aus meinem Schwarzbuch (Persönliche Erfahrungen)
Sie nannten sich Wirtschaftjunioren und sie werden es nie verstanden haben, warum ich über ihr soziales Engagement so wenig begeistert war. Sie luden mich zu ihrer Vorstandsitzung ein und eröffneten mir, dass sie den Erlös ihrer diesjährigen Silvestertombola für das Projekt Sozialpädagogische Familienhilfe meiner Abteilung im Jugendamt spenden wollten. Ich konnte nicht nein sagen, obwohl es mir unbehaglich war zwischen diesen modisch gestylten, hoch energetischen und trotzdem so lässigen jungen UnternehmerInnen. Ich war froh, dass das besagte Erziehungshilfeprojekt hinreichend mit Geldern ausgestattet war und ich die notwendige pädagogische Arbeit und auch die erforderlichen kleineren Sachleistungen aus den öffentlichen Geldern decken konnte, die mir im Amt zur Verfügung gestellt waren. Wir schrieben schließlich erst das Jahr 1996 und in meiner Stadt und meinem Land war der Sparkurs noch nicht losgetreten worden. Auf zusätzliche barmherzige Hilfe und auf Spenden war ich nicht angewiesen und wollte es auch nicht sein. Die Familien hatten einen verdammten Anspruch auf Unterstützung. Sie lebten in massiv benachteiligten Lebenslagen, hatten viel zu wenig Ressourcen und Kompetenzen mitbekommen, lebten in finanzieller Anspannung aber vor allem in einem ständigen psychischen Überforderungsstress. Es war eine selbstverständliche Aufgabe für einen verantwortlichen Staat, hier zu helfen und sei es um der Kinder willen, denen eine solche Aufwachssituation nicht zugemutet werden konnte.
All das sagte ich nicht. Vielleicht hätte ich es tun sollen? Stattdessen wurde ich aufgefordert, von den betroffenen Familien und ihrer alltäglichen Not zu erzählen. Es war schwer, diesem Auftrag nachzukommen, denn ich wollte meine Familien nicht bloßstellen und nicht blamieren, wollte sie nicht der Lächerlichkeit preisgeben und nicht der Sensationslust. Dennoch beeindruckte die Schilderung der Alltagsprobleme meiner vielen Multiproblemfamilien meine Zuhörer sichtlich. Ja, dafür wollten sie gerne etwas spenden! Die Vorsitzende eröffnete mir, sie habe selber einmal mit dem Gedanken gespielt, Sozialarbeiterin zu werden. Mir kamen fast die Tränen. Bevor ich entlassen wurde, eröffnete man mir noch den allerdings entscheidenden Wunsch: Ein Foto für die Zeitung mit dem Scheck der Wirtschaftsjunioren müsse aber dabei herauskommen, am besten zusammen mit einer der Familien darauf.
Viele Jahre später musste ich mir einen Vortrag eines Betriebswirtes in unserer eigenen Fachhochschule anhören, der sich zur Entwicklung der Armut in Deutschland äußerte und vor seinen Zuhörern Ideen abwog, wie diese am besten zu händeln sei. Dass der ausgebildeten Bibliothekarin, die nicht mehr flexibel und fit genug ist, um im Wettbewerb um Stellen zu bestehen, die ehrenamtliche Betreuung einer städtischen Bibliothek neben ihrem Hartz VI Bezug angeboten werden soll, damit sie kein inhaltsleeres Leben führen muss und immerhin etwas tun könne dafür, dass der Staat sie alimentiere, war für mich der erste Schock. Der zweite Schock war die Antwort auf die selbst gestellte Frage, was man denn nun mit alle den Menschen machen solle, die voraussichtlich nie mehr Arbeit finden werden und nicht qualifiziert genug seien, einen Arbeitsplatz auszufüllen. Verhungern lassen können wir sie nicht, das ist wohl klar. Ich verstand nicht, warum das klar sein sollte, wenn alles andere, jeder Anspruch auf ein Leben in Menschenwürde so einfach über Bord geworfen werden konnte.
Die Schocks aber über das, was in der Wirklichkeit des Sozialen inzwischen passiert war, kamen für mich immer wieder und an ungeahnten Orten. Ich hielt in Mainz einen Vortrag über die Bedeutung der Elternarbeit im Zusammenhang mit Kindeswohlgefährdung. Meine ZuhörerInnen waren alle entweder beim Jugendamt oder aber in Kinderschutzeinrichtungen tätig. Meine zentrale These war, dass Eltern im sehr vielen Fällen, auch in Fällen von Vernachlässigung und Gewalt, nicht die eigentlichen, existentiellen Feinde, sondern die zumindest potentiellen – Freunde ihrer Kinder seien. Ich behauptete, dass zwischen ihnen und uns als Professionellen insofern eine Interessengleichheit bestehe, als sie wie wir vor allem eines wollten, dass es den Kindern gut gehe. Was auch immer in der Realität dazu geführt habe, Kinder zu vernachlässigen, mit Gewalt zu bedrohen oder Gewalt anzuwenden, diese Lösungen seien nicht ihre Wunschlösungen für die Erziehung ihrer Kinder. Sie seien vielmehr aufgrund ihrer schwierigen Lebenssituation – materieller und/oder psychosozialer Art dazu gekommen, diese gefährlichen Erziehungsmittel zu benutzen und hätten auch in vielen Fällen durchaus selber ein Interesse daran, zu lernen, anders mit ihren Kindern umzugehen und eine positive Beziehung zu ihnen zu entwickeln. Wenn man die Eltern dazu gewinnen könne, bessere Eltern werden zu wollen und zu werden, würde man für die Kinder das Allerbeste erreichen können.
Ich plädierte also für Kooperation mit diesen Eltern, dafür, sie als Partner zu gewinnen, ihnen nicht von vorne herein Böswilligkeit zu unterstellen und vor allem auch die immer auch vorhandenen – positiven Seiten ihrer bisherigen Elternschaft anzuerkennen und wahrzunehmen.
Noch während ich sprach, spürte ich aus dem großen Zuhörerraum eine Eiseskälte auf mich zu kriechen. Ich begriff es erst in der Diskussion: Ich war unter lauter VerfechterInnen der neuen harten Linie gefallen, die Null-Toleranz und konsequente Sanktionierung im Umgang mit solchen Eltern forderten und im angeblichen Interesse der Kinder auch praktizieren wollten. Auf meinem Rednerpult lag das Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG), das offenbar ganz alleine und ungehört das Lied von der Menschenwürde der Eltern und von der Notwendigkeit, eines kooperativen, herrschaftsfreien Arbeitsbündnisses anstimmte, welches erforderlich sei, wenn man Kindern wirklich helfen wollte. Ich musste feststellen, dass ich in einer sozialarbeiterischen Wirklichkeit angekommen war, die ich glaubte, vor 20 Jahren mit der Heimkampagne und den autoritären Fürsorgestrukturen der Nachkriegszeit hinter mir gelassen zu haben. Ich wurde in innigster Feindschaft entlassen. Nur Herr Dr. Wiesner stimmte mir vollen Herzens zu. Ich fragte mich, ob wir beide die einzigen seien, die noch diese offenbar überholte Kuschelpädagogik vertraten.
Als auf einem Ehemaligen-Treffen unseres Fachbereichs, die Ehemaligen, die inzwischen als Geschäftsführer von Wohlfahrtsverbänden Karriere gemacht hatten, als Botschaft für die Studentenschar meinten, die Fächer Recht und BWL seinen diejenigen gewesen, die sie am besten auf ihre heutige Praxis vorbereitet hätten, wagte mein Kollege Rainer Hirt die Nachfrage, ob er hier im falschen Film sei. Er habe bisher angenommen, dass Soziale Arbeit etwas mit Menschen zu tun habe.
Ähnlich ging es mir einige Monate später auf einer Tagung zur Hilfeplanung in München. Hilfeplanung nennt man das prozesshafte Verfahren der Hilfe zur Erziehung, bei dem die betroffenen Klienten mit den Fachleuten zusammen Probleme besprechen und gegenseitig hinterfragen und dann gemeinsam Ziele und Wege zur Bewältigung dieser Problemlagen entwickeln. Ich hatte die Hilfeplanung meinen Studenten als Prozess der Klientenbeteiligung vermittelt, als im Gesetz festgeschriebene Aufforderung, die Klienten als Koproduzenten der Hilfe zu sehen und zu befähigen und ein partizipatives Vorgehen und Umgehen mit den Eltern, Kindern und Jugendlichen zu praktizieren. Die Hilfeplanung freilich noch eine Reihe anderer Funktionen: Sie ist zu nutzen als transparentes und verbindliches sowie immer wieder zu überprüfendes Planungsinstrument, als Evaluationsinstrument zur Überprüfung der Vereinbarungen, der Fortschritte und der Ergebnisse, als Grundlage für den Verwaltungsakt , der die Gewährleistung der Hilfe ausspricht und garantiert und als Verpflichtung zur Kooperation aller beteiligten Fachkräfte. Aber die Bedeutung des Hilfeplanungsprozesses für die Mitwirkung der Klientel sei am wichtigsten und ausschlaggebend. So formuliert es auch das Gesetz.
Auf der besagten Tagung befand sich unter lauter leitenden Jugendhilfefunktionären und sozialpädagogischen WissenschaftlerInnen auch ein Vertreter der Arbeitsagenturen und wurde von der versammelten Jugendhilfe mit großer Freundlichkeit und Zuvorkommenheit begrüßt. Immer wieder stellten die Anwesenden fest, dass die Hilfeplanung nach KJHG von der Hilfeplanung im Fallmanagement der Arbeitsagenturen gar nicht so weit entfernt sei, was mich völlig irritierte, waren doch auch damals längst die Begrenzungen des Fallmanagements hinsichtlich der Freiwilligkeit und hinsichtlich des partizipativen Umgangs mit den Arbeitssuchenden bekannt. Zu allem Überfluss schien die Mehrheit der Jugendhilfeleute eindeutig an dieser Feststellung Gefallen zu finden, so als würde eine solche Erkenntnis die Sozialpädagogik endlich aufwerten.
Die Differenzen der beiden Planungsprozesse kamen überhaupt nicht zur Sprache. Auf der ganzen Tagung fiel kein Wort über Mitwirkung der Betroffenen, über Partizipation der Klienten, über Beteiligung und Koproduktion. Es ging beim Lobgesang der Hilfeplanung offenbar gar nicht um die Klienten. Es ging ausschließlich um die endlich mögliche Vernetzung und Kooperation der Helfer und Dienstleister. Hier sah man Handlungsbedarf und im Kontext des Instrumentes der Hilfeplanung große Entwicklungschancen und Synergieeffekte.
Ich musste spontan an die damalige Frage meines Kollegen denken. Mit ein paar jüngeren TagungsteilnehmerInnen teilte ich meinen Ärger. Wie sich herausstellte, waren sie alle nur stellvertretend für ihre Chefs anwesend. Offenbar war bei der 2. Charge die entscheidende Botschaft noch nicht angekommen: Wir arbeiten nicht mehr mit sondern für die Klienten und wenn es nicht anders geht auch gegen sie und das dann zu ihrem eigenen Glück.