache Sache ist und auch für den Einzelnen gefährlich werden kann (vgl. auch Staub-Bernasconi 2007b, S.37).
Alternative Projekte, politische Aktionen, Auseinandersetzungen kann man nicht individuell durchstehen. Und sie werden ihre Wirkung nur dann entfalten, wenn sie von vielen getragen werden.
2.5.1 Von der Notwendigkeit solidarischen Handelns

Es ist deshalb notwendig, dass sich kritische SozialpädagogInnen miteinander vernetzen, sich organisieren, um so gemeinsam Forderungen zu stellen und Widerstand zu leisten. Verbindungen und gemeinsame Aktionen von Praxis und Wissenschaft bieten dabei sich ebenfalls an. Es geht um jede Form fachlicher, fachpolitischer und politischer Kommunikation und Organisation auf einer vom Anstellungsträger unabhängiger Basis. Auch die Möglichkeiten von Austausch und Organisation im Rahmen des Internets sind hier nutzbar. Wichtig wäre auch die Zusammenarbeit mit Betriebsräten, soweit sie die Interessen der MitarbeiterInnen auch wirklich vertreten oder auch die Gründung von Facharbeitskreisen.
Die Organisation möglichst vieler PraktikerInnen in Gewerkschaften oder Berufsverbänden wäre eine weitere notwendige Voraussetzung, um den „störrischen Widerstand“ zu organisieren, durchzuhalten und weiter zu treiben. Die Berufsverbände, z.B. der DBSH (Deutscher Berufsverband für Soziale Arbeit e.V.) halten in ihren Konzepten und Verlautbarungen die sozialpädagogischen Handlungsmaximen sehr wohl hoch. Ganz offenbar sind sie den neosozialen Versprechungen nicht auf den Leim gegangen sind. Neosoziale Protagonisten bemerken dazu bedauernd, dass von Seiten der Berufsverbände keine Bereitschaft zu spüren sei, sich den neuen Errungenschaften des aktivierenden Staates zu öffnen (vgl. z.B. Erath 2006, S. 107). Die internationalen SozialarbeiterInnen-Vereinigungen (z.B. IFSW, international federation of social workers) stellen ebenfalls eine hervorragende Möglichkeit für die Soziale Arbeit dar, sich der politischen Aufgaben ihrer Profession zu versichern und gleichzeitig nach außen als politische Kraft auftreten zu können.
Dass die Wirklichkeit der Sozialen Arbeit anders aussieht, ist kein Geheimnis. Es stellt sich die Frage, was unsere Profession, was auch ihre kritischen Mitglieder daran hindert, sich gemeinsam zu wehren.

 

2.5.2 Hindernisse auf dem Weg zum solidarischen Widerstand

Die Mitglieder der Profession haben zum einen große Probleme damit, sich als eine Gruppe mit gemeinsamen Interessen und Zielen zu verstehen und entsprechend eine berufsverbandliche Organisierung anzustreben.
Es gibt eine Menge unterschiedlicher Fachverbände, in denen durchaus viele KollegInnen organisiert sind. Aber Fachverbände stellen als Kristallisationsmoment der gemeinsamen Arbeit und der Organisation in der Regel bestimmte fachliche Themen oder auch Arbeitsfelder in den Fokus. So vernetzen sich Sozialarbeitende z.B. als Erziehungsbeistände, als Straßensozialarbeiter, als MitarbeiterInnen im Behindertenbereich etc. Die Tatsache, dass man der Profession Soziale Arbeit angehört, ist eher selten ein Motiv, sich zusammenzuschließen. Es besteht so gut wie keine gemeinsame Identität als Sozialarbeitende, kein Bewusstsein, einer gemeinsamen Profession anzugehören.
Ein wichtiger Hintergrund für die mangelnde Solidarität und Organisationsbereitschaft innerhalb der Berufsgruppe ist die Tatsache, dass sich die Einheitlichkeit, das Gemeinsame, das Verbindende in der Sozialen Arbeit immer mehr aufzulösen scheint in der unübersichtlichen Fülle verschiedenster Arbeitsfelder, Organisationsformen, Produktionsformen, Anstellungsträger usf. Ein gemeinsames Verständnis Sozialer Arbeit, das als Grundlage für eine mögliche Berufsidentität dienen kann, ist für viele nicht mehr nachvollziehbar und greifbar.

Über die berufsverbandliche Frage der Organisiertheit hinaus sieht es mit der gewerkschaftlichen Orientierung der Profession nicht besser aus. Es ist eine bekannte wenn auch angesichts der konkreten, so oft prekären Berufssituationen schwer zu begreifende Tatsache, dass Sozialarbeitende heute weniger denn je eine gewerkschaftliche Organisierung für sich in Betracht ziehen. Der durchschnittliche Organisationsgrad der Sozialarbeitenden in Deutschland bei Gewerkschaften (in Frage kommen ver.di und die GEW) und Berufsverbänden überschreitet nicht einmal die 10% Marke. C.W. Müller (2006, S. 143) mahnt die gewerkschaftlichen Organisiertheit von Sozialarbeitenden an. Beim gegenwärtigen geringen Organisationsgrad von Sozialarbeitenden darf man sich nicht wundern, dass von der Seite der Gewerkschaften und des Berufsverbandes nur begrenzte Aktualität und Schlagkraft in Sachen Soziale Arbeit zu beobachten ist. Je mehr Sozialarbeitende sich dort organisieren, desto mehr können solche Organisationen für unsere Berufsgruppe faktisch leisten.
Hintergründe für die geringe Bereitschaft, sich in Gewerkschaften und auch im Berufsverband zu organisieren, sind deshalb m. E. auch das geringe Wissen über und die fehlenden Erfahrungen mit politischen Organisationen. Es besteht kaum eine Vorstellung davon, welche Macht und Schlagkraft in der Größe einer Gruppe liegen können.

Und offenbar gibt es auch wenig Erfahrung damit, dass gemeinsamer Kampf Spaß macht und Mut und dass er das beste Mittel ist gegen Depression, Resignation und Burnout.

2.5.3Einschätzung der gegenwärtigen Situation

Auch wenn sich hier und da also Widerstand regt, auch wenn es durchaus politisch aktive und kritische VertreterInnen von Profession und Disziplin gibt, ist es offenbar bisher nicht gelungen, dass sich der Widerstand in der Profession vernetzt. Genau so wenig haben wir es bisher geschafft, dass unsere Probleme und unsere Sicht der Problemlage an die Öffentlichkeit dringen.

Trotzdem, es gibt innerhalb unserer Profession durchaus und zunehmend auch Ansätze einer explizit politischen Organisation. Immerhin gibt es seit 2005 einen bundesweiten Arbeitskreis „Kritische Soziale Arbeit“. Es gibt die schon die seit 1925 bestehende und einer gesellschaftskritischen Sozialen Arbeit verpflichtete „Gilde Soziale Arbeit“. Und es wird vor Ort an den Hochschulen und in den Städten und Landkreisen sicher auch noch andere, oft wohl informelle Gruppen geben, die sich die (Re-) Politisierung der Sozialen Arbeit auf die Fahne geschrieben haben.

Das Zitat einer Kollegin, die sich seit zwei Jahren aktiv gemeinsam mit anderen politisch engagiert, spricht dafür, dass sie verstanden hat, worum es gehen könnte: „Ich weiß, dass die Organisation nicht von heute auf morgen meine Situation verändern kann. Aber wenn man jetzt nicht anfängt, was dagegen zu tun, wird es doch immer schlimmer. Und mir persönlich geht es besser, seit dem ich weiß, ich tue was, ich lasse mir nicht mehr alles gefallen. Und ich weiß jetzt auch, dass ich dabei nicht alleine bin. Und wenn wir noch mehr werden, dann werden wir auch irgendwann Veränderungen erreichen!“