Soziale Arbeit – Die ignorante Strategie der knappen Kassen

Publiziert am 25.8.2024 von m.s.

Neues als der neoliberalisierten Sozialen Arbeit

Teil 3

Es ist schon fast 10 Jahre her, als ich zusammen mit vielen VertreterInnen der Berliner Jugendämter und Berliner Jugendhilfeeinrichtungen an einer Senatsanhörung teilnahm. Die Betroffenen – darunter etliche Berliner JugendamtsleiterInnen, Vorsitzende der Jugendhilfeausschüsse, VertreterInnen der Parteien die Linke und die Grünen und engagierte MitarbeiterInnen aus der Praxis – stellten die damalige Situation der Berliner Jugendhilfeszene in aller Deutlichkeit dar.
Es war klar: Die Jugendhilfe in den Berliner Jugendämtern stand schon seit längeren unmittelbar vor einer Katastrophe.

In einer gemeinsamen Pressemitteilung vom 6.2.23 der AG Weiße Fahnen (auf der Seite dort etwas herunterscrollen), der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft/Landesverband Berlin und des Deutschen Berufsverband für Soziale Arbeit/Landesverband Berlin heißt es:
Seit über 10 Jahren rufen Fachkräfte um Hilfe und sprechen über die anhaltend katastrophalen Zustände im Berliner Jugendhilfesystem. Wie im November 2022 in der Presse angekündigt, stecken wir jetzt mitten im Kollaps: Einrichtungen können nicht mehr aufnehmen, Notdienste und Jugendämter verbarrikadieren sich teilweise. Es gibt unzählige Forderungen an Jugendhilfeausschüsse, Hilferufe aus den Notdiensten; RSDs kündigen wochen- und monatelange Schließzeiten für Verwaltungsarbeit an; Eltern, Kinder und Jugendliche sind auf sich alleine gestellt …und nichts passiert!“

Die „AG Weiße Fahnen“, entstanden aus der damaligen Initiative der MitarbeiterInnen des Jugendamtes Mitte, kämpft seit Jahren um eine Verbesserung. Ohne durchschlagenden Erfolg, ohne angemessene Resonanz bei den politischen VertreterInnen.
Auch die Demonstration vom Juli 2023 ist ohne nennenswerte Erfolge geblieben: Damals sagte die 2. Vorsitzende des Berufsverbandes der Sozialen Arbeit in einem Gespräch mit dem Tagesspiegel, es brenne aber nicht nur in den Notdiensten, sondern im ganzen System. Während der Corona-Pandemie seien Einrichtungen geschlossen worden, der Bedarf gestiegen. Inzwischen gebe es deshalb zu wenig Plätze in Kinder-, Jugend- und Mädcheneinrichtungen.
Notdienste wie der KND (Kindernotdienst) sind Anlaufstellen in Krisensituationen, Kinder und Jugendliche sollen dort eigentlich nur kurzzeitig für bis zu drei Tage untergebracht werden. Im KND bleiben die Kinder laut einem Bericht des RBB inzwischen aber teils mehrere Monate, weil langfristige stationäre Einrichtungen nicht genügend Plätze haben.

Seither hat sich die Lage kaum verändert.
Ich erinnere mich genau: Auch damals ging die Anhörung aus wie das Hornberger Schießen:
– Der CDU-Vertreter meinte, die Jugendämter seien sich gar nicht einig (er berief sich darauf, dass ein einziger der über 15 anwesenden Amtsleiter bemerkt hatte, er habe keine Probleme und käme mit dem Geld gut zurecht).
– Der SPD-Vertreter meinte, das sei ja alles schön und gut. Aber es gäbe viele Begehrlichkeiten in der Stadt, z.B. im Straßenbau und da sei die Jugendhilfe noch nicht dran.

Ich habe lange nicht ganz verstanden, woher die politischen VertreterInnen unserer Stadt angesichts der geschilderten Problemlagen ein solches Maß an Ignoranz hernahmen. Waren sie taub? Waren sie Menschenverachter?

Dann habe ich es irgendwann verstanden:
Da gibt es das ständige und von allen wie ein Gebet wiederholte Mantra von den „knappen Kassen“. Mit diesem Argument wird alle abgeblockt, seit Jahr und Tag und heute genauso.
Wir alle wissen, dass diese Gesellschaft und auch diese Stadt durchaus Geld genug hätte, diese Katastrophen zu beheben. Die Kassen sind nicht generell knapp. Sie sind gewollt knapp für diejenigen, die aus der Sicht der Politik nicht so wichtig sind.

Und nicht nur das: Es ist eine tief eingewurzelte Ansicht neoliberaler Politik, dass gerade Soziale Arbeit weitgehend solche Aufgaben erledige, die gar nicht wirklich nötig seien, dass sie diese zumindest auf eine Art und Weise erledige, die viel zu viel Geld verschlinge, weil die SozialarbeiterInnen zu weich, zu nachgiebig, nicht hart genug durchgreifen würden. Es gibt die Vorstellung, dass Soziale Arbeit sich ihr Aufgabenpensum und ihre Fälle selbst verschafft, um so als Beruf überleben zu können. Und man meint vor allem, dass KNAPPE KASSEN hier hilfreich sein können, denn sie zwingen angeblich die Soziale Arbeit dazu, sich mehr zu beeilen, sich Lösungen auszudenken, die kostengünstiger sind, sich die ganzen überflüssigen Umwege aus den Köpfen zu schlagen. Das sind die alten neoliberalen Argumente, die ab Hartz IV die Diskussion in der Sozialpolitik beherrschten und die jede Form des Sozialen letztlich für überflüssig, ja für schädlich halten.

Jetzt ist mir klar, warum diese Stadtväter (es waren nur Männer, aber das will nichts heißen, wir hatten auch schon Frauen, die sich der gleichen Ignoranz bedienten) ohne mit der Wimper zu zucken, die Schilderungen der Jugendhilfe-Katastrohen mit einem müden Lächeln überhörten und immer noch überhören. Sie denken sich vermutlich mit einer gewissen Genugtuung: ‚Na das klappt ja prima. Je weniger die bekommen, desto munterer werden sie und lassen sich was einfallen. Und es geht irgendwie ja auch so.‘

Knappe Kassen sind kein Zustand, sie sind eine politische Strategie des Neoliberalismus gegenüber allem, was er für Überflüssig hält.

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Soziale Arbeit – Neuerdings die rechte Hand der Polizei?

Neues als der neoliberalisierten Sozialen Arbeit
Teil 2

Die professionelle Soziale Arbeit möchte, ihrer humanistischen Konzeption entsprechend, Menschen bei der Bewältigung ihres Lebens und damit bei der Lösung der Probleme unterstützen, die sie daran hindern. Das schließt bei den meisten Klienten auch die Notwendigkeit ein, auf eine Verbesserung der Lebensbedingungen einzuwirken.
Ziel ist es, dass es den Betroffenen gelingt, die vorhandenen Probleme in einer Weise zu bewältigen, die ihre Lebenssituation subjektiv und objektiv verbessert. Dabei ist die „Hilfe zur Selbsthilfe“ das zweite zentrale Ziel der professionellen Sozialen Arbeit. Ziel ist es, dass die Betroffenen durch die Unterstützung in die Lage versetzt werden, zukünftig ihr Leben eigenständig und in einer ihrem Wohl angemessenen Weise zu bewältigen.

Strafe, Druck sind keine sozialpädagogischen Mittel. Sie setzten den anderen unter Druck, dem er pragmatisch wahrscheinlich irgendwann nachgeben wird. Soziale Arbeit will keine Erfolge und Veränderungen erzwingen, sondern den Menschen eine Chance geben, sich zu entwickeln und dabei auch mögliche und für ihn hilfreiche Veränderungen selbst zu vollziehen. Ihr geht es um das Wohl und die Emanzipation der Betroffenen.

Dem neoliberalen Staat dagegen geht es um die Anpassung der Menschen an die Normen, wobei die Bereitschaft, – zu welchen Bedingungen auch immer – Erwerbsarbeit zu übernehmen als entscheidender Schritt zur Normanpassung gesehen wird.

Diese neoliberale „Modernisierung“ hat zu problematischen Verschiebungen im Aufgabenbereich der Sozialen Arbeit geführt, die aber von den Trägern der Sozialen Arbeit (z.B. Caritas, Arbeiterwohlfahrt, kleinere freie Träger) hingenommen werden, weil der Staat diese Aufgabenfelder gut finanziert und eine Ablehnung dieser Aufgaben finanzielle Probleme für die betriebswirtschaftliche Bilanz, wenn nicht die Insolvenz bedeuteten würde.

Immer öfter werden professionelle SozialarbeiterInnen mit Aufgaben belastet, die sie in die Nähe der staatlichen Ordnungspolitik bringen.

MitarbeiterInnen insbesondere aus Drogeneinrichtungen und aus der Betreuungsarbeit von Flüchtlingen berichten:

  • In unserem Stadtteil sollen wir sozusagen „Kontrolle laufen“, und registrieren, ob Drogensüchtige anzutreffen sind. Die Berichte gehen regelmäßig an die Senatsverwaltung und werden somit der Öffentlichkeit einschließlich der Strafverfolgungsbehörden zugänglich gemacht. Wir Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter werden so unversehens zu Hilfspolizisten, die dem Bezirk regelmäßig Konsumorte melden und damit berichten sollen, wo genau sich Drogen Konsumierende aufhielten.
  • Obwohl eine anonyme Beratung für Drogensüchtige auf unserer Webseite angeboten wird, lehnt die Behörde die anonyme Beratung Süchtiger ab, da diese Fälle nicht dokumentiert werden können. Beratung gibt es sozusagen nur im Austausch gegen die persönlichen Daten.
  • Die Polizei möchte gerne die Pässe minderjähriger Flüchtlinge kassieren, um deren wahres Alter herauszufinden und erwartet von den SozialarbeiterInnen in den Unterkünften bei diesem Ansinnen Unterstützung.
  • Von unserem arabisch sprechenden Kollegen erwartet die Polizei, dass er mitgehörte arabische Gespräche heimlich festhält und dann übersetzt. Diese Spitzelaufgaben gegenüber unserer Klientel lehnen wir ab.
  • Weil ein Kollege von uns in der Flüchtlingsarbeit nicht aussagt, droht man ihm mit dem Vorwurf der unterlassenen Straftatsvereitelung. Aber wenn KlientInnen sich uns nicht mehr anvertrauen können, dann können wir auch gleich aufhören.
  • Es gibt inzwischen etliche Träger, die von uns erwarten, mit der Polizei zusammen zu arbeiten. Insgesamt besteht die Tendenz, das Auftreten der Polizei im Falle von Krisen für nützlich und für eine Art Erziehungsmaßnahme zu halten.

Ein weiteres wichtiges Anliegen unseres neoliberalen „Sozialstaates“ ist es, dass diejenigen Menschen möglichst frühzeitig erkannt werden, von denen vielleicht – aus Sicht des Staates – einmal eine Gefahr für die Gesellschaft oder für ihn selbst ausgehen könnte. Das nennt der neoliberale Staat Prävention. Und hierfür kann er die Kompetenzen der SozialarbeiterInnen gut gebrauchen.
Im Verständnis der professionellen Sozialen Arbeit ist Prävention etwas ganz anderes: Präventive Ansätze professioneller Sozialer Arbeit versuchen Lebenslagen zu verbessern, damit eine Gefährdung oder Problematik gar nicht erst entstehen kann.

Unter dem Label „Prävention“ im Rahmen der neoliberalen Transformation werden Ansätze entwickelt, die letztlich nichts sind als Versuche, verdächtigte Personen oder Gruppen, von denen man spätere Probleme für die Gesellschaft erwartet, durch rechtzeitige Kontrolle im Griff zu behalten.
In die heute übliche Praxis, die man mit dem Begriff „Gewaltprävention“ umschreibt, wird nun die Soziale Arbeit intensiv einbezogen.

Die Übertragung von Aufgaben der „Gewaltprävention“ ist ein Versuch, Soziale Arbeit in ihren Aufgaben umzudefinieren und auf den Kopf zu stellen, denn Kriminalprävention bedeutet für die Soziale Arbeit einen grundlegenden Perspektivenwechsel: Weg von der solidarischen Unterstützung hin zur Stärkung ordnungspolitischer Gesichtspunkte. Das aber fügt der Sozialen Arbeit einen großen Schaden zu, denn eine enge Zusammenarbeit mit der Polizei ist immer mit einem Vertrauensverlust gegenüber den KlientInnen verbunden.

Mitteilung einer Sozialarbeiterin, 29 Jahre alt, seit 5 Jahren in der Suchthilfe tätig:
„Vor einigen Jahren startete ein neues Projekt bei unserem Träger der Suchthilfe. Die hohe Zahl der neu in Berlin ankommenden Geflüchteten und die spezifischen Herausforderungen in den Berliner Bezirken erforderten eine Erweiterung und Öffnung der Angebote. Den Gefahren des Alkohol- und Drogenmissbrauchs mit seinen Begleit- und Folgeproblemen wie schweren Infektionen und Gesundheitsschäden, Sucht, Gewalt und Kriminalität unter den Flüchtlingen und im öffentlichen Raum in Berlin sollte entgegengewirkt werden. Generell wird davon ausgegangen, dass das Drogenkonsum- und Suchtrisiko bei Geflüchteten erhöht ist, da sie die Flucht, das schwierige Ankommen und Leben in Deutschland sowie traumatische Erlebnisse bewältigen müssen und Drogenkonsum teilweise bereits im Herkunftsland praktiziert wurde. Durch frühzeitige Intervention soll dem Integrationshemmnis „Sucht“ und der Einbindung in kriminelle Milieus bzw. der Verfestigung kriminellen Verhaltens entgegengewirkt werden.
Erstmals wurde vor einigen Jahren dann in der Satzung des Trägers neben dem Begriff „Gesundheitsförderung“ auch der Begriff „Kriminalprävention“ eingeführt. Hintergrund ist, dass das BAMF Gesundheitsförderung grundsätzlich nicht fördert, anders als Kriminalprävention (also: ein trojanisches Pferd).
Die Übernahme dieses Projektes hatte weitreichende Konsequenzen: Der Träger muss zukünftig in allen Arbeitsbereichen darauf hinweisen, dass er nicht nur Gesundheitsförderung, sondern auch Kriminalprävention betreibt. Die Begriffe „Gesundheitsförderung“ und „Kriminalprävention“ werden gleichgesetzt.
Die Kolleg*innen lehnten den Begriff „Kriminalitätsprävention“ damals mehrheitlich aus guten Gründen ab. Er steht für die Versicherheitlichung der Sozialen Arbeit. Wenn überhaupt, muss aus Sicht der Sozialarbeitenden Integrationshilfe und nicht Kriminalitätsprävention im Vordergrund stehen. Kriminalitätsprävention ist stigmatisierend, zudem diskriminierend und verharmlosend. Viele Drogengebraucher*innen haben keinen Zugang zum Gesundheitssystem. Die Illegalisierung von Drogen zwingt Drogengebraucher*innen in die Kriminalität und die damit verbundenen (gesundheitlichen) Risiken. Entkriminalisierung ist daher eine zentrale Forderung der Sozialen Arbeit im Bereich der Suchthilfe und sollte es auch bleiben.

Nach dreimonatiger Diskussion über den Begriff und der einstimmigen Aufforderung der Belegschaft an die Geschäftsführung, den Begriff von der Website und aus den Statuten zu entfernen, wurde lediglich mitgeteilt, dass dies nicht möglich sei. Der Begriff bleibe, andernfalls könne der Träger zukünftig nicht bestehen, weil der Staat die Finanzierung dann aussetzen würde.“

Was hier geschieht, ist quasi eine Vereinnahmung Sozialer Arbeit durch Kriminalpolitik, ihr Missbrauch als Ordnungswächter.

Ein Sozialarbeiter kommentiert:

„Wir SozialarbeiterInnen sollen zu den Jugendlichen Vertrauen aufbauen, für ihre Nöte und Sorgen offen sein. Und dann wird verlangt, dass wir sie als potentielle Gefährder melden? Sollen wir dies tun, weil niemand sonst diese Jugendlichen erreicht und wir durch Vertrauensaufbau Kontakt zu ihnen bekommen? Da dreht sich mir der Magen um.“

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Neues als der neoliberalisierten Sozialen Arbeit

Soziale Arbeit – wo der Neoliberalismus den Untergang des Sozialen übt“ 

Ich habe unter diesem Titel eine kleine Artikelserie erstellt für eine Leserschaft, die nicht vom Fach ist. Ich dachte mir, es wäre an der Zeit, kritischen Menschen dieser Gesellschaft deutlich zu machen, dass die Soziale Arbeit von den gegenwärtigen Entwicklungen ebenso, vielleicht sogar besonders hart, betroffen ist.
Dabei bin ich mir darüber im Klaren, dass für viele auch für kritische Zeitgenossen Soziale Arbeit weder im Bewusstseinshorizont existiert, und selbst wenn, dann dort nicht als ein gesellschaftliches Feld gesehen wird, das eigentlich vom professionellen Anspruch her im Widerspruch steht zu den Tendenzen, die unsere Gesellschaft derzeit ertragen muss (erträgt, sag ich mal).

Nun habe ich mir gedacht: Eigentlich kann es nicht schaden, diese Aufklärungsartikel auch hier zu veröffentlichen, denn vieles davon ist ja auch innerhalb der Profession nicht gerade alltäglicher Talk.

Deshalb hier der erste Text

Teil 1
Soziale Arbeit – was hat sie mit den gegenwärtigen politischen Entwicklungen zu tun?

Die wenigsten Menschen nehmen Kenntnis von der Sozialen Arbeit und dem, was sie tut – noch weniger von dem, was man ihr antut. Soziale Arbeit ist für viele Mitmenschen etwas, mit dem sie nichts zu tun haben und auch nichts zu tun haben wollen. Sie ist schließlich für andere da. Für die Verlierer dieser Gesellschaft?
In Zeiten, wo es passieren kann, dass man selbst plötzlich zu den Verlierern dieser Gesellschaft gehört, sollte man sich lieber nicht über diesen gesellschaftlichen Bereich erheben.

Wer sich ein Bild von der gesellschaftlichen Bedeutung machen will:
Allein im Bereich der Jugendhilfe (ein wichtiger Teil der Sozialen Arbeit) waren 2022 in Deutschland rund 1,3 Mio. Personen beschäftigt, davon etwa eine halbe Million an einer Fachhochschule ausgebildete SozialarbeiterInnen. Damit ist der Personalbestand dort höher als in anderen bedeutenden Branchen in Deutschland, wie der Landwirtschaft oder der Automobilindustrie.

Die Jugendhilfe ist in vielen Arbeitsfeldern tätig, von der sogenannten Heimerziehung über das Adoptionswesen, die Jugendarbeit, die Unterstützungen der Familien bei der Erziehung bis z.B. zur Schulsozialarbeit, das Jugendamt nicht zu vergessen. Wie viele Kinder, Jugendliche, junge Erwachsene und Familien mit Kindern die Jugendhilfe erreicht, kann nur geschätzt werden. Die hoheitlichen Aufgaben, das sind die gesetzlich festgeschriebenen Hilfen und Betreuungen von besonders vulnerablen Personengruppen, betreffen laut Statistik des Bundesamtes ungefähr 1,5 Millionen Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene im Jahr. Dazu kommen 3,9 Millionen Kinder, die in Kindertagesstätten betreut werden und mehrere Millionen Kinder und Jugendliche die im Rahmen der Jugend- und Freizeitarbeit mit Angeboten der Jugendhilfe in Kontakt sind.
Das heißt, dass von den ca. 14 Millionen Kindern und Jugendlichen in Deutschland mindestens ein Drittel in Berührung oder auch intensiveren Kontakt mit der Jugendhilfe kommt.

Das Haushaltsvolumen allein der Kinder- und Jugendhilfe betrug 2022 rund 66 Milliarden Euro (wobei der Kindertagesstätten-Bereich die meisten Kosten ausmachte, 68,8%).
Das klingt nach viel Geld. Faktisch ist es jedoch so, dass der Zuwachs der bereitgestellten Mittel nicht im Ansatz mit der Zunahmen der Problemlagen der Kinder und Jugendlichen in Deutschland Schritt hält. Die Zunahme der gesellschaftlich bedingten Problemlagen von Familien mit Kindern, von Jugendlichen und Kindern selbst ist allgemein bekannt. Dennoch bemüht man sich, die Kosten zu senken, die Personaldecken auszudünnen, Hilfen zu verkürzen, Stellen einfach unbesetzt zu lassen, Hilfen immer unzugänglicher zu machen, Hilfemaßnahmen nur noch dann durchzuführen, wenn die Betroffenen ein hohes Maß an Mitarbeitsbereitschaft zeigen und außerdem ganze Bereiche, wie die Jugendarbeit, einfach auszuhungern.
Das soll offenbar auch so sein: Im neoliberalen Washington Consensus, von dem der englische Ökonom John Williams erstmals 1989 sprach, wurden zehn wirtschaftspolitische Empfehlungen formuliert, um letztlich die Gesellschaft dem Marktradikalismus zu unterwerfen. Die Empfehlungen umfassten laut Wikipedia „marktwirtschaftliche Maßnahmen wie Handelsliberalisierung, Privatisierung und Finanzliberalisierung. Sie beinhalteten auch Fiskal- und Geldpolitiken zur Minimierung von Haushaltsdefiziten und Inflation“.
Der Einschränkung der Staatsausgaben für Gesundheit, Bildung, Soziales kommt dabei, wie Staub-Bernasconi feststellt, enorme Bedeutung zu.

Die gegenwärtige neoliberale Politik in Deutschland hat vor Jahren ganz in diesem Sinne beschlossen, die Gelder für den Sozialbereich überhaupt und für die Jugendhilfe im Besonderen zu deckeln, nach Möglichkeiten zu reduzieren und nicht mehr einem aus ihrer Sicht „erfundenen“ Bedarf anzupassen. So ist die Soziale Arbeit und speziell die Jugendhilfe seit Beginn der neoliberalen Politik (etwa seit der Hartz-IV Gesetze) ein ständiges Opfer einer irrationalen Sparpolitik, die innerhalb des Tätigkeitsfeldes immer wieder zu partiellen Katastrophen führt.
Dass die Kosten dennoch steigen, verärgert die Politik sehr. Aber der Bedarf steigt ständig an. Und da die Leistungen der Jugendhilfe großenteils gesetzlich geregelt sind, hat der Staat wenig Chancen, aus dieser „Misere“ herauszukommen.

In Coronazeiten war besonders deutlich, wie der Staat mit diesem „Stiefkind“ umgeht. Bis auf die Bereiche, wo die Bevölkerung flächendeckend von Kürzungen betroffen gewesen wären (insbesondere die Kindertagesstätten) und dort, wo gesetzliche Vorgaben bestimmte Leistungen erzwingen, hat sie alles andere nicht mehr beachtet. Die VerliererInnen der Gesellschaft, die sozial Benachteiligten, Menschen in Lebenskrisen, Menschen in Armut und alleinerziehende Mütter waren ihr ziemlich gleich.

Eine aktuelle Studie zu den Folgen der Corona-Maßnahmen für den Bereich der Jugendhilfe (Alsago und Meyer 2023: „Prekäre Professionalität“) stellt fest, dass der Bedarf an Unterstützung in allen Bereichen der Jugendhilfe nach Corona stark angestiegen ist.
Sie berichten: „Stark oder sehr stark ge­stiegene Zahlen verzeichneten die Inobhutnahme-Stellen (58,4 %), der Allgemeine Soziale Dienst (51,5 %), Beratungsstellen (47,1 %), die Sozialpädagogische Fa­milienhilfe (30,5 %), die Sucht-/Drogenhilfe (25,4 %), die Arbeit mit arbeitslo­sen Menschen (25 %) sowie die Heimerziehung nach SGB VIII (20,7 %). Während der Corona-Zeit aber wurden die Kontakte in fast allen Bereichen um etwa 50% zurückfahren. Heute, zwei Jahre nach Beendigung der Corona-Maßnahmen ist der vorige Stand der Leistungen keineswegs wieder erreicht worden und das, obwohl gerade durch Corona der Bedarf drastisch angestiegen ist. Die Folgen zeigen sich inzwischen immer deutlicher.  Laut der neu veröffentlichten Trendstudie Jugend in Deutschland ist zum Beispiel jeder zehnte Jugendliche aktuell wegen psychischer Störungen in Behandlung.

Offenbar war die Corona-Entwicklung eine willkommene Gelegenheit, in diesem Bereich drastisch zu sparen. Aber Corona war nicht allein der Grund: Die Fachleute sind sich einig, dass Corona die vorhandenen Probleme nicht neu hervorgerufen, aber die schon lange bestehenden Problemlagen erheblich verstärkt hat.
Was z. B. mit den Jugendzentren in Deutschland los ist bzw. was ihnen und den betroffenen Kindern und Jugendlichen seit vielen Jahren vom Staat angetan wird, zeigt eindrücklich der folgen Ausschnitt eines Interviews:

Kurzfassung eines Interviews mit dem Mitarbeiter (44 Jahre) eines Jugendzentrums in einem größeren, sozial belasteten Wohngebiet in Berlin, veröffentlicht 2023 in der Berliner Zeitung unter dem Titel Marzahn-Hellersdorf – Berliner Sozialarbeiter warnt: „Wir haben immer mehr Kinder, die sich selbst verletzen“. Der Leiter der Einrichtung schildert die Situation in seinem Jugendzentrum:
„Den Kindern und Jugendlichen in Berlin scheint es zunehmend nicht gut zu gehen. Einiges deutet darauf hin: Sei es die Zunahme von Jugendgewalt oder psychischen Erkrankungen, seien es Krawalle wie an Silvester, als Teenager Brandsätze auf Polizisten und Feuerwehrleute warfen und eine ganze Stadt sich fragte, wie das passieren konnte. Die Jugendlichen leiden unter einer massiven Perspektivlosigkeit, unter körperlicher Verwahrlosung, sexuellen Übergriffen. Es gibt nicht selten Suizidgedanken unter ihnen. Aber wir im Jugendzentrum können oft nur noch eine Notversorgung leisten.
Die meisten der Kinder wohnen hier in den Plattenbauten, etwa die Hälfte hat einen Migrationshintergrund. Ansonsten sind sie sehr verschieden. Und sie kommen nicht nur aus sogenannten Problemfamilien. Die Eltern sind oft Empfänger von Bürgergeld, Studenten und Geflüchtete.
Was aber auffällt, ist, dass es immer häufiger Kinder gibt, die nicht mehr nach Hause wollen, weil sie Angst haben, sich nicht wohlfühlen.
Eigentlich müssten hier fünf ausgebildete Vollzeitkräfte arbeiten. So sieht es das Jugendamt für eine Einrichtung dieser Größe vor. Im nächsten Doppelhaushalt für Berlin sind aber nur Mittel bewilligt, die bei uns für drei Stellen reichen. Wir versuchen das auszugleichen, aber es reicht nicht. Es kommen gleichzeitig immer mehr Kinder zu uns.
Ich denke, wir kriegen jetzt erst mit, was die Corona-Pandemie eigentlich bewirkt hat. Wir haben Drittklässler, die können nicht richtig schreiben. Wir haben Zweitklässler, die können nicht richtig sprechen. Wir würden gerne jeden Tag Hausaufgabenhilfe anbieten, aber auch das können wir nicht.
Wir haben auffällig viele Kinder, die sich selbst verletzen, sich ritzen oder draußen so lange gegen Gegenstände schlagen, bis ihre Hand blutet. Und die erzählen, dass sie nicht wissen, was sie mit ihrem Leben anfangen sollen, wo in diesem Leben ihr Platz ist. Auch das nimmt leider zu. Aber woran das liegt, können wir leider auch nur erfahren, wenn wir den Raum und das Personal dafür haben, um zum Beispiel öfter eine Gesprächsrunde speziell für solche Themen anzubieten.
Ich merke aber: Wenn Kinder fünf, sechs Jahre lang zu uns kommen, dann sind sie nicht mehr so. Weil sie hier lernen, über ihre Bedürfnisse zu sprechen und ihre Talente entdecken. Tanzen zum Beispiel oder Theater. Das können sie hier ausleben, anstatt auf der Straße Randale zu machen, Ärger mit der Polizei und Stress mit den Eltern zu bekommen.
Vor kurzem haben mehr als 70 Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen Alarm geschlagen und mehr finanzielle Unterstützung gefordert. Die Leute wundern sich immer, warum es so viele Gewaltexzesse unter Jugendlichen gibt, gleichzeitig gewährt man der Jugendhilfe zu wenig Mittel. Ich frage mich: Was denkt ihr eigentlich, wo die Prävention stattfindet? Wenn man keine Gewalt an Silvester will, dann muss man auch kontinuierlich etwas dafür tun.“

Soziale Arbeit war also nie das Lieblingskind irgendeiner unserer Regierungen und ist es schon gar nicht heute. Sie wurde mehr oder weniger ungeduldig bedient, und wenn es ans Sparen ging, war sie stets bei den ersten, die bluten mussten. Und die Zukunft wird noch ganz anders mit ihr umgehen: Irgendwo muss das Geld für die Rüstung ja herkommen!

So mancher meint, SozialarbeiterInnen, das seien doch die, die die Kinder ins Heim stecken oder die, die geholt werden, wenn es irgendwo mal wieder brennt zwischen Jugendgangs. Viele sehen in ihr den rechten Arm der Staatsgewalt. Soziale Arbeit hat als Profession die Aufgabe, Menschen, insbesondere die Verlierer der Gesellschaft, dabei zu unterstützen, ihr Leben so zu bewältigen, dass sie es autonom und in Würde meistern können. Sie hat auch die Aufgabe, die Lebensbedingungen der Betroffenen zu verbessern so weit es der politische Rahmen zu lässt. Unter den neoliberalen Bedingungen des Aktivierenden Staates ist es für die SozialarbeiterInnen sehr schwer ihr professionelles Konzept durch- und umsetzen.

Wie kaum ein anderer gesellschaftlicher Bereich ist die Soziale Arbeit ein Spiegelbild unserer Gesellschaft und zeigt wie ein Seismograf die aktuellen politischen Entwicklungen an. Sie ist Teil des Staates und gleichzeitig – wie niemand sonst – mit den Schicksalen und Problemen derjenigen Menschen konfrontiert, die in dieser Gesellschaft eben nicht zu denen gehören, die leistungsstark sind und damit das große Los gewonnen haben. In ihrer Arbeit werden die SozialarbeiterInnen ständig mit dem konfrontiert, was diese Gesellschaft anrichtet. Niemand hat so intime und spezielle Kenntnisse über das, was bei uns mit Menschen passieren kann. Eigentlich liegt dort ein riesiger Schatz an Wissen und Erfahrung vor, den aber in dieser Gesellschaft offenbar keiner haben will. Was sie wissen und denken wird nicht erfragt. Dieses Wissen ist wohl auch nicht erwünscht.

Die neoliberale Ideologie hat die Soziale Arbeit wie auch alle anderen Bereiche des Sozialen – vom Gesundheitswesen über die Pflege, die Altenarbeit und die Schulen – zu Marktereignissen degradiert, die sich nicht unterscheiden von jedem Industriebetrieb, der nur sinnvoll scheint, wenn er auch Gewinn abwirft. Heute soll die Soziale Arbeit sich nicht mehr um die Sorgen und Probleme der Menschen kümmern, sondern nur noch darum, dass Menschen sich an die vorgegebenen Normen halten und dass sie möglichst in der Lage sind, einer – egal welcher – Erwerbstätigkeit nachzugehen und damit dem Staat nicht mehr aufs Säckel zu fallen. Aus einer humanistischen Konzeption, wie sie die Soziale Arbeit spätestens seit etwa 1970 versuchte umzusetzen, wird derzeit immer mehr ein Domestikationskonzept, das Menschen zu ‚SelbstunternehmerInnen‘ erziehen möchte, die ganz allein selbst für sich zu sorgen haben und auch allein die Verantwortung tragen, ob sie im Leben zurechtkommen.

Weiter geht’s demnächst mit: „Soziale Arbeit – Neuerdings die rechte Hand der Polizei?

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So aktuell wie vor 12 Jahren, leider!

Zufällig fiel mir gestern ein Beitrag von mir „in die Hände“, den ich 2012 in Innsbruck auf der österreichischen Armutskonferenz gehalten habe.

Impulsreferat auf der Armutskonferenz 2012 in Salzburg:

https://www.youtube.com/results?search_query=seithe+Armutskonferenz+Innsbruck+2012

Unglaublich: Ich hätte den Beitrag genauso gestern halten können.

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Was habe ich aus Dresden mitgebracht?

zunächst:

die beruhigende Erfahrung, dass es unter Studierenden auch heute aufgeweckte, kluge, kritische und lebensfrohe Leute gibt, die sich nicht so schnell geschlagen geben werden….

und die

die Freude darüber, dass es unter den Lehrenden auch heute noch kritische, scharf denkende und Mut machende KollegInnen gibt …

dann: sehr interessante Bemerkungen der Studierenden aus den Diskussionen…
zum Beispiel:

„Warum wehrt sich keiner? Haben die sich schon alle an die heutigen Verhältnisse gewöhnt?
„Es gibt Leute, die finden das Gegenwärtige furchtbar, aber sie beschweren sich nicht und wehren sich nicht, weil sie befürchten, jede Veränderung würde vielleicht von Schlimmeres bringen.“

Eine Sozialarbeiterin erzählte von ihren Erfahrungen in einem Seniorenheim:                              
„ Wer bestimmte Tätigkeiten nicht im vorgegebenen Zeitraum schafft, wird ausgeschimpft und auch beschuldigt. Ein alter Mann hatte 20 sec. Zeit, um selbständig mit seinem Rollator zum Speisesaal zu kommen. Schaffte er das nicht, wurde er ausgeschimpft und er durfte nicht mehr in den Saal, kriegte sein Essen im Zimmer.    
20 Sekunden sind für seinen Weg bis in den Speisesaal eingetaktet. Mehr nicht. Das ist Aktivierung im Altersheim.“


und :

  • Die wunderbare Erfahrung, dass man auch heute noch mit Studierenden irgendwo in einer Kneipe sitzen und diskutieren kann, bis die Bedienung einen rauswirft, weil sie den Laden dicht machen will.

Danke an die Leute von der Ev. Hochschule Dresden!

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Soziale Arbeit und Neoliberalismus heute

Dresden Ev. FH  17.4.24

Prof. Dr. M. Seithe

Ausgangsmotivation für mein erneutes Engagement in Sachen Soziale Arbeit und Neoliberalismus 


Als ich im vergangenen Mai eingeladen wurde, in einem Seminar der der ASH in Berlin etwas über die gegenwärtigen Probleme der Sozialen Arbeit aus meiner Sicht zu erzählen, machte ich eine für mich erschütternde und für meine jetziges Engagement wichtige Erfahrung:

  • Die Studierenden waren alle konzeptmäßig auf das übliche professionelle Konzept der Sozialen Arbeit eingestellt
  • Sie gingen davon aus, dass in der Praxis alles etwas schwieriger würde, weil es wenig Geld gibt und die Soziale Arbeit jetzt auch für diese Situation verantwortlich handeln müsse
  • Sie erwarteten aber alle, dass man auch heute, bei etwas gutem Willen durchaus noch eine qualifizierte und den humanistischen Vorstellungen der professionellen Soziale Arbeit entsprechende Praxis gestalten könne.

Für mich wurde klar:

  • Sie waren nicht oder schlecht auf das vorbereitet, was wirklich in der Praxis auf sie wartet.
  • Mit den Herausforderungen der neoliberalen Transformation hatten sie sich im Studium nicht oder nur marginal auseinandergesetzt. Sie brachten diese nur mit den Begriffen Sparen, auf die Kosten achten etc. zusammen.
  • Der Begriff Neue Steuerung war nicht wirklich klar und dass die Transformation mit der Ideologie des aktivierenden Staates zu tun hat und was das heißt, war mehr oder weniger unbekannt.

Deshalb arbeite ich nun seit fast einem Jahr an meinem neuen Buch-Projekt  „Schwarz auf Weiß: Soziale Arbeit und Neoliberalismus“

Ich werde hier versuchen, meine Schritte nachzuvollziehen, die ich im Rahmen meiner Recherchen und Überlegungen bisher gemacht habe.

Weiterlesen

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Fragebogen zur Lage der Praxis Sozialer Arbeit im Neoliberalismus

Wer macht mit? 

https://www.umfrageonline.com/c/ytrgtta3

Als ich im vergangenen Mai eingeladen wurde, in einem Seminar der ASH in Berlin, etwas über die gegenwärtigen Probleme der Sozialen Arbeit aus meiner Sicht zu erzählen, machte ich eine für mich überraschende Erfahrung:

  • Die Studierenden waren alle konzeptmäßig auf das übliche professionelle Konzept der Sozialen Arbeit eingestellt
  • Sie gingen davon aus, dass in der Praxis alles etwas schwieriger würde, weil es wenig Geld gibt und die Soziale Arbeit jetzt auch für diese Situation verantwortlich handeln müsse
  • Sie erwarteten aber alle, dass man auch heute, bei etwas gutem Willen durchaus noch eine qualifizierte und den humanistischen Vorstellungen der professionellen Soziale Arbeit entsprechende Praxis gestalten könne.

Für mich wurde klar:

  • Sie waren nicht oder schlecht auf das vorbereitet, was wirklich in der Praxis auf sie wartet.
  • Mit den Herausforderungen der neoliberalen Transformation hatten sie sich im Studium nicht oder nur marginal auseinandergesetzt. Sie brachten diese nur mit den Begriffen Sparen, auf die Kosten achten etc. zusammen.
  • Der Begriff Neue Steuerung war nicht wirklich klar und dass die Transformation mit der Ideologie des aktivierenden Staates zu tun hat und was das heißt, war mehr oder weniger unbekannt.

Deshalb arbeite ich nun seit fast einem Jahr an meinem neuen Buch-Projekt  „Schwarz auf Weiß: Soziale Arbeit und Neoliberalismus“

Dafür brauche ich dringend Unterstützung von Leuten, die in der sozialarbeiterischen Praxis tätig sein. Es hat sich einiges geändert, seit ich das Schwarzbuch Soziale Arbeit geschrieben habe. Deshalb bin ich bei der Beschreibung und Bewertung der Lage auf Unterstützung derer angewiesen, die sie gut kennen und täglich erfahren.
Ich habe einen online-Fragebogen entwickelt, den man mit diesem Link

https://www.umfrageonline.com/c/ytrgtta3

und dann bearbeiten kann.
Er ist nicht so ganz kurz, aber ich hoffe, er ist interessant und spannend, weil er das betrifft, was Ihr täglich auf euch nehmt.

Leider ist beim Einbetten des Links hier auf dem Blog die Titelseite des Fragebogens verloren gegangen. Auf der sollte auch ein Pseudonym und das Arbeitsfeld angegeben werden. Es wäre nett, wenn ihr so nun im ersten Textfeld der 1. Frage einfach zu Beginn schreibt: Osterhase oder Alice oder was auch immer – und dann Drogenberatung, Schuldnerberatung …

Allen, die mitmachen und ihre Erfahrungen (natürlich anonym) zur Verfügung stellen, ganz, ganz herzlichen Dank!

Mechthild  Seithe

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Gelungenes Projekt Sozialer Arbeit

Graphic Novel Siedlung Mühltal

Mathilda Seithe 2024

SIEDLUNG MÜHLTAL Dokumentation eines Projektes der Sozialen Arbeit | Mathilda Seithe (mathilda-seithe.de)

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Soziale Arbeit im Neoliberalismus – ein neuer Roman

Situationen und Personen sind keineswegs frei erfunden, sondern bittere Realität – allerdings anonymisiert.

Auf vielfachen Wunsch meiner Freude und Freundinnen der Gruppe „unverwertbar“ in der kritischen Sozialen Arbeit in Berlin werde ich hier meinen noch nicht veröffentlichten Roman kapitelweise einstellen.

DAS WAR GESTERN, ACKERMANN!

kurze Einführung Der Roman spielt 2005 in Mühlheim an der Ruhr. „Tatort“ der Handlung ist ein großer freier Träger der Sozialen Arbeit, der sich vor einiger Zeit in einen Sozial-Betrieb umgewandelt hat und nun seine neoliberale Konzeption und Geschäftsführung Schritt für Schritt auf dem Rücken der KlientInnen und der MitarbeiterInnen durchsetzt. 

Dieter Ackermann, ein psychologischer Berater im Sozialdienst eines christlichen Trägers, der dort seit 20 Jahren seinen Beruf voller Leidenschaft ausübt und von seinen Klienten hochgeschätzt wird, verliert seinen Arbeitsplatz durch die Umwandlung seines Wohlfahrtsträgers in einen Sozial-Betrieb. Er und seine Arbeit scheinen plötzlich nicht mehr gebraucht zu werden. 

Man steckt ihn in die Planungsabteilung. Dort soll er Anträge schreiben und ausrechnen, wo der Träger Personal- und Sachkosten einsparen kann. Es geht es dem Träger nur noch darum, Gewinn zu erzielen. Die Arbeit, die die MitarbeiterInnen machen, ist ihm egal, Hauptsache es entstehen keine zu großen Kosten. Ackermann kommt es vor, als hätte man ihm den Boden unter den Füßen weggerissen. 

Mit seinen aus der Sicht des neuen Arbeitgebers veralteten und zeitaufwendigen, sprich teuren, Beratungsmethoden, rechnet sich der Lebensberater Ackermann für den Träger nicht mehr. „Das, was Sie da machen, das war gestern, Herr Ackermann. Heute weht ein anderer Wind. Da können wir uns eine solche Geldverschwendung nicht mehr leisten!“, erklären ihm seine Vorgesetzen. […] 

Der Protagonist ist Dieter Ackermann ist 52 Jahre alt. Dieter ist ein kleiner, etwas dicklicher Mann, ein wenig schüchtern, ein wenig unsicher. Er leidet noch immer unter seiner Scheidung vor 8 Jahren. Seine Bemühungen, eine neue Liebe zu finden, waren bisher nicht erfolgreich. Zu seinem Sohn besteht kaum Kontakt, da die Mutter das verhindert. Privat ist Dieter ein wenig deshalb einsam. Nur zu seinem besten Freund Werner, der als Elektriker in einer Baufirma arbeitet, hat er guten Kontakt. Seine ältere Schwester ist Hochschullehrerin in Dresden. Aber sie hat er er zum letzten Mal bei der Beerdigung seines Vaters von etlichen Jahren gesehen. Mit seiner versnobten Verwandtschaft will er nichts zu tun haben. Unter denen hat er als Jugendlicher genug gelitten.

Als psychosozialer Berater aber ist Dieter Ackermann ein ganz anderer Mensch. Er kämpft für seine KlientInnen, ist erfolgreich, selbstbewusst und beliebt bei KollegInnen und KlientInnen. Dieter liebt seinen Beruf über alles. Er ist Berater „nach der alten Schule“ und lässt sich in seiner Arbeit von neumodischen Tendenzen, die auch bei seinem Träger neuerdings immer mehr Verbreitung finden, nicht beeindrucken. Er arbeitet so, dass seien Klienten wirklich etwas davon haben. Alles andere findet er unerträglich.

Von den Kollegen steht ihm Hannes am nächsten, ein Sozialarbeiter, der dafür bekannt ist, dass er bei Missständen und Problemen mit dem Arbeitgeber den Mund nicht hält. Dieter mag ihn, obwohl er selbst eher dazu neigt, Konflikten aus dem Weg zu gehen. Er selbst versucht, nicht anzuecken. Aber für seine Klientel, kann er – wenn es darauf ankommt – kämpfen.

Die kommt aus allen Schichten, und wenn es sein muss, scheut er auch nicht davor zurück, Soziale Arbeit zu machen.

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1. Begegnung mit einem Albtraum

Roman: Das war gestern, Ackermann!    

Ungeliebte Verwandtschaft

Den ganzen Tag über hatte ein feiner Sprühregen die Luft erfüllt, sodass er auf seiner Fahrt von Mühlheim nach Köln ständig den Scheibenwischer anstellen musste. Aber sobald der Regen etwas nachließ, quietschte der und zerrte an Dieters Nerven.

Er war schon gegen 8.00 Uhr losgefahren, damit er pünktlich zur Begräbnisfeier eintreffen würde. Er war froh, dass seine ältere Schwester die Organisation der Beerdigung in die Hand genommen hatte. Was ihn betraf, wurde von ihm nicht mehr verlangt, als diesen Tag einigermaßen gut hinter sich zu bringen und seine Rolle als betroffener Sohn zu aller Zufriedenheit zu erfüllen. Dennoch sah er dem Ereignis mit gemischten Gefühlen entgegen. Nicht wegen des Todes seiner Mutter. Sie hatte lange Zeit an ihrer Krankheit gelitten, und seine Schwester und er waren erleichtert, dass sie nun von ihren Leiden erlöst worden war. Ihr Tod hatte sie nicht überrascht. Aber er hätte sich gewünscht, an diesem Tag allein bei ihr zu sein, um ungestört Abschied nehmen zu können.
Was ihn heute dort erwartete, machte ihn nicht froh. Sein Gesicht verdüsterte sich, wenn er es sich nur vorstellte: All die Leute, die mehr oder weniger trauernd dabeistehen würden, die nahen und fernen Verwandten, die peinlichen Fragen, das Getuschel hinter seinem Rücken.

am Eingang zum Friedhof

Auch das Wiedersehen mit seiner Schwester Gabriele war kein Ereignis, auf das er sich freute. Er hatte sie fünf oder sechs Jahre nicht mehr gesehen, das letzte Mal bei der Beerdigung des Vaters. Sie lebte seit Langem in Dresden und war für ihn von Jahr zu Jahr mehr in ihrer Hochschule und ihren politischen Aktivitäten verschwunden. Ab und an erreichte ihn eine Mail seiner Schwester mit dem Hinweis auf eine neue Publikation von ihr. Was sie beruflich leistete und was sie schrieb, war nicht übel, doch wie sie es zur Geltung brachte, mit welcher Bedeutung und Wichtigkeit sie aufzutreten pflegte, hatte ihn schon immer genervt. Vermutlich würde sie auch heute die Gelegenheit nutzen, um ihren kleinen Bruder mit ihren Weisheiten und Ratschlägen vollzustopfen.
Der Regen hatte inzwischen aufgehört. Am Horizont zeigten sich hellblaue Flecken.

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