Fortsetzung zum Thema „Das kann ich nicht mehr verantworten!“ – Kommentierung der Texte – Was tun? (3)
Text:„Das kann nicht gut ausgehen!“ Der Träger, der das günstigste Angebot macht, bekommt den Leistungsvertrag – egal, wie er diese Leistung erbringt (Seithe/Wiesner-Rau 2013, S. 42)
Heute habe ich wieder mal ziemlich Bauschmerzen gehabt. Der Fall Lydia D. ist vom Träger „Rückenwind“ übernommen worden. Das hat das Hilfe-Konstrukt-Team so bestimmt. Ich war dagegen, aber sie haben mich überstimmt und es gab kein Entrinnen: dort war Kapazität frei und die gewünschte Hilfe wird von diesem Träger am weitaus kostengünstigsten angeboten. Was sollte ich dagegen sagen? Es stimmt ja, sie sind nun mal die Billigsten, die Sozialpädagogische Familienhilfe bei uns anbieten.
Aber ich kann das kaum ertragen: Ich weiß so ziemlich genau, wie schlecht da gearbeitet wird. Mit vier Stunden pro Woche inklusive Vor- und Nachbereitung kann das nicht anders sein. Und die Zeit zur Reflexion und Verbesserung der eigenen Arbeit werden die eingesetzten Kräfte wohl gar nicht für sich in Anspruch nehmen, fürchte ich. Es sind unausgebildete Kräfte, zwei sind Erzieherinnen, es gibt keine Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter. Sie alle werden allerdings von einem Sozialarbeiter angeleitet und das muss reichen. Offenbar reicht es auch unserem Jugendamt.
Und was macht eine nicht sozialpädagogisch ausgebildete Kraft in diesen Familien? Ich fürchte, sie predigt dort, wie es sein müsste, stellt Forderungen an die Familie, gibt Anweisungen, prangert die Missstände an. Bei solchen Rahmenbedingungen kann man kaum Professionalität erwarten. Aber um die Familien und um die Qualität der Sozialen Arbeit geht es im Jugendamt schon lange nicht mehr, es müssen vielmehr die KLR-Zahlen stimmen. Wie ich diesen Begriff hasse: Kostenleistungsrechnung! Und dann wird gefragt: „Wozu brauchen wir überhaupt ausgebildete Sozialarbeiter? Es klappt doch!“ Wie perfide das alles ist!
Ich habe nach dem Hilfe-Konstrukt-Team noch mal mit unserer Chefin gesprochen. Ich konnte das alles einfach nicht hinnehmen. Da läuft man mit offenen Augen in eine Situation, die die Lage in der Familie verschärfen wird und dazu führen wird, dass Lydia in Zukunft noch weniger Vertrauen in uns Helfer hat. Meine Chefin hat nur die Augen verdreht und gesagt: „Du machst dir einfach zu viele Sorgen.“ Außerdem hätte „Rückenwind“ nun mal den Leistungsvertrag mit dem Stadtrat abgeschlossen und damit sei nach außen hin alles paletti. Punkt. Trotzdem, ich habe es weiter versucht, habe ihr noch einmal all meine Bedenken genannt, auch, dass die Mitarbeiter bei „Rückenwind“ extrem defizitorientiert sind und mit den Familien in einer Art Hauruck-Verfahren umgehen. „Aber das ist doch bei acht Familien pro Vollzeitkraft auch kein Wunder“, hat die Chefin geantwortet.
‚Stimmt‘, dachte ich. ‚Das ist ja das Absurde!‘
„Wie kannst du das so gelassen sagen?“, platzte es aus mir heraus. „Da ist doch null Beziehungsarbeit möglich. Das ist alles Wahnsinn und du weißt so gut wie ich, dass Lydias Familie bei so was nicht mitziehen wird.“
Wir müssten einfach mal abwarten, meinte die Chefin nur. Träger würden nun mal vom Stadtrat beauftragt und was sie und wie sie dann konkret arbeiten, das interessiere nicht wirklich: Hauptsache billig.
Sie wusste es also ganz genau, aber sie zuckte die Achseln. Ich sah sie ungläubig an. Ich konnte mir das Wort „Scheiße“ nicht verkneifen. Sie ließ mich einfach stehen.
Meine Güte, wir vom Allgemeinen Sozialen Dienst haben so viel Verantwortung für die Familien. Aber wir müssen immer öfter zusehen, dass die Arbeit mit unseren Klientinnen und Klienten von Leuten gemacht wird, denen wir fachlich nicht trauen können und die von irgendeinem geldgierigen Geschäftsführer, der außerdem oft sogar null Ahnung hat von Sozialer Arbeit, mit minimalem Aufwand und fachlich unerträglichen Methoden durch diese Aufgabe hindurchgehetzt werden.
Was soll ich dazu bloß Lydias Mutter sagen, wenn sie morgen kommt? Ich hatte ihr die Chancen einer Sozialpädagogischen Familienhilfe positiv geschildert. Und ich sehe das auch wirklich so. Aber eben nicht bei „Rückenwind“, da wirklich nicht. Und alle wissen das im Amt so gut wie ich. Lydias Mutter wird sich nun auch von mir verarscht fühlen. Höchstens zwei Kontakte pro Woche, und was für Kontakte – und ich habe was von „in Ruhe besprechen, vorsichtig versuchen, Schritt für Schritt an den Problemen arbeiten“ gesagt, davon, dass sie erst mal Vertrauen gewinnen müsse. Das wird sie jetzt ganz und gar anders erfahren. Aber ich werde da nicht tatenlos zusehen.
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Fachliche Kritik
- Es wird im Team nicht nach den Vorgaben entschieden, die die federführende Fachkraft entwickelt hat, sondern über sie hinweg nach den Kriterien: welche Kapazitäten sind frei und welches ist das günstigste Angebot.
- Die Hilfe wird diesem Träger übergeben, obwohl bekannt ist, dass hier Nicht-Fachkräfte mit den Familien arbeiten und diese keine sozialpädagogische Familienhilfe leisten, sondern eher eine ersetzende und bevormundende Hilfe praktizieren.
- Folge ist mit hoher Wahrscheinlichkeit, dass die Bemühungen der Hilfe ins Gegenteil umschlagen.
- Das aufgebaute Vertrauen wird so gefährdet und geht mit hoher Wahrscheinlichkeit verloren, da die Erwartungen der KlientInnen nicht erfüllt werden können. Die bisher geleistete Arbeit wird nicht anerkannt und an ihr wird nicht angeknüpft.
- Die zur Verfügung gestellte Stundenzahl ist nach Einschätzung der Fachkraft ebenfalls nicht ausreichend, um die zu bearbeitenden Probleme im Sinne einer gemeinsamen Bearbeitung mit den Betroffenen zu bewältigen.
Gesellschaftswissenschaftliche und politische Hintergründe
- Der Träger, die Verantwortlichen und das Team fühlen sich an einen Vertrag gebunden, den dieser Träger mit dem Stadtrat abgeschlossen hat.
- Sein Angebot wurde dort als ausreichend und besonders kostengünstig gewertet, ohne dass inhaltliche Kriterien dabei eine wirkliche Rolle gespielt hätten und ohne die Erfahrungen der PraktikerInnen einzubeziehen.
- Diesem Vorgehen liegt die Absicht zugrunde, die SpFH so kostengünstig zu bekommen, wie eben möglich, damit die Kosten-Leistungs-Rechnung stimmt.
- Hier wird der Effizienzgedanke eindeutig über die Frage von Fachlichkeit und auch über die Vorschriften des KJHG gestellt, das von dem individuellen, passgenauen Zuschnitt einer Hilfe zur Erziehung ausgeht.
- Wir haben es mit einer Jugendhilfepraxis zu tun, die sich von den Fragen der Fachlichkeit verabschiedet hat und die MitarbeiterInnen per Dienstanweisung zwingt, fachlich Inakzeptables hinzunehmen und sogar selbst einzuleiten.
- Das Vorgehen ist also gesetz widerig und unfachlich. Dennoch wird es als unumstößlich angesehen und auch von denen hingenommen, die sich über die Folgen im Klaren sind.
Einschätzung der Lage und der Reaktion der betroffenen SozialarbeiterIn
- Die Mitarbeiterin, die diese Geschichte erzählt, ist empört und entsetzt. Sie ärgert sich darüber, dass ihre Arbeit derartig mit Füßen getreten wird.
- Die MitarbeiterIn hat das Gefühl, dass sie den KlientInnen gegenüber diese Fehlentscheidung von Amt und Politik austragen muss und für etwas verantwortlich zeichnen soll, dass sie selbst für falsch hält.
- Sie gibt sich nicht einfach mit diesem Beschluss zufrieden und wendet sich noch einmal empört an ihre Vorgesetzte. Diese aber weiß um das Problem, meint aber auch nichts tun zu können und lässt ihre Mitarbeiterin mit dem Problem alleine.
- Die ist noch immer nicht einverstanden und würde gerne weiter kämpfen. Ob sie eine Idee hat, was sie tun könnte, bleibt offen.
Mögliche Handlungsperspektiven und Strategien der Gegenwehr
Was hätte sie noch tun können an ihrem Arbeitsplatz?
Weitere Gespräche, etwa mit dem Geschäftsführer, der Amtsleitung wären – wenn sie gelingen – vielleicht hilfreich. Die Herrschaften wissen in der Regel nicht wirklich, was an der Basis los ist. Hier könnte Information etwas bringen. Voraussetzung ist hier, dass man inhaltlich und fachlich gut vorbereitet ist und seine Argumente sachlich vortragen kann. Vielleicht kommt doch Unterstützung von diesen Seiten. Zu befürchten ist allerdings, dass sie auch hier abblitzen wird, vielleicht sogar mit dem Hinweis, sie solle sich um ihre Sachen kümmern.
Grundsätzlich wäre der KollegIn zu empfehlen, dass sie z.B. Fakten über unhaltbare Zustände bei Trägern sammelt und dokumentiert. Wenn es darauf ankommt, muss man Behauptungen und Befürchtungen nicht nur theoretisch begründen, sondern auch konkrete Fakten und Beispiele nennen können.
Eine weitere Möglichkeit bestände darin, die TeamkollegInnen noch einmal anzusprechen und um Unterstützung zu bitten. Gemeinsam kann ein Team durchaus mehr erreichen, als jeder Einzelne. Aber auch hier gelingt es nicht immer, KollegInnen von der Notwendigkeit von Gegenwehr zu überzeugen. Viele lehnen es ganz ab, sich damit zu befassen. Nicht selten geben sie den kritischen KollegInnen eigentlich Recht, haben aber Angst selbst aktiv zu werden oder ihre Meinung öffentlich zu machen. Das ist für die Betroffenen eine bittere Enttäuschung.
Es wäre in solchen Fällen jedoch angeraten, weiter geduldig langfristig zu versuchen, mit den KollegInnen zu sprechen, z.B. darüber, warum es möglich sein kann, dass sie alle solchen fachlichen Unsinn hinnehmen müssen, den man eigentlich nicht verantworten kann. Wichtig ist, KollegInnen, die sich zunächst verweigern, nicht einfach links liegen zu lassen oder sie gar abzuurteilen. Wir sollten zum einen deutlich machen, dass nicht sie selbst schuld sind an Misserfolgen und an der Wirkungslosigkeit ihrer Arbeit, sondern dass es Gründe gibt, die gesellschaftlicher Natur und die nicht naturgegeben und unveränderlich sind. Nicht die KollegInnen sind schuld daran, wenn ihre Mühen ohne Wirkung bleiben sondern diejenigen, die es verantworten, einfach willkürlich die Rahmenbedingungen für die Arbeit herunterzuschrauben.
Es gelingt am besten, solche KollegInnen aufzuschließen, wenn man mit “verstehender Konfrontation” vorgeht, also sehr wohl mit der Problematik konfrontiert, dabei aber sowohl die Gründe für ihre Untätigkeit als auch die Befürchtungen zu verstehen versucht, die diese Konfrontation auslöst.
Hilfereich ist es auch, sich selbst und den KollegInnen klar zu machen, dass wir angesichts der kritischen Lage sehr wohl ein Recht auf Unbehagen haben und wir unser Unbehagen und unsere Kritik nicht als Jammern abwerten lassen. Wir haben ein Recht darauf, nicht einverstanden zu sein und auch ein Recht darauf, es laut zu sagen.
Voraussetzung für alle Gespräche und Versuche, zu überzeugen, ist, dass die KollegIn gute, stichhaltige und fachlich begründete Argumente parat hat, z.B. warum eine Hilfe mit so wenig Stunden und mit einem nicht sozialpädagogischen Konzept nicht nur nicht greifen wird, sondern möglicher weise die Lage der Familie verschlechtern kann.
Will die Mitarbeiterin des Sozialen Dienstes, die diese Geschichte erzählt hat, mehr tun und solche Praktiken offen anprangern und offen legen, sollte sie sich mit anderen KollegInnen zusammen tun und sich Wege ausdenken, wie man dabei vorgehen könnte, ohne gleich den eigenen Arbeitsplatz zu gefährden.
Zum Beispiel wäre es denkbar, dass man „als aufmerksame Bürger und Nachbarn von Betroffenen“ einen Leserbrief schreibt, in dem man darauf aufmerksam macht, dass die öffentliche Jugendhilfe – um zu sparen – Fehlentscheidungen trifft, deren Folgen im Endeffekt viel mehr kosten werden. Wenn man einen solchen Brief als Gruppe „kritische Soziale Arbeit“ oder als Mitglieder des Berufsverbandes unterschreibt, bleibt der Einzelne unangreifbar und anonym.
Als KollegInnengruppe stehen viele Möglichkeiten der Gegenwehr zur Verfügung: die Planung und Durchführung kleiner, kreativer Protestaktionen, das Setzen von Zeichen, die die kritische Haltung deutlich machen (beisp. bestimmte Buttons oder die weißen Fahnen an den Fenstern der Berliner Jugendämter), Verteilung von Flugblättern, Aufklebern, gezielte Streikaktionen, kollektive Krankschreibung, kollektive Überlastungsanzeigen usw.
Das heißt aber auch, dass es von großer Wichtigkeit wäre, für sich eine unterstützende, solidarische Gruppe zu finden oder ggf. auch erst aufzubauen. Hier sollte man sich erst einmal folgende Fragen stellen:
- Wie stehen meine KollegInnen zur Lage? Könnte ich mit Ihnen reden? Wäre es möglich, gemeinsame Strategien zu entwickeln?
- Haben wir einen Personal- oder Betriebsrat? Warum eigentlich nicht? Und wenn doch: Wie könnten wir den dazu bringen, sich ein wenig mehr aus dem Fenster zu lehnen als bisher?
- Gibt es in meiner Stadt oder Region eine Gruppe, in denen kritische SozialarbeiterInnen aktiv sind und mit denen ich zusammenarbeiten könnte? Wie könnte ich sie finden? Könnte man ggf. so eine Gruppe gründen?
Der grundsätzliche Widerstand gegen die Ökonomisierung
Die Ökonomisierung dominiert unsere Profession. Es wird nicht leicht sein und nicht schnell gehen, sie wieder loszuwerden. Schließlich handelt es sich dabei um ein gesamtgesellschaftliches Problem. Der Kampf gegen die Ökonomisierung, mit der die gegenwärtige neoliberale Politik die Sozialen Arbeit, ebenso wie den Gesundheits- oder auch das Bildungswesen vereinnahmt hat und die uns zwingt, Menschen nach ihrer Nützlichkeit und Effizienz zu bewerten und sie wie Ware zu behandeln, diesen Kampf wird man nicht alleine und auch nicht nur am Arbeitsplatz führen können. Hier findet man aber in den großen politischen und berufspolitischen Verbänden und Organisationen MitkämpferInnen und Bündnispartner.
Um unsere Arbeit unter diesen Bedingungen ertragen zu können, um Wege zu finden, auch unter solchen Bedingungen noch parteilich und im Interesse der Betroffenen arbeiten zu können, ist die Unterstützung von Gleichgesinnten lebensnotwendig, und das sowohl im ganz konkreten, praktischen Sinne als auch im Sinne der eigenen Psychohygiene.
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