„Jammern“ oder die „Wahrheit sagen“? – Anmerkungen zur Rezeption unseres Buches

Im letzten Herbst habe ich zusammen mit Corinna Wiesner-Rau das Buch „Das kann ich nicht mehr verantworten – Stimmen zur Lage der Sozialen Arbeit“ veröffentlicht.

Es sollte ein Beitrag dazu sein, dass die Stimme der Praxis endlich gehört wird und sich die Profession ermutigt fühlt, über die hoch problematischen Verhältnisse in der Praxis der Sozialen Arbeit offen zu informieren.
Nach fast einem Jahr Erfahrung mit dieser Veröffentlichung, möchte ich dazu einige Gedanken äußern, die uns gekommen sind durch die Reaktionen unserer LeserInnen.

zum   Buch:                                                              Seithe-Cover

SozialarbeiterInnen erzählen aus ihrem Alltag. Es werden dabei Arbeitsbedingungen deutlich, die unglaublich sind. Es wird dabei deutlich, dass es in der Sozialen Arbeit heute gar nicht mehr um die Menschen selbst geht. Es wird deutlich, dass nicht die Fachlichkeit, sondern die Wirtschaftlichkeit regiert. Es wird deutlich, dass die Lage der Sozialarbeitenden heute mehr als problematisch ist und für die Klientel nicht mehr viel zu bieten hat.
Das sind Wahrheiten, die meist keiner hören will, die die Träger und Fachverbände verschweigen, die das Ministerium und die Sachverständigen des 14. Kinder- und Jugendberichtes nicht zur Kenntnis nehmen. Und keiner fragt die Betroffenen. Alle scheinen zufrieden zu sein.
Und hier waren 58 KollegInnen bereit, die Wahrheit ins Tageslicht zu rücken – freilich nur anonym.
Dieses Buch sollte Tabus brechen und für die KollegInnen ein starkes Werkzeug werden im Bemühen um eine andere Soziale Arbeit:

o   Es sollte die Betroffenen ermutigen und sie stärken im Wissen, dass andere mit den gleichen Problemen zu kämpfen haben und also die Ursachen nicht bei ihnen selst liegen.

o   Es könnte an die „richtigen“ Leute weitergeben werden: die Vorgesetzen, die GeschäftsführerInnen, die Politikerinnen, um ihnen endlich reinen Wein einzuschenken.

o   Es könnte genutzt werden zu Tagungen, Seminaren aber auch zu politischen Versammlungen, Aktionen, um die Sprachlosigkeit der Profession zu durchbrechen.

o   Es könnte anregen zu ähnlichen Aktionen: Was wird hier verschwiegen und was sollte die Öffentlichkeit wissen?

o   Man könnte anhand der Geschichten die Ursachen und Hintergründe der vorhandenen Problemlagen analysieren.

o   Und schließlich könnte es auch als Arbeitsinstrument genutzt werden, um die eigene Widerstandspraxis zu entwickeln und zu verbessern.

Bei etlichen LeserInnen ist es auch genauso angekommen.


Aber viele haben uns eine ganz andere Rückmeldung gegeben: Sie empfanden das Buch nicht nur als belastend sondern als deprimierend und als reines Jammern, das sie als wenig hilfreich empfunden haben. z.B. folgende Rezension:

Oh Zeiten, oh Klagen… – das ist die Kurzfassung dieses Werkes. Stimmen zur Lage der sozialen Arbeit, heißt es im Untertitel – es handelt sich um eine Sammlung anonymer Aufsätze sämtlicher sozialer Arbeitsfelder, die mehr oder weniger alle dasselbe aussagen. Schlechte, unzureichende Arbeitsbedingungen, zu wenig Geld, zu wenig Zeit, keine Chance auf eine gute, Ergebnis orientierte Arbeit – keine brauchbare Zusammenarbeit zwischen Ämtern und Professionellen, die die Arbeit tun, keine Möglichkeit für die Betroffenen, denen die Arbeit gelten soll, wirklich nachhaltig davon zu profitieren.
Der Leser möge sich davon überzeugen, es liest sich flüssig, authentisch. Inwieweit es sich wirklich verallgemeinern lässt ist die andere Frage – aus meinem persönlichem Umfeld sind ist mir – auch – anderes bekannt – eingeschlossen ich selber,  die ich gelegentlich und nachhaltig auch hilfreiche Hilfe aus dem Hilfesystem in Anspruch nehme. Da klappte auch nicht immer alles auf Anhieb, aber inzwischen haben wir gemeinsam gelernt und ich bin froh und dankbar, dass es so etwas gibt.
„Das kann ich nicht mehr verantworten“ malt nur schwarz und zeigt absolut keine Lösungen auf. (Talke)

Das lässt uns grübeln:

  • Wieso kommt es als Jammern an, wenn Sozialarbeitende endlich sagen, was los ist?
  • Warum erscheint es als Jammern, wenn SozArbeiter  selbst keine Lösung haben?
  • Warum regt das nicht vielmehr an, über Lösungen nachzudenken und zu diskutieren?
  • Wieso macht man uns  den Vorwurf, die Sozialarbeitenden mit diesem Buch im Regen stehen zu lassen, weil wir ihnen ihre Ohnmacht vorführen aber nicht sagen, was sie tun könnten?
  • Warum ist das Jammern, wenn man Tabus bricht? Warum ist das Wehleidigkeit und Selbstmitleid,  wenn man sagt, was oberfaul ist?
  • Warum ist es verachtenswert, unzufrieden zu sein?

Solche LeserInnen reagieren auf die Geschichten, als sei das Verhalten der ErzählerInnen einfach  undankbar, destruktiv,  herunterziehend, lähmend, als mache es alles noch schlimmer, als hindere es die KollegInnen daran,  trotzdem irgendwie klar zu kommen? Ja man gewinnt bei manchen Reaktionen den Eindruck, dass sich SozA für diese Geschichten schämen, als hätte man sie gar nicht erzählen dürfen.

Und warum erinnert mich diese Reaktion an Beispiele aus der Geschichte, wo die erschlagen wurden, die den Unterdrückten die Wahrheit sagten?

Zunächst war ich – zugegebenermaßen ein wenig sauer und dachte, man könnte solche Reaktionen auch anders sehen, etwa nach dem Motto:

  • Wer nicht glaubt, dass etwas änderbar ist und anders sein könnte, für den ist das Aufzeigen der Katastrophen eine sinnlose Quälerei
  • Natürlich sind die ungehalten, die in ihrer Anpassungsruhe gestört werden.
  • Natürlich sind die sauer, die gezwungen werden, genau hinzusehen und danach größere Schwierigkeiten haben, sich anzupassen bzw. größere Probleme damit, dass sie sich anpassen.

Aber es war absolut nicht unsere Absicht, KollegInnen anzugreifen oder bloß zu stellen!

Wir haben darüber nachgedacht, welchen Anteil wir selber haben an solchen Reaktionen. Und wir haben festgestellt: Unser Buch ist eben doch nicht ganz so, wie wir es uns vorgestellt hatten.

Ganz offensichtlich ist dieses Projekt nichts aus dem Herzen der Betroffenen selbst erwachsen. Und wahrhaftig: Wir musste ihnen die Wahrheit auch ziemlich aus der Nase ziehen. Sie sprachen nur ungern darüber, wie es wirklich um ihre Arbeit stand. Sie haben schließlich doch so einiges „blicken lassen“. Aber es erleichterte sie nicht wirklich, darüber zu reden.
Auch der Titel „Das kann ich nicht mehr verantworten“,  ist letztlich eine Illusion. Tatsächlich sind die Geschichten zu 80% keine Widerstandsgeschichten und zu 50 % nicht mal Texte, in denen die ErzählerInnen die eigentlichen Ursachen erkennen und benennen. Diesen Spruch: „Das kann ich nicht mehr verantworten“ hat eine Einzige so gesagt. „Schluss mit Schweigen“ wäre eher als Titel geeignet gewesen. Am ehrlichsten hätte es heißen müssen: „Wir reden nur sehr ungern darüber“. Wir haben in diese Geschichten eine Widerständigkeit hinein geträumt, die es leider nicht gab.
Nur elend fühlten sich beinahe alle, die ihre Geschichten preisgaben. Aber allein das zu hören, macht vielen offenbar keinen Mut. Die Erzählungen kommen vielleicht auch deshalb an wie Jammergeschichten, weil eben doch nur anonym geredet wurde. Und das ist noch keine Heldentat, kein wirkliches Whistleblowing. Und es nur auszusprechen ändert schließlich auch nichts?

Wozu dann also das ganze „Widerstandsgetue?“

Was aber sagt uns das? Das es eben doch keinen Widerstand gibt, dass die meisten eben doch lieber schweigen und mitmachen? Dass es einfach verlorene Mühe ist, die KollegInnen aufzurütteln und ihnen vor die Augen zu halten, an was sie sich da anpassen?Angesichts dieser Reaktionen, angesichts der Ohnmacht, angesichts der schon gewonnen Siege der anderen Seite, angesichts der bestehenden Machtverhältnisse müsste man und könnte man doch eigentlich sagen: „gut, aus, vorbei, so läuft es jetzt eben. Die alte SozA ist Vergangenheit. Vielleicht kommen auch wieder andere Zeiten“?

Ich ich ganz persönlich frage mich, warum also quäle ich mich und die Kolleginnen mit der Aufforderung, etwas gegen diese Entwicklungen zu tun?
Schließlich ist das gar nicht mehr mein Ding. Ich habe 36 Jahre Soziale Arbeit gemacht, 18 Jahre in einer Praxis, in der es meist Spaß machte Soziale Arbeit umzusetzen und 18 Jahre in der Hochschule, wo ich den „Umkremplungsprozess“ der Sozialen Arbeit zu einem reinen Marktgeschehen mit etwas Distanz aber sehr deutlich beobachten konnte – Schritt für Schritt. Sollen doch die Jungen sich mit den neuen Zeiten herumschlagen! Es ist nicht meine Schuld, wenn sie kapitulieren, aber nichts dabei finden.
So dachte ich manchmal , wenn ich diese Reaktionen las.

Aber jetzt hat mir jemand eine ganz andere Frage gestellt…

Fortsetzung folgt

 

 

Über m.s.

Ich war 18 Jahre Professorin für Soziale Arbeit an der FH Jena (Methoden, Hilfen zur Erziehung, Schulsozialarbeit). Davor war ich 18 Jahre in der Praxis. Studiert habe ich Psychologie in Münster und Soziale Arbeit in Frankfurt a.M. Bücher: Schwarzbuch Soziale Arbeit Engaging Hilfe zur Erziehung zwischen Professionalität und Kindeswohl Das kann ich nicht mehr verantworten Ambulante Hilfe zur Erziehung und Sozialraumorientierung
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