Zur Begründung einer Repolitisierung des Sozialen (FH Jena 2011)


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Zur Begründung einer Repolitisierung des Sozialen
Mechthild Seithe

Vortrag im Rahmen der Ringvorlesung des Fachbereiches Sozialwesen an der Fachhochschule Jena :„Das Politische im Sozialen“

gehalten am 12.1.2011

Die folgenden Überlegungen werden vor allem meine Unruhe darüber zum Ausdruck bringen, dass heutzutage politische Apathie in der Sozialen Arbeit häufiger anzutreffen ist als politisches Bewusstsein und Engagement für eine Gegenwehr.

 

Zunächst ein paar Beispiele aus der aktuellen Praxis der Sozialen Arbeit:

 ·         Der Schulsozialarbeiter Klein hat eine 30 Wochenstunden-Stelle. Das Projekt ist auf 3 Jahre befristet, aber jedes Jahr muss er wieder neu beantragt und durchgesetzt werden. Und nun wird ihm angetragen, dass er im nächsten Jahr mit seinen 30 Stunden nicht mehr 2 Schulen wie bisher, sondern 6 Schulen des Stadtgebietes zu betreuen habe. Aber was passiert? Er macht mit: er passt sich an die neue Forderung an, er versucht, das Beste daraus machen. Er duckt sich weg, obwohl er natürlich genau weiß, dass auf diese Weise so gut wie nichts mehr aus seiner Arbeit herauskommen kann. Und er ist froh, dass seine Stelle überhaupt verlängert wurde….

 ·         Der Straßensozialarbeiter Pierre H. erhält den Auftrag, bis zum Beginn des Weihnachtsmarktes dafür zu sorgen, dass die Jugendlichen, die sonst immer auf dem Platz herumstehen, aus dem öffentlichen Blickfeld verschwinden. Und Pierre knirscht mit den Zähnen aber er versucht, den Jungen und Mädchen klar zu machen, dass sie vorerst unerwünscht sind.

 ·         Die Sozialpädagogin Judith O. muss ab 1.1.2011 bis auf weiters neben ihrer bisherigen Gruppe noch eine Gruppe der behinderten Erwachsenen ihres Heimes mitbetreuen. Mehr Personal ist nicht drin, sonst droht der Einrichtung das aus. Judith O. fühlt sich verantwortlich und übernimmt die eigentlich unmögliche Aufgabe. Und obwohl sie sieht, dass nun für die Betroffenen nur noch das übliche „sauber und satt-Modell“ möglich ist, meint sie, dass ihr gar nichts anderes übrig bleibe, als sich zu fügen.

 

·         Eine langjährige Berufsberaterin wird von ihrer neuen, jungen Chefin gerüffelt, ihre Beratungen seinen nicht effektiv. Auf die erstaunte Nachfrage der seit 20 Jahren geschulten und erfahrenen SozialpädagogIn wird ihr mitgeteilt, sie schaffe es nicht in jedem Fall, die Jugendlichen dazu zu bringen, sich für einen bestimmten Kurs anzumelden. Auf den Einwand hin, dieser Kurs hätte für den Jugendlichen A oder B keinen Sinn gemacht, da ginge es um ganz andere Probleme und da müsse sie ganz andere Wege gehen, wird ihr geantwortet, das hätte sie nicht zu bestimmen und es gehe darum, dass bis Jahresende der Kurs voll und damit die Arbeit der Berufsberatung als erfolgreich dokumentiert und abgerechnet werden könnte.
Was kann und soll die Beraterin tun. Sie wendet sich an den Personalrat. Der rät ihr, ihre Kolleginnen hinter sich zu bringen. Die stimmen ihr in der Sache alle zu, sind aber nicht bereit, dafür den Mund aufzumachen und hoffen, dass sie nicht als nächstes zitiert werden.

 ·         Die Jugendberufshelferin Frau Schönfeld erhält von der ARGE den Auftrag, einen Weiterbildungskurs zu besetzen und Jugendliche aus ihrer Betreuung dafür vorzuschlagen. Auflage: diejenigen, die den Kurs mit der höchsten Wahrscheinlichkeit erfolgreich absolvieren können, sollen die Plätze bekommen, nach dem bekannten Motto: „Man investiert immer in die Variante, die den größten Erfolg verspricht! Da es nur fünf Plätze zu besetzen gilt, bleiben 11 Jugendliche außen vor. Für sie lohnt es nicht. Und was passiert: Frau Schönefeld ärgert sich, aber was kann sie denn machen gegen solche Vorstellungen und Anweisungen. Sie muss zwei Kinder ernähren.

 Solche Beispiele aus dem Alltag der gegenwärtigen Sozialen Arbeit könnte man endlos fortsetzen (vgl. Seithe 2010).

 Ich gehe von folgender Einschätzung aus:

Aus Sicht einer Sozialen Arbeit, die als wissenschaftlich begründete Profession weiß, dass sie und was sie bewirken kann und welche Rahmenbedingungen sie dafür braucht, und aus Sicht einer Sozialen Arbeit, die ethisch auf soziale Gerechtigkeit und Menschenwürde orientiert ist, ist diese aktuelle Entwicklung in unserer Profession inakzeptabel.

Faktisch aber wird sie mehrheitlich ohne Gegenwehr ertragen.

Die einen sagen:

Soziale Arbeit ist heute ja so unpolitisch!

Andere wiederum meinen:

Soziale Arbeit muss wieder politisch werden, sich (re-) politisieren!

Ich gehe zunächst erst einmal von einer ganz anderen These aus:

Soziale Arbeit ist immer politisch, so oder so. Und ich versuche zunächst – auch an Hand von Beispielen -, deutlich zu machen, was diese letzte These bedeutet.

 Danach erst werde ich – mit Blick auf die These von der heute unpolitischen Sozialen Arbeit – die Situation der gegenwärtigen Sozialen Arbeit analysieren und die Reaktion unserer Profession auf diese Entwicklungen unter die Lupe nehmen.

Im dritten Teil geht es mir um die Fragen:

Wie könnte eine repolitisierte Soziale Arbeit heute aussehen, an welchen Widersprüchen müsste sie sich reiben, welche Ebenen politischer Sozialer Arbeit sind zu unterscheiden?

Im letzten Teil schließlich geht es mir um die Frage der nächsten Schritte und darum, welche Akteure zu identifizieren sind und welche Aufgaben Sie für eine Repolitisierung der Sozialen Arbeit übernehmen könnten.


1. Das Politische in der Sozialen Arbeit

 Zunächst also zur These: Soziale Arbeit ist immer politisch, so oder so.

 Warum Soziale Arbeit eine politische Instanz ist, und warum sie in unterschiedlicher Weise politisch wirken kann und politisch wirkt, kann ich im Rahmen meines Vortrages nicht ausführlich behandeln oder herleiten. Ich gehe davon aus, dass andere Redner im Verlauf der Ringvorlesung sich mit diesen Fragen ausführlich befassen werden.

Hier also nur ein paar knappe Hinweise zum Hintergrund der grundsätzlichen politischen Wirkung Sozialer Arbeit und zu ihrer möglichen politischen Mission.

Entstanden ist die Soziale Arbeit bekanntlich mit den Anfängen bzw. in Verlaufe der Anfänge der kapitalistischen Industriegesellschaft. Diese neue gesellschaftliche Entwicklung brachte massives Elend für einen großen Teil der Bevölkerung mit sich und diese, wie sie genannt wurde, „Soziale Frage“ wurde immer drängender. Es gab zwei verschiedene Lösungsversuche:

 ·         Große Teile der Arbeiterbewegung versuchten, eine sozialistische Überwindung des kapitalistischen Systems zu erkämpfen und damit auch die soziale Frage obsolet zu machen.

·         Daneben gab es als Antwort auf diese sozialen Probleme den Versuch, die „Soziale Frage“ durch soziale Reformen innerhalb des bestehenden kapitalistischen Systems zu lösen.
Und in diesem Kontext entwickelte sich im Laufe der Zeit der spätere Sozialstaat und mit ihm die Soziale Arbeit.

 

Es entstand eine komplizierte doppelte Aufgabenstruktur für die Soziale Arbeit:

 ·         Sie setzt zum einen als ausführendes Organ der herrschenden Politik, als Teil der praktizierten Sozialpolitik einer Gesellschaft, also im Rahmen ihres systemischen Mandates, die Vorstellungen und Aufträge um, die ihr sozialpolitisch gesetzt werden.

·         Beauftragt vom System selber mit der Linderung der „Sozialen Frage“, d.h. mit dem Ausgleich und dem Erträglichmachen der Verwerfungen der kapitalistischen Gesellschaft für den Teil der Menschen, der am unteren Sektor des gesellschaftlichen Wohlstandes angekommen ist, ist sie dann ganz direkt und unmittelbar konfrontiert mit den Problemlagen, die dieses System erzeugt, z.B.

·         der zunehmenden und massiven sozialen Ungleichheit

·         mit Phänomenen wie Armut, Arbeitslosigkeit, gesellschaftliche Ausgrenzung,

·         mit sozialer Benachteiligung,

·         mit psychologischen, und sozialen Störungen und Schieflagen, die Folge gesellschaftlicher Ungleichverteilung, gesellschaftlicher Ausgrenzung und Vernachlässigung und struktureller Gewalt sind.

Soziale Arbeit erfährt in ihrer Arbeit sehr konkret und im ganzheitlichen, lebensweltlichen Zusammenhang, wie es zu den Problemen kommt, sie erfährt also unmittelbar die gesellschaftlichen Hintergründe solcher Problemlagen.
Da es ihre Aufgabe ist, die Menschen in diesem gesellschaftlichen System bei der Lebensbewältigung zu unterstützen, muss es notwendig – letztlich auch aus Sicht des Systems -auch ihr Interesse sein, die sozialen Problemlagen, die einer gelungenen Lebensbewältigung ihrer Klientel im Wege stehen, aufzuzeigen, zu verändern bzw. deren Veränderung von der Gesellschaft zu fordern.

·         Hinzu kommt, dass die Soziale Arbeit sich als Profession an den Erkenntnissen und Grundlagen der Human-und Gesellschaftswissenschaften orientiert. Als in diesem Sinne reflexive Kraft ist sie im Stande, trotz ihrer Eingebundenheit in die Sozialpolitik des Systems, die gegenwärtigen politischen Konzepte und ihre Folgen für die Menschen und die eigene Profession zu reflektieren. Deshalb kann sie sehr wohl als Kritikerin und Mahnerin gegenüber der aktuellen Politik und den gesellschaftlichen Verhältnisse auftreten. Und somit, so bemerkte ja schon Mollenhauer, ist sie gleichzeitig und trotz ihres systemischen Mandates ebenso auch die geborene Kritikerin des Kapitalismus.

 

Was sie aber nicht kann, ist, sich außerhalb der politischen Dimension zu bewegen.

 

Bei den im Folgenden vorgestellten Beispielen lässt sich nachvollziehen, wie Soziale Arbeit – je nach politischer Lage und je nach politischem Selbstverständnis sehr unterschiedlich – aber immer politisch wirkt:

 1. Beispiel:

Heimkampagne der 68er Jahre

U. a. mit der Kritik an den damaligen Heimen fing die politisch bewegte Zeit der 68er Jahre an.

Vor den 1968er Jahren hatte die Jugendhilfe diese Zustände nicht nur geduldet sondern selber produziert. C.W. Müller merkt so schön an, dass es in diesen Zeiten reichte, über ein Leutnantspatent zu verfügen, um als Heimerzieher angestellt zu werden.

Soziale Arbeit war bis dato – von ihren Anfängen über die Nazizeit bis Ende der 60ger Jahre eine Praxis gewesen, die bestenfalls fürsorgerisch, oft autoritär und patriarchalisch und im Faschismus dann menschenverachtend und selektierend, aber eher selten bewusst partizipativ mit ihrer Klientel umgegangen war. Sie unterstützte und praktizierte ein autoritäres Erziehungsverständnis z.B. in ihren Heimen und zum Teil, von 1933 bis 1945, rassistische politische Vorstellungen.

Und nun auf einmal, 1668, mit der beginnenden Studentenrevolte, engagierten sich die Studierenden für das Schicksal entlaufener Heimzöglinge, prangerten öffentlich die Zustände in den damaligen Kinderheimen an und setzten sich für eine veränderte, menschenwürdige und pädagogisch qualifizierte Jugendhilfe ein.

 Soziale Arbeit aber war also in beiden Phasen eine politisch wirksame Kraft – mit unterschiedlichen Positionen, mit unterschiedlichen Haltungen, aber immer politisch wirksam:

·         entweder als Unterstützerin einer autoritären Erziehungsvorstellung oder aber

·         mit den 68ern, als Kritikerin eben dieser, als Einklägerin der Menschenrechte in der Sozialen Arbeit und als Prophetin einer lebensweltorientierten Jugendhilfe. ….

Heute, 42 Jahre nach der Heimkampagne ist die Gesellschaft auf der einen Seite endlich bereit, die psychischen Folgen der damaligen Heimpraxis wahrzunehmen und zu kritisieren!

Gleichzeitig werden geschlossene Heime wieder salonfähig und die Renaissance einer selektiven Sozialen Arbeit und autoritärer Methoden ist in vollem Gange – aber dazu später.

 

2. Beispiel:

Obdachlosensiedlung Mühltal in Wiesbaden

Zunächst drei Momentaufnahmen aus der Geschichte dieser Obdachlosensiedlung:

·         Schon Ende des 19. Jahrhunderts standen Obdachlosenbaracken neben der städtischen Kläranlage, primitive Hütten für Obdachlose. Sie sollten aus der vom Kaiser als Kurstadt erkorenen, reichen, prachtvollen Stadt möglichst ausgegrenzt werden und unsichtbar bleiben.

·         1938 wird die Einweisungspolitik weiter verschärft, man versucht jetzt aber, gezielt die erbgesunden, wertvollen kinderreichen Familien davor zu schützen.

·         1966 entschließt sich der Stadtrat zur Sanierung der Holzbaracken mit Kalksandlochsteinen ohne Innenputz, obwohl die staatliche Treuhandstelle für Wohnungsbau aus technischen, hygienischen und gesundheitlichen Gründen dringend von dieser Primitivbauweise abgeraten hatte. Aber der Stadtrat will 1966 seine obdachlosen Familien nicht verwöhnen.

 1973 noch nannte man im Jugendamt diese Siedlung das „Tal der langen Messer.“ Es waren dort doppelt so viele Menschen untergebracht, wie eigentlich vorgesehen und möglich war. Die Familien lebten in völliger Armut, es herrschte Gewalt. Vernachlässigung war an der Tagesordnung. Von den dort Untergebrachten konnte sich über Jahrzehnte hinweg niemand aus dem Milieu herausarbeiten – hierfür ein Beispiel als Indiz: sämtliche Kinder aus der Obdachlosensiedlung Mühltal wurden in den Jahren um 1970 herum sofort (ohne Überprüfung) direkt in die nahe gelegene Sonderschule eingeschult.

Sozialarbeiter gingen noch 1973 nur mit Polizeischutz in die Siedlung Mühltal. Sie wurden als Handlanger einer Sozialpolitik erlebt, die sich gegen die Menschen in der Siedlung richtete und sie verhielten sich oft auch nicht anders. Und wer sich dennoch für diese Menschen einsetzen wollte, stand auf ziemlich verlorenem Posten.

Dann starb ein Kind beim Spielen in der unmittelbar daneben liegenden Klaranlage. Die Öffentlichkeit wurde wach und die Stadtväter waren sehr gerührt.

 Wir schrieben das Jahr 1974, es war 6 Jahre nach der inneren Reform der Sozialen Arbeit in Folge der 68er Bewegung. Im Mühltal engagierte sich in direkter Folge dieses Todesfalles ein neuer, sozialpädagogischer Projektverbund. Träger waren gemeinsam die Caritas, die Diakonie und die Stadt selber. Insgesamt arbeitete dieser Verbund 18 Jahre lang intensiv in dieser Obdachlosensiedlung.

Im Mühltal entstand im Verlaufe der nächsten 1, 2 Jahre eine Kindertagesstätte, ein Hort, ein Mittagstisch. Die Sozialarbeiter vom ASD hielten offene Sprechstunde, waren täglich präsent und machten jede Menge niedrig schwellige Angebote, die zunehmend angenommen wurden. Aber nicht nur die SozialarbeiterInnen waren aktiv und setzten sich solidarisch für ihre Klientel ein, die Bewohner selber lernten, sich zu wehren und für ihre Rechte zu kämpfen! Es entwickelte sich z.B. ein selbst verwaltetes Bewohnerparlament, bei dem der betreuende Sozialarbeiter nur beratend teilnehmen durfte. Es fanden im Verlaufe der Zeit 11 Sit-Ins in Stadtratsversammlungen statt, bei denen die Mütter der Siedlung ihren Forderungen nach menschenwürdigen Lebensbedingungen Nachdruck verliehen.

Einwohner renovierten ihre Häuser und wurden dafür richtig und nach Tarif entlohnt, sie erhielten Mietverträge, es entstand eine Künstlergruppe, die in der ganzen Stadt ihre Bilder ausstellte.

 muehltalweb.jpg

 Dieses Bild wurde von der Künstlergruppe gemalt und stellt auf der linken Seite die Situation in der Siedlung vor Beginn des Projektes dar. Auf der rechten Seite zeigt sich das Mühltal als das, was es nach 20 Jahren Projektarbeit war und heute noch ist: Eine kleine, schmucke, fast idyllische Siedlung mit stolzen Bewohnern. Ein kleines Indiz für die kolossale Veränderung der Lebensverhältnisse: 1992, 18 Jahre später, als das Projekt beendet wurde, besuchte nicht eins der Kinder aus dem Mühltal mehr eine Sonderschule….

 Zusammengefasst lässt sich sagen:

Soziale Arbeit hat das Schicksal der Bewohner im Mühltal seit ihren eigenen Anfängen immer irgendwie begleitet. Lange Zeit konnte sie nicht viel für die Bewohner tun, weil die Politik es nicht zuließ.

Zustande gekommen ist und so nachhaltig umgesetzt wurde dieses erfreuliche und erfolgreiche Projekt auch im Jahre 1974 nicht in erster Linie durch die Unterstützung gut meinender und erschrockener Stadtväter als vielmehr und hauptsächlich durch engagierte Sozialarbeiter. In der Zeit nach den 68ern wurde das parteiliche Engagement der Sozialen Arbeit hier z.B. für die obdachlosen Familien von der Politik und der Gesellschaft allerdings mehrheitlich akzeptiert und unterstützt. Sie bekam sie die Chance, zu zeigen, was sie vermag, wenn man ihr die notwendigen Bedingungen gibt.

Heute freilich gibt es in dieser Stadt wieder hinreichend Probleme mit obdachlosen und anders sozial ausgegrenzten Familien – diesmal nicht in der Siedlung Mühltal, aber an anderen Orten des Stadtgebietes. Sie leben in sozialen Brennpunkten und werden im Wesentlichen verwaltet, auch ruhig gehalten, und nicht selten auch durch Druck diszipliniert. Für sie stehen dann die mildtätigen Projekte einer Gesellschaft zur Verfügung, die sich auf diese Weise von ihrer Mitschuld an einer sozialpolitischen Entwicklung loskauft, die Menschen aussondert, fallen lässt und ihnen für ihr Schicksal ganz allein die Schuld zuschiebt. Und eine Soziale Arbeit, die versucht, solchen Tendenzen entschieden gegenzusteuern, hat heute wieder einmal einen ziemlich schlechte Stand.

 Fazit:

 Ob sie sich also anpasst oder ob sie sich wehrt, ob sie sich als reines Ausführungsorgan des Systems begreift oder ob sie versucht, sich aus ihrer Profession heraus für Menschen einzusetzen und sich gegen unzureichende Bedingungen für die Ausübung ihrer Kunst zu wehren, soziale Arbeit ist immer politisch, so oder so.

·         Auf der einen Seite sieht man, dass Soziale Arbeit immer eng mit der herrschenden Politik verbunden ist, dass sie sie transportiert und dass sie umsetzt.

·         Je nach Interessenlage der herrschenden Kräfte wirkt sie aber auch in dieser Funktion möglicherweise durchaus human.

·         Gleichzeitig wird auch deutlich, dass Soziale Arbeit selber eine treibende Kraft sein kann, menschenwürdigere sozialpolitische Perspektiven in der Gesellschaft zu eröffnen und zu fördern.

·         Bei einer nicht an den Interessen der Menschen bzw. aller Menschen ausgerichteten Politik allerdings und bei einem sozialpolitischen Verständnis, das Menschen aussondert und abstempelt, wird die Soziale Arbeit dazu angehalten, diese Vorstellungen mit umsetzen.

·         Wenn aber die Demokratie ins Schlingern gerät, hatte und hat Soziale Arbeit die Möglichkeit, sich einer Menschen verachtenden Politik zu verweigern oder eigene, möglicherweise auch gegen die offizielle Politik gerichtete Schritte zu unternehmen. Im Zweifel gerät sie damit freilich in einen ernsthaften Konflikt mit dem System.

 Natürlich ist es nicht immer einfach, sich gegen die herrschende Ideologie zu wehren und auf einer humanistischen Sozialen Arbeit zu bestehen.

Nicht ohne Grund weist z.B. C.W.Müller -mit Blick auf die Eingebundenheit der Sozial Arbeitenden im Faschismus in das bürokratische System der Auslese, Aussonderung und Ausmerze von Trägern „unwerten Lebens“ -darauf hin, wie wichtig es sei, „das historische Bewusstsein wach zu halten, dass auch Vertreter einer moralischen Profession nicht gefeit sind gegen die Versuchung, die moralischen Prinzipien dieser Profession gegen ein antihumanes Gegenbild einzutauschen“. C.W. Müller (2006, S. 19).

 Und so gilt auch heute:

Soziale Arbeit kann nicht neutral bleiben, kann sich nicht raushalten oder sagen, Politik gehe sie nichts an. Sie ist auch heute politisch, so oder so.


2. Analyse der neosozialen Sozialen Arbeit und die Reaktion unserer Profession

 Wenn aber unsere Profession heute tatsächlich mehrheitlich unkritisch, passiv, angepasst – also im Umgangssprachlichen Sinne unpolitisch -reagiert auf die modernen Veränderungen oder besser auf die neoliberalen und neosozialen Herausforderungen, die an sie gestellt werden, so stellt sich die Frage, wie es zu dieser Entwicklung kam und wieweit sie mit den neosozialen Herausforderungen und der veränderten sozialpolitischen Klima in unserer Gesellschaft zusammenhängen.

 Aus meiner Sicht sind es dieselben neoliberalen und neosozialen Vorstellungen und Zumutungen der gegenwärtigen sozialpolitischen und gesellschaftspolitischen Praxen

 ·         die auf der einen Seite Soziale Arbeit fachlich verändern und sie ihr selber entfremden und die auf der anderen Seite

·         die Sozialarbeitenden zu unpolitischem Verhalten verführen und einer weiteren und immer stärkeren Entpolitisierung der Sozialen Arbeit zuarbeiten.

 Hierfür habe ich im Folgenden eine Reihe kritischer Beobachtungen zu unterschiedlichen Aspekten Sozialer Arbeit zusammengestellt:

 1. Im Rahmen der Sparpolitik wird die Soziale Arbeit zurechtgestutzt und ihrer erforderlichen Arbeitsbedingungen beraubt.

Hierzu ließe sich sehr viel sagen. An dieser Stelle nur ein paar kurze Anmerkungen: Die Umgestaltung der Sozialenarbeit über Finanzierungs-und Managementmodelle aus der Wirtschaft macht sie zum Teil eines Sozialmarktes und stellt sie unter den betriebswirtschaftlichen Appell bedingungsloser Effizienz und permanenter Kostenersparnis.

 Und wie regiert die Profession?

Tatsächlich haben in der Praxis die Mitarbeiter die Effizienzschere längst selber im Kopf. Die vorgegebenen Bedingungen und Einengungen werden weithin praktiziert und nicht weiter hinterfragt. Die angeblich zu knappen Kassen werden als Schicksalsschlag hingenommen und an ihren Hintergründen, also der Ungleichverteilung von Reichtum in unserer Gesellschaft -wird nicht gerührt.

Eine Folge der Sparpolitik sind die sattsam bekannten prekären Arbeitsverhältnisse in der Sozialen Arbeit

 2. Die prekären Arbeitsbedingungen in der Sozialen Arbeit verhindern Kontinuität und Professionalität.

Überlastung und Ausnutzung der Sozialarbeitenden, die finanzielle Unterbewertung ihrer Arbeit, die ignoranten Vorstellungen von den Bedingungen, unter denen man angeblich Soziale Arbeit wirkungsvoll leisten kann, all das ärgert und frustriert die PraktikerInnen beträchtlich (vgl. z.B. Messmer, 2007).

 

Aber dennoch: die Praxis schweigt mehrheitlich.

Die MitarbeiterInnen leiden. Aber sie versuchen, nicht aufzufallen, um sich nicht auch noch zu gefährden.
Der Organisationsgrad der Sozialarbeitenden ist verschwindend. Im Berufsverband und bei den Gewerkschaften liegt er zwischen 1 und 6%. Es gibt viele Fachverbände, aber kaum jemand orientiert sich auf Interessensverbände. Alle fühlen sich mehr dem konkreten Feld, der Stelle, der Einrichtung dem Träger verbunden als ihrer Profession. Auf Tagungen wird über fachliche Interna diskutiert, aber die Bedingungen, unter denen Praxis stattfindet, werden dabei nicht selten ausgeklammert. Die Kritik der unzureichenden Rahmenbedingungen wird weggewischt mit dem Hinweis, dass es Sache der Sozialen Arbeit sei, trotzdem ihr Bestes zu geben. So sieht es schließlich so aus, als hinge es letztlich nur vom guten Willen und vom Einsatz der Praktikerinnen ab, ob sie erfolgreich sind.

SozialarbeiterInnen haben die neoliberale Vorstellung, dass jeder allein für sich, seine Leistungen und seine Erfolge oder Misserfolge verantwortlich ist, offenbar längst internalisiert.

Zu wenige sehen, dass es gemeinsame Interessen aller SozialarbeiterInnen gibt. Und viel zu wenige sehen, dass man gemeinsam durchaus die Möglichkeit hätte, sich erfolgreich zur Wehr zu setzen.

 

3. Allerdings: mehr denn je wird Soziale Arbeit von der herrschenden Politik für die aktuellen Interessen und Absichten der Sozialpolitik eingefordert

 Wohl bemerkt: Der allgemein übliche Sparkurs, der den Sozialbereich und die Soziale Arbeit insbesondere trifft, bedeutet keineswegs, dass die Soziale Arbeit etwa nicht erwünscht wäre, nicht gebraucht würde und nicht von der herrschenden Politik fest eingeplant würde.

In bestimmten Bereichen verzeichnen wir einen Boom sozialpädagogischer Herausforderungen: so im frühkindlichen Bereich, zunehmend auch als Helfer beim nicht gelingen wollenden Bildungsauftrag der Gesellschaft, als Verhaltenstrainer für Menschen, die lernen sollen, die von ihnen geforderte Eigenverantwortung und Selbstvermarktung zu meistern. Das Angebot steht: Die Sozialpädagogik könnte zu einer der „new authorities“ werden, die eine aktivierende Politik hervorbringt (vgl. Dahme/Wohlfahrt 2005 oder auch Kessl 2007). So sehr die neoliberale Kritik die professionelle, lebensweltorientierte Soziale Arbeit direkt oder indirekt abwertet oder als überholte „Kuschelpädagogik“ diskreditiert, sie reicht einer neuen, „aktivierenden“ Sozialen Arbeit die Hand.

Schönig spricht die Hoffnung aus, dass die Soziale Arbeit möglichst bald „ein abgeklärtes Verhältnis zur Aktivierungspolitik“ formulieren und eingehen wird (Schönig 2005, S. 36). Die Hoffnung des Autors ist nicht unbegründet: In der Realität ist das neosoziale Denken längst in den programmatischen Texten enthalten und dirigiert die Praxis.

 Und wie regiert die Profession auf dieses Angebot?

Viele sind froh oder gar dankbar dafür, dass die Politik die Soziale Arbeit entdeckt hat. Sie hoffen, dass der Sozialen Arbeit nun endlich die Wichtigkeit ihrer gesellschaftlichen Funktion zugesprochen werden wird, die man ihr so lange vorenthalten hat.

Was sie dabei einbüßt und wen sie dabei im Stich lassen muss, das wird kaum thematisiert.

 4. Heute entscheiden – im Rahmen der unternehmerischen Auffassung und Führung sozialer Einrichtungen – die nicht-fachlichen Vertreter von Verwaltung und Politik weitgehend über fachliche Fragen der praktizierten Sozialen Arbeit.

 Der aktivierende Staat diktiert heute schon vielen Feldern, was er von Sozialer Arbeit will und was er für Soziale Arbeit hält. Die Bereiche, in denen Soziale Arbeit gebraucht wird und die Aufgaben, die ihr dort zuwachsen, sind immer mehr einer bestimmten politischen Ausrichtung untergeordnet, nämlich den Vorstellungen und Erfordernissen von Ökonomie und aktivierendem Staat.

Die fachlichen und methodischen Vorgaben die der Sozialen Arbeit gemacht werden, entsprechen in vielen Aspekten nicht ihren fachlichen und ethischen Vorstellungen: Soziale Arbeit bräuchte zur Umsetzung ihrer Aufgaben im Verständnis ihrer Profession z.B.

·         hinreichend Zeitkontingente statt enge und feste Zeitvorgaben

·         Thematische Offenheit statt Engführung (zB. Employability).

·         Subjektorientierung statt Patriarchalismus

·         Entscheidungskompetenz nach Fachlichkeit, nicht nach Effizienz

·         Die Möglichkeit, für Menschen nicht bloße Anpassung, sondern Lebensbewältigung und Menschenwürde zu erreichen. · und mehr

 

Gerade diese Perspektiven und Handlungsspielräume aber werden der Sozialen Arbeit heute im Rahmen des neosozialen Projektes systematisch verschlossen. Die Soziale Arbeit des neosozialen Konzeptes wird als effektive, kalkulierbare, rationale und bürgerfreundliche Dienstleistung angepriesen. Ihre Überschaubarkeit und Messbarkeit rückt die neosoziale Soziale Arbeit in die Nähe des scheinbar Professionellen.

 Was sagt die Soziale Arbeit dazu?

Für viele PraktikerInnen scheint diese Argumentation überzeugend. Das liegt sicher nicht zuletzt daran, dass viele von ihnen längst keine andere Soziale Arbeit mehr kennen.

Und wer als Berufanfänger in die Praxis kommt und zunächst überrascht ist, wie anders die „reale Soziale Arbeit“ ist als das, was man im Studium gelernt hat, ist in der Regel darauf bedacht, alles hinter sich zu lassen und sich möglichst schnell anzupassen und einzufügen.

 

5. Heute wird von außen bestimmt, was für Soziale Arbeit als Erfolg ihrer Arbeit zu gelten hat.

 Von der Sozialen Arbeit wird mehr denn je verlangt, dass sie sich rechnet, dass sie ihre Wirkung, ihre Erfolge belegen und ihre Effektivität nachweisen kann.

Wohl bemerkt: Es ist selbstverständlich von großem Interesse für unsere Profession, ob die von uns erstrebte Wirkung, ob unser Erfolg auch wirklich eintreten. Lange hat Soziale Arbeit diesen Punkt ziemlich vernachlässigt. Aber darum geht es hier nicht.

Es geht vielmehr um Folgendes:

Der Effektivitätsbegriff, der im Rahmen neosozialer Kontexte benutzt wird, ist kein sozialpädagogischer Begriff. Was für uns als SozialpädagogInnen Erfolg bedeutet, wird von der Politik nicht positiv bewertet und als Kriterium für Effektivität abgewiesen. Als Erfolg zählen hier in der Regel nur so genannte „harte Fakten“ wie „Teilnahme an einem Kurs“, „erreichter Schulabschluss“, „Einstieg oder Wiedereinstieg in bezahlte Arbeit“ etc. Dies sind aus sozialpädagogischer Sicht aber nur Einzelaspekte von möglichem Erfolg und manchmal auch nur die Illusion davon.

 

Und was sagt die Soziale Arbeit dazu?

Meist versuchen die PraktikerInnen, den Nachweis eines so verstandenen, von außen definierten Erfolges irgendwie zu bringen – oft verzweifelt, weil davon ihre eigene Existenz abhängt. Und wo sie sich diesem Erfolgsdefinitionsdiktat nicht beugen, geht es ihnen wie der Berufsberaterin, die ich oben erwähnte.

Soziale Arbeit ist im Rahmen ihres eigenen, wissenschaftlich begründeten, fachlichen Mandates und ihrer auf Gerechtigkeit und Menschenwürde ausgerichteten Ethik sehr wohl in der Lage, ihre eigene Praxis an fachlichen Kriterien zu messen und zu bewerten. Staub-Bernasconi (2007) spricht deshalb vom Tripelmandat der Sozialen Arbeit.

Mit der Einführung z.B. der evidenzbasierten Wirkungsnachweise z.B. wird im Grunde ein chronischer Misstrauensantrag an die Profession gestellt. Es besteht ganz offenbar kein Vertrauen in die Fachlichkeit der Profession und der Professionellen (vgl. z.B. Kessl, Reutlinger, Ziegler 2007).

6. Der Sozialen Arbeit wird ein neues, grundlegend verändertes Menschenbild aufgedrängt.

 Der aktivierende Staat schreibt der Sozialen Arbeit außerdem eine neue, veränderte Haltung gegenüber der Klientel und ein neues Menschenbild vor. Das Fordern steht bekanntlich heute im Vordergrund. Die Menschen müssen in erster Linie für sich selber sorgen. Wenn sie versagen, ist es allein ihre Schuld.

Parteilichkeit ist damit etwas für die Mottenkiste und würde der harten und fordernden kühlen, sachlichen Haltung widersprechen, die heute vom Sozialarbeiter gefordert wird.

Lutz (2008) sagt, an die Stelle der Parteilichkeit träte die Dienstleistung. Das bedeutet: Wir bieten an. Und es ist die Sache des Betroffenen mit diesem Angebot das Richtige anzufangen. Wer dazu nicht in der Lage ist, hat Pech gehabt und sich nicht genug angestrengt.

 So entsteht eine Art Zwei-Klassen-Sozialarbeit. So Lutz: „Vor diesem Hintergrund wird die gesellschaftliche Funktion Sozialer Arbeit klarer, die sich im Kontext der Reformulierung des Sozialen herauszubilden scheint: Aktivierung und Training der Fähigen und Erfolgversprechenden auf der einen Seite; Versorgung, Verwaltung und Kontrolle derjenigen, die zur Aktivierung nicht mehr geeignet erscheinen, auf der anderen“ (Lutz 2008).

 Und wie regiert die Profession?

Viele SozialarbeiterInnen fühlen sich sicherlich unwohl dabei, zu solchen Ausgrenzungsszenerien selber beitragen zu müssen. Aber viel mehr passiert nicht.

Gleichzeitig ist eine andere Tendenz zu beobachten: Manch ein Sozialarbeitender hat sich längst -sei es aus Zynismus oder Selbstschutz so etwas wie einen „Klientenrassismus“ angeeignet und redet von seiner Klientel voller Missachtung als „die Assis“. Und wer da heute nicht in den Chor mit einstimmt, dass auch diese Menschen sich eben mehr anstrengen müssen, dass sei eben lernen müssen, dass es Folgen hat, wenn sie nicht spuren – verdammt noch mal!“….der setzt sich gegenwärtig bereits der Kritik aus.

7. Immer mehr bürgert es sich in der Sozialen Arbeit wieder ein, dass man mit Druck und Sanktionen versucht, bei den Klienten etwas zu erreichen.

Kontrollaspekte in der Sozialen Arbeit nehmen zu. Das Misstrauen gegenüber dem Klienten, das Sortieren von Klienten in Risikogruppen oder Gruppen unterschiedlicher Erfolgswahrscheinlichkeit und die damit verbundene selektive Investition verbietet der Sozialen Arbeit geradezu die Parteilichkeit mit den sozial Benachteiligten und unterläuft die sozialarbeiterische Praxis, Angebote und Hilfestellungen auch denen oder vielmehr gerade denen zu bieten, die die geforderte Eigenverantwortung nicht entwickelt haben oder entwickeln konnten.

Akzeptierende Soziale Arbeit, der Versuch, Menschen dazu zu bringen, ihre eigenen Wege und die für sie selber möglichen Lösungen zu erarbeiten, werden als „Kuschelpädagogik“ verlacht und abgelehnt. Soziale Arbeit bekommt zunehmend mehr Funktionen zugewiesen, die sie als ordnungspolitische und nicht mehr als sozialpädagogische Instanz ausweisen.

 Und wie regiert die Profession?

Viele erschrecken. Aber sie schweigen.

Andere finden nichts dabei. Die Mühen der Motivierung und die Kraft, die man braucht, wenn man Menschen respektvoll und interessiert begegnen will, sind für manche SozialarbeiterInnen wie es scheint ohnehin eine Last.

Manche sind froh sogar über diese neue Entwicklung, wie der Sozialarbeiter bei der ARGE, der nach 4 Jahren dort zu dem Schluss kommt: „Endlich machen die Menschen, was ich von ihnen will“.

 8. An die Stelle von Parteilichkeit und die Verteidigung der Rechte der Klientel tritt nunmehr die Barmherzigkeit.

 Für die zweite Gruppe unserer Klientel, die Roland Lutz (2008) identifiziert, stehen neben Verwaltung und Sanktionierung nur niedrige Budgets, Spenden und vor allem Almosen zur Verfügung“. Von der Betreuung und Versorgung dieser Bevölkerungsgruppen zieht sich der Staat so weit zurück wie er nur kann. Dass es seine Aufgabe sein könnte, die Steuergelder, die er von den Menschen erhält, für sie einzusetzen und zu verwenden, scheint ihm fern zu liegen. Hier greift die Gesellschaft notgedrungen wieder auf Formen der Armenfürsorge zurück, die im Mittelalter normal waren: „Eine Gesellschaft, in der die Bedürftigen ein Anrecht auf Unterstützung haben, ist grundsätzlich weniger entwürdigend als eine Gesellschaft, die auf Barmherzigkeit beruht“ (Margalith 1998, S. 276).

 Und was sagt die Profession?

An der modernen Barmherzigkeitsideologie wird in der Praxis kaum Kritik geäußert. Die so genannten Tische und andere mildtätige Projekte gehören heute ganz offensichtlich und ganz offiziell zum sozialen Versorgungssystem. Soziale Arbeit muss sie zwangsläufig nutzen und gutheißen, im Interesse ihrer Klientel. Und die Erwartung des Staates, dass Soziale Arbeit als Bettler für ihre Klienten aufzutreten, d.h., Sponsorengelder einzusammeln habe, wird von fast allen Mitarbeitern und Trägern heute als Selbstverständlichkeit hingenommen, als unvermeidbare Notwendigkeit.

Das Bewusstsein für die Rechte der Klienten auf ein menschenwürdiges Leben, auf Schutz und auf Unterstützung geht in den Köpfen der SozialarbeiterInnen immer mehr verloren. Viele von ihnen, besonders die, die die neue harte Linie nicht ertragen können, fallen herein auf die Vortäuschung, dass der aktuelle Barmherzigkeitstrend Menschen wieder menschlicher mache. Und nicht wenige verändern selber -ohne es recht zu merken -ihre Haltung zur Klientel: Klienten, gestern noch Subjekte mit Würde und Rechten, werden für sie immer mehr zu bedauernswerten, armen, erbarmungswürdigen Geschöpfen, für die man sich als guter Mensch einzusetzen habe.

9. Es gibt zunehmend nicht nur zwei Klassen von KlientInnen sondern auch zwei Klassen von Sozialarbeitenden.

Die besser qualifizierten SozialarbeiterInnen werden insbesondere in dem Bereichen Management und Betriebswirtschaft gefördert und besetzen die Leitungs-und höheren Verwaltungsposten. Dort agieren sie dann – mit Blick auf längst überwunden geglaubte Zeiten der Sozialen Arbeit gesehen -als der moderne Innendienst, der die Entscheidungen trifft, wesentlich besser bezahlt wird und als Vertreter allein des Systems die sozialen Probleme mit seinem Verwaltungsverständnis betrachtet und

behandelt. Und auch noch wie ehedem vorwiegend männlich ist.

Die Basis-SozialarbeiterInnen auf der anderen Seite, die im direkten Kontakt mit der Klientel stehen, sehen sich zunehmend einer Standardisierung der Praxis (vgl. Ziegler (2008, S. 165f) gegenüber und der Tendenz der Auftraggeber, nicht-qualifizierte Menschen mit Aufgaben der Sozialen Arbeit zu betrauen, weil sie billiger sind und weil man den SozialarbeiterInnen ohnehin keinerlei Kompetenz zutraut, die nicht auch ein Laie haben könnte.

Die Einführung des Bachelors und des Masters legt den Verdacht nahe, dass aus Sicht der Politik für die Praxis kein 8semestriger Studiengang mehr erforderlich ist. Offenbar geht man davon aus, dass auch weniger Wissen und weniger Praxisreflexion bei den Sozialarbeitern ausreichen würde, damit sie ihre Aufgaben erledigen können.

Aus Sicht unserer Studierenden ist die Botschaft eindeutig: „Sieh zu dass du deinen Master machst, dann hast du eine Chance nach oben zu kommen und die schlecht bezahlten Niederungen hinter dir zu lassen.“ Also: weg von der schlecht bezahlten Arbeit mit der Klientel hin zur Verwaltung und Führung der schlecht bezahlten SozialarbeiterInnen!

10. Auch die sozialpädagogische Wissenschaft passt sich an die gegebenen Bedingungen weitgehend an.

 Sie versucht z.B. – wie die sozialpädagogische Praxis zunehmend auch -die betriebswirtschaftliche Sprache zu sprechen und sich der Definitionsmacht der Ökonomie zu beugen und dabei doch irgendwie noch ein gutes Stück Sozialpädagogik rüber zu retten. Sie versucht modern zu sein, den aktuellen Entwicklungen doch eine Schokoladenseite abzugewinnen.

Über das Verschwinden der Sozialen Arbeit als eine parteiliche und autonome fachliche Instanz tröstet man sich dadurch, dass man einfach konstatiert: „Die Soziale Arbeit verschwindet nicht, sie verändert sich nur“. Aber ob das, was am Ende dabei heraus kommt, noch wirklich unseren fachlichen und ethischen Vorstellungen entspricht wird meist ausgeblendet oder verdrängt.

 Es gibt – zugegeben – auch eine ganze Reihe kritischer Wissenschaftler in unserer Profession. Ihr Ruf allerdings verhallt weitgehend in den eigenen wissenschaftlichen „vier Wänden“. Für die PraktikerInnen und die Studierenden sind ihre Texte in der Regel schwer verständlich und damit auch schwer anschließbar und immer wieder entsteht der Eindruck, dass diese kritischen Geister einen am Ende doch alleine im Regen stehen lassen.

11. Die Soziale Arbeit ist heute von einer fachlichen Einmischung in Politik und einer kritisch reflexiven Haltung weit entfernt.

 Soziale Arbeit wurde nie, auch in der Vergangenheit des so viel gepriesenen sozialpädagogische Jahrhundert (70,80 Jahr) nicht als Beraterin der Politik, als eine Instanz, die zu sozialpolitischen Fragen fachlich auf hohem Niveau Stellung beziehen kann, gesehen und ernst genommen.

Der allerdings noch 1990 im KJHG formulierte Paragraf 1.Absatz 4 rief und ruft die Jugendhilfe auf zur Wahrnehmung der Interessen der jungen Menschen und damit zur Einmischung in die Politik für verbesserte Lebenswelten, erteilt ihr somit ganz offiziell ein politisches Mandat!

 Was hat die die Profession daraus gemacht?

Heute ist von einer Einmischungsstrategie schon lange nicht mehr die Rede. Heute herrscht vielmehr verbreitet die Abwendung der Aufmerksamkeit von den gesellschaftlichen Hintergründen sozialer Probleme. Soziale Arbeit soll schließlich nicht mehr Lebensbedingungen ändern bzw. deren Verbesserung einfordern, sondern den einzelnen Menschen dabei unterstützen, dass er sich mehr als bisher anstrengt, um seine Probleme selber zu lösen und individuelle Vorsorge zu betreiben.

Insgesamt scheint Soziale Arbeit es auf weite Strecken heute nicht (mehr) für ihre Aufgabe zu halten, sich in politische Fragen einzumischen und zu Wort zu melden.

 ·         In der Unterschichtdebatte und angesichts der Unterschichtschelte hält Soziale Arbeit sich wissend aber schweigend zurück.

·         Wenn ein Herr Sarrazin seine rassistisch anmutenden Thesen über das Volk ergießt, meldet sich die Profession nicht zu Wort, so als ginge sie das alles überhaupt nichts an.

 

Fazit:

Soziale Arbeit fügt sich weitgehend stillschweigend in die neuen Bedingungen und Herausforderungen. Ein Teil der Sozialarbeitenden sind längst bewusst oder auch unbewusst zu Agitatoren der neosozialen Politik und Sozialarbeit geworden. Der bei vielen vorhandene Unmut führt nicht zur organisierten Gegenwehr -von einer aktiven, politischen Einmischung ganz zu schweigen.

 

3. Soziale Arbeit muss wieder politisch werden, sich (re-) politisieren!

 Nachdem das heutige, weitgehend unpolitische Erscheinungsbild Sozialer Arbeit zu Genüge beschrieben wurde, stellen sich mir folgende Fragen:

·         Sind wirklich alle Sozial Arbeitenden heute unpolitisch?

·         Wie könnte eine Re-Politisierung Sozialer Arbeit erreicht und gefördert

werden?

 Ich werde im Folgenden verschiedene Ebenen und Erscheinungsweisen repolitisierter Sozialpädagogik erläutern:

 1. Reflexivität als Gegengift

Galuske bezeichnet die Reflexivität als das „Gegengift“ gegen die neoliberalen Zumutungen. Die Reflexivität im Sinne eines „Durchschauens der Verhältnisse“ ist das Gegenbild einer sozialtechnologischen Anpassung an die neuen systemischen Erfordernisse. Reflexivität liefert Denkangebote, welche das Verständnis für die Wirklichkeit und die darin enthaltenen Bedingungsgefüge erleichtern, stellen Bütow, Chassé und Hirt fest (2008, S. 231). Sie ermöglicht das Begreifen der Zusammenhänge, das Durchschauen von nur scheinbaren begrifflichen Ähnlichkeiten z.B. und von gesellschaftlichen Hintergründen. „Will die Soziale Arbeit nicht zum Spielball einer Turbomodernisierung und ihrer sozialen Verwerfungen werden, bleibt ihr einzig und allein der kritische , aufgeklärte und wissensbasierte Blick auf die ihr systemisch abverlangten Aufgaben, Funktionen und die ihr zur Verfügung gestellten Ressourcen“, so führt Galuske die Bedeutung der Reflexivität weiter aus (Galuske 2002, S. 21).

 Besonders wichtig wird Reflexivität gerade auch für die PraktikerInnen, wenn man sich klar macht, dass die neosozialen Veränderungen auf eine merkwürdige Weise lautlos und scheinbar einvernehmlich von statten gegangen sind. Sie werden erlebt und behandelt wie naturbedingte Modernisierungsprozesse, die nicht aufgehalten werden können. Reflexivität fördert dagegen die Erkenntnis, dass es sich bei alldem um die Folgen gesellschaftlicher Entscheidungen handelt, um von Menschen gemachte Regeln und Verhältnisse und nicht um irgendwelche Naturereignisse.

Für die kritischen WissenschaftlerInnen unserer Profession bedeutet Reflexivität in unter anderem, dass sie sich verstärkt in Theorie und Forschung mit neosozialen oder neosozial-kompatiblen Positionen und Interpretationsweisen Sozialer Arbeit aus den eigenen Reihen auseinandersetzen sollten. Es reicht nicht, diese zu analysieren und auf den eigenen Positionen zu bestehen. Erst wenn eine aktive Auseinandersetzung mit solchen Entwicklungen auch auf wissenschaftlicher Ebene stattfindet, erfährt die Profession einen Entwicklungsschub, der sie in die Offensive trägt.

Hinzu kommt, dass sich kritische WissenschaftlerInnen heute gezielt mit den Fragen auseinandersetzen sollten, die mit den fachlichen und ethischen Kernelementen Sozialer Arbeit zu tun haben: Hier nur ein paar Anregungen in diese Richtung:

·         Welche Möglichkeiten der Motivierung von Klienten bestehen – jenseits von Druck, Überredung und Sanktionen?

·         Welche Bedeutung spielt die Ergebnisoffenheit für den sozialpädagogischen Prozess?

·         Welche gesellschaftlichen Hintergründe befördern spezifische Entwicklungen wie z.B. Zunahme jugendliche Gewalt, Unterschichtmentalität, oder Zunahme von Psychosomatischen Erkrankungen.

 Aber Reflexivität alleine reicht nicht aus.

 2. Fachlicher Widerstand in Praxis und Theorie

Der alltägliche Widerstand gegen fachfremde und fachlich unzumutbare Anforderungen und Rahmenbedingungen in der Praxis der Sozialen Arbeit ist von enormer Wichtigkeit. Es geht dabei zunächst noch gar nicht um Aktionen, um organisierten Widerstand oder politische Strategien. Es geht schlicht darum, dass jeder Sozialarbeitende vor Ort und jede WissenschaftlerIn an ihrem Schreibtisch die Kernaussagen und die ethischen und wissenschaftlichen Orientierungen der Sozialen Arbeit bewusst, gezielt und offensiv thematisiert, herausfordert und sich den Tendenzen, sie zu unterlaufen und zu konterkarieren unmissverständlich und selbstbewusst stellt.

 

·         Von „störrischer Professionalität“ wird z.B. in der Fachliteratur gesprochen (vgl. z.B. Galuske 2002, Walther 2005, Heite 2008), wenn es darum geht, bestimmte neosoziale Entwicklungen in der Sozialen Praxis offen zu unterlaufen und zu stören. Mit dieser Strategie soll versucht werden, im Rahmen der Profession und mit den Mitteln der Profession offenen Widerstand zu leisten, nicht im Sinne eines Rückzuges oder einer Verweigerung, sondern im Sinne einer aktiven Praxis, die den Konflikten an den Grenzlinien zwischen Fachlichkeit und neoliberaler Herausforderung nicht aus dem Wege geht.

§         So könnten z.B. MitarbeiterInnen dem Träger eine offene Rechnung aufmachen, wie viel er durch ihre Bereitschaft spart, unbezahlte Überstunden zu machen und im eigenen Beruf zusätzlich ehrenamtlich e Einsätze zu übernehmen.

§         So müsste eine Familienhelferin, der man für die Arbeit mit einer Multiproblemfamilie ganze 4 Fachleistungsstunden in der Woche gewährt, unmissverständlich deutlich machen, was man in diesem Zeitrahmen erreichen und bewirken kann und was nicht. Und die Verantwortung für das Nichterreichen der Ziele (und für das Rausschmeißen öffentlicher Geld für diesen sinnlosen Einsatz) muss sie an den Auftraggeber schriftlich zurückgegeben.

 

Es geht um das sichtbare, widerständige Beharren auf den Eckpfeilern der lebensweltorientierten Sozialen Arbeit: auf ihrer sozialpädagogischen Konzeption, auf ihrer Ethik, auf ihren Begriffen und dem eigenen Verständnis ihrer Begriffe sowie auf ihren lebensweltorientierten Methoden und Zeitperspektiven.

·         Der Kampf gegen prekäre Arbeitsbedingungen ist nicht nur erforderlich zum Schutze der Sozialarbeitenden selber. Er ist ebenfalls ein wichtiger Schritt im Widerstand gegen die schleichende Deprofessionalisierung, Entkernung und Banalisierung unserer Profession (vgl. z.B. Staub-Bernasconi 2007).
Hierher gehören politische Forderungen für eine angemessene Bezahlung für fachliche Qualität und Qualifikation und ebenso für die Bereitstellung der notwendigen Rahmenbedingungen, die Soziale Arbeit braucht, um nachhaltig wirken zu können (z.B. Kontinuität, hinreichend Zeit).

 ·         Wichtig ist es in diesem Zusammenhang aber auch, dass über die alltäglichen, konkreten Einzelfragen hinaus von der Profession fachliche Konzept Sozialer Arbeit und Forderungen nach fachlicher Autonomie offensiv, nicht defensiv vertreten werden. Die Soziale Arbeit sollte versuchen, weg zu kommen aus der derzeitigen Position des mit dem Rückens an der Wand Stehens.
Ein Bestehen auf der Autonomie unserer Profession bedeutet deshalb auch die offensive Weiterentwicklung der sozialpädagogischen Konzeption in bewusster Auseinandersetzung mit und Abgrenzung zu den neosozialen Positionen, auch und gerade mit denen, die in ihren eigenen Reihen vertreten und verteidigt werden.

 3. Gegenwehr gegen die neoliberalen und neosozialen Grundtendenzen der gegenwärtigen (Sozial)-Politik

Der Notwendigkeit, sich in unserer Gesellschaft für die Rechte Sozial Benachteiligter einzusetzen, müsste politisch Nachdruck verliehen werden.

Unser Bestehen auf einer parteilichen und advokatorischen Funktion der Sozialen Arbeit für ihre Klientel müsste nach außen offensiv vermittelt werden. Die Soziale Arbeit könnte in diesem Zusammenhang durchaus offensiv als eine gesellschaftliche Kraft auftreten, die explizit für soziale Gerechtigkeit und Menschenrechte eintritt.

Es gibt in unserer Gesellschaft kaum noch glaubwürdige Gruppen oder Instanzen, die für ein humanistisches Menschenbild und für eine verantwortliche Gesellschaft stehen. Mit ihrer lebensweltlichen Konzeption aber tritt Soziale Arbeit genau dafür ein. Ihre Bedrohung durch das neosoziale Modell ist gleichzeitig eine Bedrohung der Gesellschaft und ihrer humanistischen Wurzeln und Verpflichtungen. Somit wäre ein Kampf für die Erhaltung der Profession gleichzeitig ein Kampf um eine menschliche Gesellschaft.

 

Soziale Arbeit tut außerdem gut daran, sich gegen die Privatisierung, Dekommodifizierung und Vermarktlichung der Sozialen Arbeit und des Sozialen überhaupt zur Wehr zu setzen. Menschen und menschliche Bedarfe sind keine Waren! Soziale Arbeit kann nicht dem Profitinteresse unterworfen werden. Ihre Entscheidungen unterliegen anderen Maßstäben. Das gilt für die Soziale Arbeit genau so wie z.B. für öffentlichen Verkehrsmittel: Der Bedarf der Berliner sich innerhalb ihrer Stadt mit der S-Bahn im angemessenen Tempo und Takt fortbewegen zu können, wird nicht mehr gewährleistet, weil die Orientierung am Markt und am Gewinn (Börsengang) es verunmöglicht, den Aufgaben im Interesse der Menschen wirklich gerecht zu werden.

Noch vor 20 Jahren ging in unserer Profession jeder davon aus, dass es sich bei Sozialer Arbeit um einen non-profit-Bereich handelt. Heute scheint das vergessen!

Hier liegt ein möglicher Ansatz in gemeinsamen politischen Aktionen über Träger und Regionen hinaus, zusammen mit anderen politisch aktiven Gruppierungen und ähnlich betroffenen Berufsgruppen sowie in einer entsprechenden, vielfältigen, offensiven und kreativen Öffentlichkeitsarbeit.

 4. Solidarische, politische Vernetzung und Organisation Sozial Arbeitender

Solche Aktionen und Auseinandersetzungen kann man nicht individuell durchstehen.

Es wäre deshalb notwendig, dass sich kritische SozialpädagogInnen miteinander vernetzen, sich organisieren um so gemeinsam Forderungen zu stellen und Widerstand zu leisten. Verbindungen und gemeinsame Aktionen von Praxis und Wissenschaft bieten dabei sich ebenfalls an. Es geht um jede Form fachlicher, fachpolitischer und politischer Kommunikation und Organisation auf privater, also vom Anstellungsträger unabhängiger Basis. Auch die Möglichkeiten von Austausch und Organisation im Rahmen des Internets sind hier nutzbar.

Die internationalen SozialarbeiterInnen-Vereinigungen stellen ebenfalls eine hervorragende Möglichkeit für die Soziale Arbeit dar, sich der politischen Aufgaben ihrer Profession zu versichern und gleichzeitig nach außen als politische Kraft auftreten zu können.

Die Organisation möglichst vieler PraktikerInnen in Gewerkschaften oder Berufsverbänden wäre eine weitere mögliche, wie bitter notwendige Voraussetzung, um den „störrischen Widerstand“ zu organisieren, durchzuhalten und weiter zu treiben. Beim gegenwärtigen geringen Organisationsgrad von Sozial Arbeitenden darf man sich nicht wundern, dass von der Seite der Gewerkschaften und des Berufsverbandes nur begrenzte Aktualität und Schlagkraft zu beobachten ist. Je mehr Sozial Arbeitende sich dort organisieren, desto mehr können solche Organisationen für unsere Berufsgruppe faktisch leisten.

Die Berufsverbände, z.B. der DBSH (Deutscher Berufsverband für Soziale Arbeit e.V.) halten in ihren Konzepten und Verlautbarungen die sozialpädagogischen Ziele Handlungsmaximen sehr wohl hoch. Ganz offenbar sind sie den neosozialen Versprechungen nicht auf den Leim gegangen sind. Neosoziale Protagonisten bemerken dazu bedauernd, dass von Seiten der Berufsverbände keine Bereitschaft zu spüren sei, sich den neuen Errungenschaften des aktivierenden Staates zu öffnen (vgl. z.B. Erath 2006, S. 107).

Wie weit Gewerkschaften und Berufsverband allerdings offensiv im Sinne einer aktiven Einmischung in die gegenwärtige Lage und die gegenwärtigen Auseinandersetzungen tätig sein werden und tätig sein können, hängt nicht zuletzt davon ab, ob ihre Mitglieder aktiv in diesen Prozess einzusteigen bereit sind, d.h. dass sich eine solche Mitgliedschaft nicht im Bezahlen des Mitgliederbeitrages erschöpfen darf, sondern dass die Mitglieder diese kollektiven Strukturen aktiv für den eben geschilderten Zweck nutzen.

Auch die Profession als solche müsste sich Bündnispartner suchen, um so ihren Forderungen und fach-wie gesamtpolitischen Äußerungen und Stellungnahmen mehr Ausdruck und Kraft zu verleihen. Gruppen und Initiativen mit ähnlichen Vorstellungen und Anliegen sollten nicht nebeneinander arbeiten, sondern sich zu gemeinsamen politischen Schritten zusammenschließen.

 

Und schließlich geht es auch auf der gesamtpolitischen Ebene darum, Bündnispartner für eine andere, soziale und an Gerechtigkeit und nicht an Marktfreiheit und dessen Profit orientierte Welt zu finden und mit ihnen gemeinsam zu kämpfen.

5. Politische Einmischung

Jede offensive Gegenwehr bedeutet bereits den ersten Schritt zur Einmischung.

Einmischung aber bedeutet noch mehr:

Es geht darum, aktiv und offensiv politische Felder zu besetzen, sich dort Gehör zu verschaffen, sich als politisch wirksame Kraft einzubringen und zu profilieren. Soziale Arbeit müsste auf der ganzen Linie aus ihrem eigen Schatten heraustreten und sich auf allen Ebenen einbringen, einmischen, mitmischen und zu Wort melden.

 So hält es – um nur ein Beispiel aus der Literatur zu nennen Völker (2005) für unbedingt notwendig, brisante Themen, aus ihrer Tabuisierung herauszuholen. Soziale Arbeit, so Völker, muss Wege finden, die öffentliche politische Diskussion anzuregen und sie muss sie natürlich auch in ihren eigenen Reihen führen:

„Wieso gibt es Arbeitslosigkeit, wer ist schuld? Was bedeutet Armut? Woher kommt sie? Was haben die Betroffenen dazu beigetragen? Was die Gesellschaft? Und wie geht Gesellschaft mit armen Menschen um? Was ist der Markt? Ist er ein Gott, der unser aller Geschicke in seiner anonymen Hand hält und von dessen Funktionieren und von dessen Profiten unser aller Wohlergehen abhängt?“ (Völker 2005).

 

Solche Diskussionen sind überall möglich, vom Gespräch unter Kollegen bis hin zu öffentlichen Veranstaltungen, Veröffentlichungen, Beiträgen in Zeitungen aber auch Leserbriefen oder Blogbeiträgen.

Hier nur ein kleines Beispiel:

Unsere gute Frau van der Leyen hat sich etwas Nettes ausgedacht, von dem sie meint – obwohl ich ihr durchaus zutraue, dass sie genau weiß, dass hier nur ein Tropfen auf einen ziemlich heißen Stein gekippt werden soll – dass es den Bildungsnotstand der durch die PISA Studien identifizierten Risikogruppen unserer Gesellschaft beseitigen könnte: Bildungsgutscheine.

Ich frage mich: Warum sagen wir es nicht überall laut und deutlich?

Warum sagen wir nicht, dass

·         mit diesem Volumen von ganzen 10 Euro im Monat weder ein regelmäßiges Mittagessen noch ein Nachhilfelehrer und auch keine Kunstschule bezahlt werden kann,

·         man hier offensichtlich hofft, dass 90% der Betroffenen von dieser Möglichkeit gar keinen Gebrauch machen werden und man dann mit dem Geld den einen oder anderen bildungsfernen Vorzeige-Jugendlichen ausstaffieren kann,

·         man so keine Bildungsbarrieren abbauen kann, sondern es ganz anderer, sehr viel größerer und einfühlsamerer Bemühungen bedarf angesichts einer Medien-und Werbungskultur, die täglich und mit großem Erfolg ihre Verdummungsstrategie verfolgt, diesen Bevölkerungsschichten Bildung und Kultur nahe zubringen,

·         außerdem in vielen Teilen unseres Landes die Gutscheine überhaupt nicht eingelöst werden können, weil die notwendige Infrastruktur fehlt,

·         eine Gesellschaft, die sich über die Bildungsferne eines Teils ihrer Bevölkerung beklagt, erst einmal dafür sorgen müsste, dass für diese Menschen echte Zukunftschancen geschaffen werden.

·         usw.

 Einmischung in diesem Sinn kann jeder leisten. Sie bedarf sowohl der Öffentlichkeitsarbeit aber ebenso der Diskussion mit den Kollegen am Mittagstisch. Aber das Schweigen herrscht überall.

Warum steht unsere Profession nicht geschlossen auf und mischt sich hier ein. Wer denn, wenn nicht die Soziale Arbeit kann hierzu etwas Kompetentes sagen?

Aber wir lassen sie machen, lächeln nervös, überheblich und hilflos -und baden mit der Klientel den Unsinn später aus….

Es liegt keine Analyse vor, wie viel Widerstand, wie viel Gegenwehr es im Kleinen und Großen in unserer Profession heute gibt.

Ich persönlich halte es für eine Illusion, davon zu reden, dass wir bald Verhältnis wie in den 68er Jahren haben werden. Die Kräfte, die an einer unpolitischen Sozialen Arbeit interessiert sind, sind stark. Man sollte sich keine Illusionen machen

 

Aber ich glaube auch, dass es mehr Widerstand und mehr politisch denkende Sozialarbeitende gibt, als man so im Alltag mitbekommt. Wenn man einmal anfängt, zu recherchieren, findet man immer mehr.

Ich bekomme z.B. infolge meines 2010 veröffentlichten „Schwarzbuch Soziale Arbeit“ fast jede Woche mails, in denen mir LeserInnen, die meisten kommen aus der Praxis der Sozialen Arbeit, dafür danken, dass ich den Mut und den Nerv gehabt habe, das laut auszusprechen, was sie seit Jahren als PraktikerInnen der Sozialen Arbeit denken und worunter sie leiden. Ich habe durch mein Buch schon so viele widerspenstige Praktikerinnen und auch WissenschaftlerInnen kennen gelernt, dass ich anfange, wirklich Mut zu schöpfen. Es gibt also durchaus Potenzial für eine Repolitisierung der Sozialen Arbeit!

 Aber offenbar ist es noch nicht geschafft, dass sich der Widerstand in der Profession vernetzt. Genau so wenig haben wir es bisher geschafft, dass unsere Probleme und unsere Sicht der Problemlage an die Öffentlichkeit dringen.

Nun sind solche Handlungen und politischen Strategien nicht von heute auf morgen einfach da. Deshalb stellt sich die Frage nach den nächsten Schritten und danach, wer welche Schritte tun sollte.

 

4. Welches wären die nächsten Schritte in Richtung einer

Repolitisierung und welche Akteure sind gefragt?

 Es stellt sich die Frage: welche Akteure im Feld könnten welche Schritte leisten?

Da wäre zunächst die Wissenschaft.

Die Aufgabe kritischer Wissenschaft wäre es im Rahmen einer erstrebten Repolitisierung -neben den oben bereits beschriebenen Aufgaben –

·         dass sie die Modernisierungsfolgen in der Sozialen Arbeit verständlich, nachvollziehbar und für die Praxis wieder erkennbar und in ihren Konsequenzen wie Hintergründen durchschaubar macht, dass sie also heraustritt aus dem Elfenbeinturm und die Situation der Sozialen Arbeit und der Gesellschaft nach außen verdeutlicht und klar und laut mitteilt, welche Folgen die Gesellschaft hiermit in Kauf nimmt,

·         dass sie nicht bloß distanziert und sozusagen von oben aus wissenschaftlicher Distanz auf Klientel und Soziale Arbeit herabschaut, um Phänomene zu analysieren und zu erklären, sondern dass sie auch in ihrem wissenschaftlichen Ansatz Parteilichkeit für Klienten und Betroffene Sozialarbeitende zeigt. Würde sich die kritische Wissenschaft so verhalten, so könnte sie einen großen Beitrag leisten zu einer Repolitisierung unserer Profession.

 

Die entscheidende Repolitisierung müsste zweifellos in der Praxis stattfinden. Wie oben gezeigt, sieht es hier nicht so rosig aus.

Für Sozialarbeitende sind einzelne Schritte identifizierbar identifizieren, die sie aus der derzeitig mehrheitlich erlebten Ohnmacht und aus dem verbreiteten Einzelkämpfertum herausholen könnten.

Ein Teil dieser Schritte kann unter den Begriff Reflexivität zusammengefasst werden:

1. Bewusstwerden der eigentlichen Möglichkeiten, Aufgaben und der notwendigen Rahmenbedingungen Sozialer Arbeit Sozial Arbeitende sollten wissen und begreifen, was Soziale Arbeit eigentlich kann! Es ist gefährlich, wenn Praktiken und Wirklichkeiten einer lebensweltorientierten Sozialen Arbeit für die heutigen Akteure gar nicht mehr vorstellbar werden und damit für eine Utopie aus einer goldenen, versunkenen Zeit gehalten werden.

 2. Erlernen, Üben eines bewussten und diskursiven Umgangs mit der eigenen Fachlichkeit Es ist eine immer wieder kehrende Beobachtung: Studenten und auch PraktikerInnen können sehr wohl ziemlich genau erklären, was ihr konkretes Arbeitsfeld ist und welche Aufgabe es hat, aber sie sind kaum im Stande zu erklären, was eigentlich die sozialarbeiterische Profession dabei ausmacht. Wenn SozialpädagogInnen und SozialarbeiterInnen sich ihrer professionellen Aufgaben, Zielsetzungen und der methodischen Handlungsorientierung sicher sind, haben sie eine solide Grundlage für eine wie Galuske sagt:„alltägliche Thematisierung und Skandalisierung der Folgen neoliberaler Spar-und Kontrollpolitik und des folgenreichen Glaubens, „die menschliche Gesellschaft müsse funktionieren wie Daimler-Crysler“ (Galuske 2008, S. 25).

 3. Bewusstwerden der politischen Hintergründe der gegenwärtigen (Fehl-)Entwicklung
Das Bewusstsein davon, warum bestimmte Dinge so und nicht wie gewünscht laufen, allein schon dieses Bewusstsein nimmt etwas fort von der persönlichen Belastung, und das ist eine gute Ausgangsbasis für weitere Schritte des Widerstandes. Und das Wissen darum, dass bestimmte Prozesse nicht Gott gegeben oder natürlich sind, sondern Ausfluss knallharter politischer Entscheidungen, eröffnet erst die Möglichkeit, die Gesellschaft und konkret auch die Soziale Arbeit anders zu denken, als so, wie sie uns heute offeriert wird.

 4. Begreifen der Tatsache, dass unsere Profession immer politisch wirkt und man sich nicht aus der Politik heraushalten kann

Sozialarbeitende müssen sich vergegenwärtigen, dass Soziale Arbeit und damit auch sie selber sich nicht unpolitisch oder neutral verhalten können. Was Soziale Arbeit auch tut, ob sie sich anpasst, ob sie rebelliert, ob sie versucht, das Beste daraus zu machen oder sich zu wehren – immer wirkt sie politisch. Sie muss sich deshalb entscheiden, wem sie letztlich dienen will.

Daraus ergäbe sich benahe zwangsläufig die Einsicht in die Notwendigkeit und Selbstverständlichkeit der politischen Einmischung Sozialer Arbeit.

 Weitere Schritte in Richtung Politisierung Sozialer Arbeiter betreffen die Entwicklung einer positiven Einstellung zur Frage einer offensiven Gegenwehr.


1. Entwicklung von Bereitschaft und Mut, sich zur Wehr zu setzen und Widerstand zu leisten

Reflexivität ist eine wichtige Voraussetzung für widerständiges Handeln, aber noch keine Garantie dafür. Kappeler und W.C. Müller (2006) stellen fest, dass ein kritisches Bewusstsein auf der einen und eine affirmative Praxis in der Realität durchaus, auch innerhalb einer einzigen Person, „in Frieden miteinander leben können“.

Man kann davon ausgehen, dass durchaus eine ganze Reihe PraktikerInnen nicht einverstanden sind mit den neosozialen Entwicklungen und sie auch durchschauen. Aber trotzdem schweigen sie mehrheitlich.

Zum Handeln gehört offensichtlich mehr als nur Reflexivität. In erster Linie ist der Entschluss erforderlich, sich mit den „Herrschenden“ anzulegen, also offen eine andere Position zu beziehen und für sie zu kämpfen.

2. Bereitschaft und Initiative zur öffentlichen Artikulation und Einmischung

Das Herstellen von Öffentlichkeit ist immer ein guter Schutz für die Akteure und gleichzeitig eine wichtige Voraussetzung für politische Wirkung.

Für eine aktive Gegenwehr und erst recht für offensive Einmischung wäre es notwendig, dass Sozialarbeitende anfangen, die Mittel der Medien, z.B. auch des Internets für ihre Artikulation von Gegenwehr zu nutzen.

3. Einsicht in die Notwendigkeit und Kompetenz, sich solidarisch zusammen zuschließen

Eine bekannte und historisch bewährte Methode, Mut zu entwickeln und die persönlichen Risiken einer aktiven Gegenwehr zu mindern, ist das alte Motto: Gemeinsam sind wir stark.
Aber Solidarität ist keine der Tugenden, die heute selbstverständlich sind. Das gezielte hereingetrieben Werden in Konkurrenz auf dem Sozialen Markt scheint z.B. ein solidarisches Verhalten unter unterschiedlichen Trägern und ihren MitarbeiterInnen fast unmöglich zu machen.
Hier ist eine entscheidende Voraussetzung, dass die Betroffenen erkennen, dass Sozialarbeitende als VertreterInnen einer gemeinsamen Profession gemeinsame Interessen haben und gemeinsam auch stark sind und sehr wohl die Macht haben, sich z.B. gegen Preisdumping in der Jugendhilfe erfolgreich zur Wehr zu setzen.

Es gibt durchaus ein elementares Bedürfnis nach Solidarität.
Hier wären alle Schritte in Richtung Vernetzung, Austausch, gemeinsames widerständiges Handeln und Artikulieren hilfreich. Eine verstärkte (berufs-)politischer Organisierung Sozial Arbeitender wäre ein wichtiger Weg, aber es ist nicht der einzige!
Es könnte auch einfach damit beginnen, dass sich kritische MitarbeiterInnen innerhalb ihres Teams, innerhalb der Mitarbeiterschaft ihres Trägers, in ihrer Stadt etc. finden und gemeinsam unterstützen, sowie Wege entwickeln, ihren Widerstand auch nach außen zu transportieren und zu demonstrieren.

Mein letzter Blick richtet sich auf den möglichen Beitrag der Hochschule bzw. den der HochschullehrerInnen.

Sie bilden die späteren PraktikerInnen aus. Insofern kommt ihnen eine große Verantwortung zu. Kritische PraktikerInnen beklagen, dass die neue, neosoziale Politik in der Sozialen Arbeit nicht etwa nur von älteren KollegInnen abgenickt, unterstützt oder sogar aktiv eingefordert wird. Nicht selten sind es Leute, die frisch von den Hochschulen kommen, die das neosoziale Projekt aktiv vorantreiben.

Bei den Studierenden selber gibt es eine große Gruppe, die sich zwischen Fachlichkeit und Ohnmacht hin und her gerissen sieht, wenn sie an ihre zukünftige Praxis denkt und die Angst hat davor, sich später einmal hilflos und ohne Widerstand anzupassen. Diese Studierenden möchten sich wehren und sie möchten sich wehren können. Und genau hier, so meine ich, sind wir als HochschullehrerInnen gefordert, wenn es darum geht, die Soziale Arbeit wieder zu einer politischen, engagierten Kraft zu machen: Die Hochschule hätte sehr viele Möglichkeiten, bei Ihren StudentInnen die Grundlagen für widerständiges fachliches Berufsverständnis zu legen und bei ihnen ein politisches Selbstverständnis als Sozialarbeitende zu entwickeln:

  •   Sowohl die oben (im Kontext der Praxis) genannten Kompetenzen und Erkenntnisse im Kontext von Reflexivität und Aneignung und Einübung bewusster und offensiv vertretbarer Fachlichkeit sollten im Rahmen des Studiums eine zentrale Rolle einnehmen.
    Sehr viel mehr müsste z.B. die Deutlichkeit zunehmen, mit der die Kernaussagen der Sozialen Arbeit – gerade in Auseinandersetzung mit neosozialen Tendenzen -vermittelt werden. Die bewusste Erarbeitung der Alleinstellungsmerkmale unserer Profession, die Vermittlung der Fähigkeit, auch nach außen klar und auch auf den konkreten Fall bezogen darstellen zu können, worin der spezifische Auftrag und Ansatz der Sozialen Arbeit liegt, die Vermittlung dessen, was Professionalität für uns bedeutet und was sie gefährden kann, all das sind Lehrinhalte, deren Vermittlung der verbreiteten Unsicherheit und dem so oft unterentwickelten Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein als Sozialarbeitende entgegenwirken würde.
    Des Weiteren sollte die reflexive Auseinandersetzung mit den aktuellen, brennenden Fragen unserer Profession mit Blick auf die Ökonomisierung und die Vorstellungen und Forderungen des aktivierenden Staates zentrales Thema im Studium der Sozialen Arbeit sein – und zwar vom ersten Semester an. Ganz konkret sind diese Zusammenhänge z.B. anhand der Geschichte der Sozialen Arbeit, sowie anhand der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen zu erarbeiten. Hier sollten unbedingt die ersten Erfahrungen der Studierenden in ihren Orientierungspraktika Ausgangspunkt für die Betrachtung sein.
    Eine besondere Bedeutung kommt der Praxisreflexion in Begleitung der umfangreicheren Praxiserfahrungen unserer Studierenden zu. Das ist der geeignete Ort, um die alltäglichen Erfahrungen der PraktikantInnen bewusst zu machen und aufzugreifen, die sie mit den veränderten Praxisbedingungen, mit den in der Praxis aktuell vorherrschenden Menschenbildern und den Erwartungen nicht-fachlicher Instanzen an Sozialer Arbeit gemacht haben.
    Warum tickt die Praxis so anders als das, was sie hier in der Hochschule gelernt haben?
  •  Darüber hinaus könnte Hochschule auch mehr tun.
    Fachliches Wissen und Reflexivität reichen nicht aus, will man sich später als fachlich kompetenter und engagierter, sich politisch begreifender Sozialarbeitender behaupten.
    Wir müssen den Studierenden auch die Erfahrung vermitteln und die Einsicht für sie erlebbar machen, dass man sich wohler fühlt, wenn man zu Problemlagen und Zumutungen eine offensive, aktive, mutige Haltung einnimmt, als wenn man sich duckt und versucht, alles einfach irgendwie auszuhalten. Das bedeutet, das fachpolitisch und sozialpolitisch engagierte Projekte mit den Studierenden, in denen sie gemeinsam erste Erfahrungen mit störrischem Bestehen auf Fachlichkeit, mit Öffentlichkeitsarbeit und Einmischungsstrategien machen können, zu den im Studium vermittelten Erfahrungsbereichen gehören sollten.
    Zu der oben angeführten diskursiven Kompetenz, sich verbal zu eigenen Fachlichkeit und ihren Dimensionen äußern und verständlich machen zu können, wäre es hilfreich, wenn die späteren Sozial Arbeitenden auch über ausgeprägtes Wissen und unterschiedlichste Fähigkeiten und Erfahrungen in der Öffentlichkeits-und Medienarbeit verfügen würden. Solche Projekte sollten schon in unserer Hochschule durchgeführt und dann auch die technischen Fertigkeiten dafür vermittelt werden.

Neben der Bereitschaft zu Gegenwehr und offensiver Einmischung, ist es auch Sache der Hochschule, dazu beizutragen, dass bei den Studierenden die heute verbreitete Haltung: „Jeder sorgt heute eher für sich allein“, aufgebrochen wird. Unsere Studierenden suchen nach Möglichkeiten, nicht ganz alleine zu sein bei ihrem Versuch, der Anpassung im Berufsleben zu entgehen. Daran kann man anknüpfen.
Es ist unbedingt notwendig, den Betroffenen konkrete Erfahrungen mit Solidarität und mit gemeinsamem politischem Handeln zu ermöglichen. Das kann z.B. in den oben erwähnten fach-und/oder sozialpolitisch engagierten Projekten erfolgen.
Aber auch in der Organisation des Studiums sollten wir bewusst Elemente einbauen, die für die Studierenden die Lernchance eröffnen, dass gemeinsames Handeln weiter bringt und dass Solidarität sich für alle auszahlt. Das würde voraussetzen, dass wir selbstkritisch darauf schauen, wo unserer Studiengang selber zu einer Entsolidarisierung der Studierenden beiträgt und dann konsequente Änderungen einleiten.

 Wenn wir in diesem Sinne dazu beitragen, solche Lern-und Erkenntnisprozesse zu ermöglichen, werden wir als kritische HochschullehrerInnen die heutigen und zukünftigen PraktikerInnen dabei unterstützen, Gegenwehr zu leisten und sich aktiv, politisch und geduldig für eine professionelle und ethisch vertretbare Soziale Arbeit einzusetzen.


Literatur:

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Erath, P. (2006): Blick über den Tellerrand. Die Neujustierung Sozialer Arbeit muss europäische Aspekte einbeziehen. In: Blätter der Wohlfahrtspflege 3/2006, S. 104ff

Galuske, M. (2002): Flexible Sozialpädagogik. Elemente einer Theorie Sozialer Arbeit in der modernen Arbeitsgesellschaft. Weinheim 2002

Galuske, M. (2008): Fürsorgliche Aktivierung – Anmerkungen zu Gegenwart und Zukunft Sozialer Arbeit im aktivierenden Staat. In: Bütow, B./Chassé, K.-A./Hirt, R. (Hrsg.): Soziale Arbeit nach dem Sozialpädagogischen Jahrhundert. Positionsbestimmungen Sozialer Arbeit im Post-Wohlfahrtsstaat. Opladen 2008, S. 9ff

Heite, C. (2008): Soziale Arbeit im Kampf um Anerkennung. Professionstheoretische Perspektiven. Weinheim 2008

Kappeler, M./Müller, C.W. (2006): Anregung – Provokation – Utopie? Ein Gespräch über David  Gils Buch „Gegen Ungerechtigkeit und Unterdrückung – Konzepte und Strategien für Sozialarbeiter. In: widersprüche. H. 100. 6/2006, S. 137ff

Kessl, F. (2007): Die Wiederkehr der Sozialen Frage – ein Postskriptum zur jüngsten Debatte um die „neue Unterschicht“. In Kessl, F./Reutlinger, Ch./Ziegler, H. (Hrsg.): Erziehung zur Armut? Soziale Arbeit und die neue Unterschicht“. Wiesbaden 2007, S. 135ff

Lutz, R. (2008): Perspektiven der Sozialen Arbeit. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 12-13 2008, S. 3-10.

Margalith, A. (1998): Politik der Würde. Achtung und Verachtung. Berlin 1998

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