Prof. Dr. Karin Kersting – und die emotionale Desensibilisierung

die sich mit der spannenden Frage befasst, warum die Menschen in der Lage sind, sich damit abzufinden, dass sie ihre eigenen Werte und Zielvorstellungen in der Praxis an den Nagel hängen müssen …

AutorInnen, die mich für mein Buch inspiriert haben (Neuerscheinung:Soziale Arbeit und Neoliberalismus heute: schwarz auf weiß | SpringerLink)
– Teil 2

Frau Kersting ist Pflegewissenschaftlerin  an der  Hochschule für Wirtschat und Gesellschaft Ludwigshafen und von daher im Rahmen der Sozialen Arbeit nicht so präsent.

Fundstelle:
Im Band von Kraus, B./Krieger, W. (Hrsg.) (2021): Macht in der Sozialen Arbeit. Interaktionsverhältnisse zwischen Kontrolle, Partizipation und Freisetzung fand ich einen hoch interessanten Artikel, der mir im Zusammenhang mit der Frage, wieso die PraktikerInnen und auch viele WissenschaftlerInnen die Diskrepanz zwischen ihren fachlichen und ethischen Ansprüchen und der neoliberalen Realität aushalten können, sehr viel neue Erkenntnisse gebracht hat.

Worum es ihr geht:
Es um ein Problem, welches Kersting  aus der Pflege kennt, das aber in der Sozialen Arbeit genau so virulent ist, wenn es auch verdeckter behandelt wird:
Es geht um die Tatsache, dass MitarbeiterInnen in der Pflege und – wie ich und wie Frau Kersting in ihrem Artikel ebenso feststellt – auch in der Sozialen Arbeit – in ihrem täglichen Beruf einen Widerspruch aushalten und mit ihm umgehen müssen, der  ihre Berufsidentität eigentlich massiv bedroht: Sie  haben gelernt ihren Beruf nach bestimmen ethischen und fachlichen Kriterien auszuüben und der Anspruch, diesen zu entsprechen ist  in ihr Berufsverständnis eingegangen. In der Praxis heute erleben sie jedoch tag täglich, dass in der Wirklichkeit alles völlig anders läuft und sie kaum noch Berührung mit ihren eigenen ethischen und fachlichen Grundeinstellungen haben. Es bleibt ihnen nichts anderes übrig, als ihre eigentlichen Ziele und Vorstellungen als unerreichbare, schöne Ideale als Utopien abzuspalten. Andernfalls würden sie unter großen emotionalen Druck geraten und ihren Beruf unter Umständen nicht mehr ausüben können.

Kersting bezieht ihre Überlegungen auf eine Untersuchung aus dem Jahr 2002 (Kersting 2002), die

„am Beispiel von Krankenpflegepersonal aufzeigt, wie Menschen sich in dem beruflichen Spannungsfeld von normativ Gebotenem und strukturellen Rahmenbedingungen eines funktional ausgerichteten Arbeitsalltages „kalt“ machen, um ihn bestehen zu können“ (ebd.). Sie stellt fest: „obgleich die Pflegenden den gebotenen Anspruch (gemeint ist das patientenorientierte, humanistische Pflegekonzept) systematisch im Alltag unterlaufen, gelingt es ihnen, daran festzuhalten“ (ebd., S. 258).

Metapher von der „Kälte“ nach Adorno und Gruschka
Kersting bedient sich bei der Interpretation dieser Vorgänge der Metapher der „Kälte“, wie sie Adorno und Horkheimer verwendet haben und wie sie von Gruschka et al. (2021) für die Pädagogik weiterbearbeitet wurde. Die strukturellen Bedingungen, innerhalb derer die normativen Ansprüche verwirklicht werden sollen, werden als „objektive Kälte verursachend“ bezeichnet.

„Mit der Metapher der Kälte erklärt Gruschka die ‚Leistung‘ der Menschen, die in Anschlag gebrachten Normen und den Zwang, ihnen zuwider handeln zu müssen, in ihr moralisches Urteil zu integrieren“ (Kersting 2021, S. 254).

Es handelt sich nach Kersting dabei nicht um eine bewusste Entscheidung von Menschen für die eine oder die andere Seite, sondern um eine Art Integrationsleistung.

„Diese Integrationsleistung führt dazu, dass die gegensätzlichen Forderungen so in Einklang gebracht werden, dass es vermeintlich einen Ausgleich gibt und die Menschen damit handlungsfähig bleiben.“

Kersting (2021) befasst sich mit der Situation der Pflegekräfte, die in ihrer Praxis in einem massiven Zwiespalt stehen: Durch ihre Ausbildung, ihre innere Position und auch durch die Ideologie, die offiziell von ihren Anstellungsträgern vertreten wird (Leitbild der Kliniken), fühlen sie sich auf der einen Seite dazu angehalten, ihre Pflege patientenorientiert zu gestalten. Gleichzeitig müssen sie den Anforderungen einer ökonomisierten, rationalisierten und auf Effizienz ausgerichteten Pflege entsprechen.

Pflege und Soziale Arbeit haben das gleiche Problem
Man kann diese Bemerkung ohne Abzüge auf die gegenwärtige Situation in der Sozialen Arbeit übertragen. Wobei es einen wichtigen Unterschied zwischen dem Pflegeberuf und der Profession Soziale Arbeit gibt, der sicher eine Rolle spielen und die Aussagen von Kersting in gewisser Weise in ihrer Bedeutung einschränken könnte: Im Unterschied zu der Situation in den Kliniken ist für die sozialen Betriebe das professionelle Konzept keineswegs das Aushängeschild, mit dem sich auch die neoliberal orientierten Träger Sozialer Arbeit öffentlich darstellen. Die gehen vielmehr offen mit ihren neoliberalen Absichten um . Hier wird also nur in Ansätzen das Ausmaß an Scheinheiligkeit praktiziert wie im Gesundheitsbereich, wo sich die Krankenhäuser, also die heutigen Gesundheitskonzerne, als in erster Linie patientenorientiert darstellen, gleichzeitig aber wie gewinnorientierte Betriebe geführt werden.
Die Scheinheiligkeit ist in der Sozialen Arbeit umso mehr in die PraktikerInnen selbst hineinverlegt: Sie werden quasi zur Akzeptanz einer erzwungenen inneren Doppelmoral angehalten.

Zusammen mit ihren StudentInnen ist Kersting auf die Suche gegangen nach den Hintergründen und Vorgängen, die dazu führen, dass die PflegerInnen diese Widersprüche ertragen können. Und sie sind dabei auf eine ganze Reihe recht unterschiedlicher Reaktionsweisen gestoßen, wie Menschen, hier die PflegerInnen, mit den für sie bestehenden Widersprüchen umgehen.     
Kersting hat für diese Reaktion großes Verständnis. Allerdings ist für sie klar: So ändern sich die Verhältnisse nicht.

„Integrationsleistung“ der „emotionalen Desensibilisierung“
Bei der Analyse dieser ‚Integrationsleistungen“ im Bereich der Pflege extrahierte Kersting eine Anzahl von unterschiedlichen Reaktionsmustern, wobei sich innerhalb der insgesamt zwölf Muster wiederum fünf Gruppen von Reaktionsmustern ergeben, die sich unterscheiden, sich aber jeweils in der spezifischen Perspektive auf den gemeinten Widerspruch gleichen.
Kerstings Aussagen beziehen sich erst einmal vorrangig auf den Pflegeberuf, aber sie selbst verweist gezielt auf die von ihr vermuteten Ähnlichkeiten der Problematik in der sozialarbeiterischen Praxis.

Sie fasst ihre Überlegungen, die sie zur Bearbeitung dieser Frage bewegt hat, wie folgt zusammen (ebd., S. 271):


„Die Logik aller Reaktionsmuster ist so aufgebaut, dass die Pflegenden damit in ihrem Alltag bestehen können. Interessant ist, dass nahezu alle… am pflegerischen Anspruch festhalten und ihn zugleich unterwandern. … Sie alle lernen in der Pflegeausbildung, wie sie die Pflege als patientenorientierte Pflege gestalten sollen. Und sie alle lernen, das hinzunehmen, wogegen sie angehen müssten: Die Verhinderung einer am einzelnen Patienten orientierten Pflege.“

Die von Kersting extrahierten und beschriebenen Reaktionsweisen habe ich in meinem Buch nun versucht, auf unsere Profession und die dort stattfindenden Prozesse zu übertragen. Von mehreren Dutzend Reaktionsweisen nennt Kersting auch den Widerstand, den Versuch, sich nicht einfach mit dem Widerspruch zu arrangieren.

Aber die üblichen Reaktionen sehen ganz anders aus. Da gibt es z.B. Reaktionstyp 1a:

„Typ 1a: „Es gibt kein Problem, weil es keine Widersprüche gibt.“
Hier werden „die Bedingungen des Alltags … als legitim angesehen und somit fraglos als richtig akzeptiert“ erläutert Kersting (2021, S. 259) die Grundtendenz dieser ersten Gruppe von Bewältigungs-Reaktionen, die sie im Wesentlichen auf die PraktikerInnen bezieht. Sie (ebd., S. 260) erläutert: „Dabei steht die PraktikerIn der Norm“, (also entsprechend: dem professionellen Konzept Sozialer Arbeit) „keineswegs gleichgültig gegenüber, sie erkennt aber überhaupt nicht, dass der normative Anspruch im Alltag nicht erfüllt wird und dies innerhalb der vorgegebenen Strukturen auch nicht möglich ist. … Die Praxis wird so gedeutet, dass die Norm, oder das, was sie dafürhält, im Alltag als erfüllt angesehen wird.“
Die Sachzwänge des neoliberalen Alltags gelten hier also als Konventionen, die vorgeben, wie man sich zu verhalten hat. Eine Verantwortung für das eigene Verhalten wird nicht gesehen. Das, was passiert, wird unkritisch als richtig und unveränderbar hingenommen. In diesem Fall ist eine Anpassung an die neuen Erwartungen selbstverständlich und für die Handelnden ein erwünschter und am Ende gelungener Vorgang.

Das Ergebnis der Untersuchung der neuen Methoden-Lehrbücher (Kap. 2) zeigt, dass es auch unter diesen AutorInnen einige gibt, die dazu neigen, die neoliberale Transformation für die Praxis der Sozialen Arbeit einfach überhaupt nicht zur Kenntnis zu nehmen, so als würde sie gar keine Rolle spielen. So betreffen zum Beispiel aus Sicht von B. Müller (2017, S. 179) die „Systeme der Qualitätsentwicklung“ die eigentliche Fallarbeit nicht, sondern nur ihre „institutionellen und organisatorischen Rahmenbedingungen“.

Hier wird die Nichtwahrnehmung möglich durch eine Abkopplung der „Organisatorischen Sozialmanagementverfahren“ von ihrem sozialpolitischen und ideologischen neoliberalen Hintergrund. Sie werden einfach als Methoden eingeführt und behandelt, ohne dass dabei der Zusammenhang mit der neoliberalen Interpretation der Sozialen Arbeit und ohne dass auch die Folgen für die Soziale Arbeit dabei thematisiert werden.
Auf diese Weise ist kein Widerspruch sichtbar.

Diese Verarbeitungsvariante ist keineswegs selten. Allein die Tendenz in den aktuellen Veröffentlichungen zeigt, dass auch dort dieser Widerspruch überhaupt nicht zum Thema gemacht wird. Das freundlich-friedliche Bild einer lebendigen, differenzierten und selbstbewussten Profession, das sich aus der Gesamtschau der aktuellen Veröffentlichungen ergibt, zeigt, dass zumindest im Rahmen von Veröffentlichungen und sonstigen Thematisierungen sozialarbeiterischer Themen das Ignorieren dieses elementaren Widerspruchs heute die Normalvariante der Bewältigung ist.

Und vermutlich wird auch die Mehrheit der nach dem Studium ins Arbeitsleben eintretenden PraktikerInnen die neuen Erfahrungen und Erwartungen durch ein Nicht-Wahrnehmen – (Wollen) der Widersprüche bewältigen“ (Seithe 2025, S. ).

Ein anderes Beispiel:

„Typ 4a: Praktische Vorstellungen für eine veränderte Arbeitssituation
Die VertreterInnen dieser Reaktionsmuster haben erkannt, dass unter den gegebenen Bedingungen ein Handeln im Sinne ihres professionellen Konzeptes nicht umgesetzt werden kann. Sie bemühen sich deshalb, Maßnahmen zu entwickeln, die die Defizite beseitigen können. Es geht ihnen dabei um eine Verbesserung der Situation, allerdings ohne dass sie die Hintergründe für die Belastungen und Irritationen thematisieren und durchschauen. Sie machen die Möglichkeiten, die zu einer Verbesserung führen könnten, ausschließlich an Aspekten ihrer unmittelbaren Arbeitssituation fest, und zwar an den Aspekten, die sie als Person oder die das Team und evtl. die Vorgesetzten in eigener Regie ändern könnten, weil das in ihre Machtbefugnisse und ihre Möglichkeiten fällt.
Alle diese Maßnahmen sind durchaus praktikabel. Hierzu gehören neben  den vielfältigen Strategien der „Selbstsorge“ zum Beispiel die Verbesserung der Teamqualität, die Förderung von Empathie, die es ermöglicht, zu erkennen, welche Prioritäten die wichtigeren sind (so aber werden an anderen Stellen Abstriche notwendig). Auch die Herstellung von Kompromissen gilt als gängige Strategie.

Kersting (2021, S. 266) konkretisiert:

„Diese Verbesserung gilt es durch eine andere Praxis zu erreichen, wobei der Orientierungspunkt hierfür ausschließlich die Rahmenbedingungen der Praxis sind. Die Maßnahmen beziehen sich alle ganz konkret auf den Alltag und sollen das konflikthaft Erlebte praktisch bearbeiten.“

Das bedeutet: Viele solcher Vorschläge betreffen eine Änderung der Arbeitsorganisation, wobei aber immer im Blick bleibt, dass ein reibungsloser Ablauf gewährleistet werden kann.

„Das Gelingen der verschiedenen praktischen Verbesserungsvorschläge wird vehement vertreten und sie werden jeweils durch eine Logik und eine erprobte Praktikabilität legitimiert“ (Kersting ebd., S. 267). Kersting kommentiert: „Durch die Überzeugung, gegen die eigene Erfahrung einer als strukturell falsch identifizierten Praxis sie innerhalb der vorgegebenen Rahmenbedingungen nun doch praktisch richtig machen zu können, wird die falsche Praxis idealisiert. Im Bewusstsein der Akteure ist damit der Widerspruch erfolgreich aufgelöst“ (ebd.).

Ebenso wie die Betroffenen selbst geht tatsächlich also auch die Mehrheit der Disziplin-VertreterInnen davon aus, dass die starke Belastung der SozialarbeiterInnen durch Veränderungen und Verbesserung der unmittelbaren Arbeitsbeziehungen und Kommunikationsebenen sowie durch mehr Möglichkeiten zur Weiterbildung, Fortbildung und Supervision reduziert werden könnte (Mohr und Ziegler 2013, S. 36; Karges und Lehner 2003, S. 337; Seckinger et al. 2008, S. 50; Eichinger/Kraemer 2008, S. 244; Kunze 2013, S. 189).

Die von den SozialarbeiterInnen zum Beispiel in der Untersuchung von Henn et al. (2017) gemachten Vorschläge sind praktische, konkrete und vielleicht auch vergleichsweise leicht umsetzbare Lösungsversuche, die auch tatsächlich eine Entspannung in die Situation bringen können. Faktisch aber sind „die Verbesserungs- und Veränderungsvorschläge ausschließlich so konstruiert, dass sie mit den Regeln der Praxis in Einklang gebracht können, denn die Verwirklichung der Norm (der professionellen Norm) darf nicht im Konflikt zur Funktionserfüllung stehen. Das Regelwerk der neoliberalen Praxis kann nicht radikal infrage gestellt werden, weil die sich widersprechenden Anforderungen beide als legitim anerkannt werden“ (Kersting 2021, S. 267).

Sobald aber bei solchen Überlegungen der mögliche Wirkungsraum des Teams oder des Vorgesetzten verlassen wird, gibt es keine Vorschläge zur Verbesserung der Arbeitssituation mehr:           
Dass die MitarbeiterInnen inzwischen daran gewöhnt sind, um die Finanzierung sicherzustellen, Nonsens-Begründungen und Berichte zu schreiben, die mit den eigentlichen Schwierigkeiten ihrer Fälle nichts oder wenig zu tun haben, ist offenbar kein Problem, über dessen Beseitigung man nachdenken und Veränderungen bewirken könnte. Dass die MitarbeiterInnen in einer Doppelwelt leben müssen, in der die faktischen Belange ihrer Arbeit sich hinter den Rechtfertigungsansprüchen und absurden Regelungen des Trägers und des Kostenträgers wegducken müssen, solche Tatsachen scheinen bei der Frage nach den Belastungen nicht in den Blick zu rücken. Oder dass die SozialarbeiterInnen es zum Beispiel hinnehmen müssen, dass von ihnen durchgeführte sozialpädagogische Maßnahmen willkürlich beendet werden, obwohl sie aus fachlicher Sicht eine Beendigung nicht für richtig halten, auch das ist nicht im Blick, wenn es darum geht, sich Gedanken über mögliche, hilfreiche Veränderungen zu machen.

Weil der Fokus dieser Reaktionsweise vom Typ 4a auf praktisch umzusetzende Lösungen gerichtet ist, und man die Lösungen ausschließlich innerhalb der bestehenden Rahmenbedingungen sucht, werden die strukturellen Grundlagen, die zum Widerspruch führen, nicht angetastet.

Ein weiteres Beispiel:

„Typ 5a: Das Schonmuster
Eine Variante dieses Reaktionsmusters ist es, dass MitarbeiterInnen die Widersprüche zwar nicht gutheißen, sie aber resigniert und distanziert hinnehmen, wohl wissend, was eigentlich passiert und dahintersteckt. Diese Reaktion nennt Kersting die „reflektierte Hinnahme von Kälte“ (ebd. S. 269).

Eine ähnliche Reaktion beschreibt Kunze (2013, S. 186). Sie spricht von einem „Schonmuster“, nämlich der Haltung Professioneller, zu der eigenen Berufstätigkeit auf Distanz zu gehen. Laut AOK-Fehlzeitenreport zeigt sogar etwa die Hälfte der Beschäftigten in sozialen Berufen die Merkmale des sogenannten ‚Schonmusters‘, welches sich dadurch auszeichnet, dass die Arbeit nur eine geringe Bedeutung für das Selbstbild hat. Die Beschäftigten entwickeln kaum beruflichen Ehrgeiz, sie sind nicht bereit, sich zu verausgaben und haben keine Probleme damit, sich von den beruflichen Anforderungen zu distanzieren. Auf ihr privates Leben hat die berufliche Situation keinen Einfluss.

Vielleicht ist eine Krankenschwester, die ihrer Tätigkeit derartig gleichgültig gegenübersteht, kaum vorstellbar. In der Sozialen Arbeit gibt es aber MitarbeiterInnen, die die Soziale Arbeit nur mehr als Broterwerb betrachten und ihrer beruflichen Tätigkeit wegen der Unmöglichkeit, KlientInnen bezogene, professionelle Soziale Arbeit zu machen, kein Interesse mehr entgegenbringen wollen. Diese MitarbeiterInnen beschreiben ihre berufliche Situation sehr wohl in aller kritischen Schärfe. Dass sie trotzdem in diesem Kontext arbeiten müssen, betrachten sie als Zumutung: Sie distanzieren sich innerlich, weil ihnen die Situation aufgezwungen wird, und ertragen sie nur aufgrund ihrer distanzierten Haltung.

Was die Disziplin betrifft, ist das dort mehrheitlich zu verzeichnende konsequente Vermeiden des Themas Neoliberalismus und das Nichtthematisieren der vorhandenen Widersprüche auch eine Art Schonverhalten. Man setzt sich und die Wissenschaft einfach der Problematik nicht aus. Der Pragmatismus der Disziplin zeigt sich also nicht etwa in einer bejahenden oder wenigstens positiven Haltung gegenüber den neoliberalen Vorstellungen, er zeigt sich in der konsequenten Verneinung des Themas. Auf diese Weise aber kann dieser sich besonders gut entfalten.

 letztes Beispiel:

Typ 2c: Dem Druck nachgeben
Menschen, die dem neoliberalen Druck nachgeben und die neoliberale Wende schließlich akzeptieren, obwohl sie sehen, welche Folgen sie hat, entscheiden sich aus Gründen der „Selbsterhaltung“ gegen das professionelle Konzept. Die Normverletzungen werden bewusst gebilligt „und durch die Erkenntnis „legalisiert“, dass man die Situation ohnehin nicht zum Besseren wenden kann“ (Kersting 2021, S. 263). „Die Selbsterhaltung gilt als Rechtfertigung innerhalb von Bedingungen, die das Gute nicht zulassen.“

Auch fachlich und ethisch destruktive Entlastungsstrategien sind vor diesem Hintergrund zu beobachten: Der Entschluss z.B., sich einem Professionalitätstyp zu nähern, der die Verantwortung für einen sozialpädagogischen Misserfolg einfach auf die KlientIn abwälzt (vgl. Heiner 2004), kann zum Beispiel eine große emotionale Erleichterung bringen. Wenn man den Druck nicht mehr ertragen kann, dass die eigene Arbeit ohne wirkliche sozialpädagogische Wirkung bleibt, geht man hier auf Distanz zum Klienten, man wendet sich von einer parteilichen Haltung grundlegend ab und stellt sich so zusagen auf die andere Seite. Als zynische Steigerung dieser Entlastungsstrategie von PraktikerInnen ist eine auch nach außen demonstrierte Missachtung und Ablehnung der eigenen Klientel zu beobachten.

Dem Druck nachgeben hieße hier auch, auf eine Haltung oder eine Meinungsäußerung zu verzichten, die dem Mainstream widerspricht, um Nachteilen, unangenehmen Konsequenzen auszuweichen. Das kann schon die Furcht vor einem Verlust des eigenen Ansehens bei den KollegInnen sein.

Überlegungen zur Lösung?
Bei allen Reaktionsmustern handelt es sich nicht um bewusste Bewältigungsstrategien. Sie gehen unbewusst vor sich, wenn wir sie uns nicht bewusst machen und darüber reflektieren.

Die Beschreibungen der verschiedenen Bewältigungsstrategien der PraktikerInnen nach Kersting (2021) macht deutlich, dass eine Art „Selbst-Immunisierung“ in der Praxis stattfindet. Die SozialarbeiterInnen entwickeln unterschiedliche aber offenbar recht wirksame Bewältigungsstrategien, die es ihnen ermöglichen, den Widerspruch zwischen dem, was sie eigentlich ethisch und fachlich zum Beispiel im Umgang mit ihrer Klientel für richtig halten oder einmal hielten und dem, was von ihnen am Arbeitsplatz erwartet wird, auszuhalten und ihn noch nicht einmal als belastend zu erleben. Sie machen sich hart und unsensibel gegenüber ihrer Klientel.
Dass die alltäglich erlebte Realität, die nur noch in Ansätzen und vielleicht auch schon gar nicht mehr dem entspricht, was das professionelle Sozialarbeitskonzept verlangen würde, wird ausgehalten. Soweit die Diskrepanzen überhaupt noch als Irritation und kognitive wie emotionale Dissonanz erlebt werden, verarbeiten die SozialarbeiterInnen sie mit einem Verdrängungskonzept, das diese Widersprüche für sie „lebbar macht“. Sie haben sich ‚moralisch desensibilisiert‘ (vgl. Kersting 2002, 2021).

Aber wie kann der angeeignete Zustand der „moralischen Desensibilisiertheit“, also Unempfindlichkeit gegenüber Menschen, die gesellschaftlich bedingt Unrecht erfahren haben, aufgebrochen werden?

Neben der Beachtung der Tatsache, die zu Recht betont wird, dass es gilt, die KlientInnen als selbständige Menschen zu sehen und sie als solche zu respektieren und zu stärken und ebenso der Tatsache, dass es darauf ankommt, sie in ihrer spezifischen, gesellschaftlichen Lage zu begreifen und zu akzeptieren, ist die Bereitschaft, sich für den andern einzusetzen, ihn zu unterstützen, für SozialarbeiterInnen, die nicht neoliberal handeln wollen, unverzichtbar. (vgl. hier z. B. auch Thiersch 2020, S. 155).

Es wäre also dringend erforderlich, der neoliberalen Behauptung einer Unvereinbarkeit von menschlicher Nähe und Professionalität entgegenzutreten, was mit der Aufklärung darüber einhergehen muss, was professionelle Distanz bedeutet und wie man sie erlernen kann, ohne dabei die von Kersting in Anlehnung an Adorno (Kersting 2021; vgl. Kap. 10) beschriebene Kälte gegenüber der Klientel zu entwickeln“ (Seithe 2025, S.   ) .

Kersting life:

In folgendem Video beschreibt Kersting diese Zusammenhänge sehr konkret und hoch interessant. Soziale Arbeit wird nur im Hintergrund thematisiert, aber die aufmerksame SozialarbeiterIn kann beim Zuhören jeden Satz und jede Aussage ohne Probleme auf die eigene berufliche Situation hinüberziehen.

Episode 66: Coolout (mit Prof. Dr. Karin Kersting)

Eine erste Lösungsidee für die Problematik sähe Frau Kersting übrigens in Gruppengesprächen und Teamdiskussionen. Wobei sie hervorhebt, dass die dort behandelte Thematik genau dieser Widerspruch und der Umgang mit ihm sein müsste. Und das ist nicht die übliche Selbstsorge, die uns verspricht, durch das Team stark und resilient zu werden und uns befähigt, den Stress und die widersprüchlichen Anforderungen auszuhalten. Das ist vielmehr der Einstieg in die Erkenntnis, dass diese Widersprüche tatsächlich da sind, dass sie uns gemeinsam betreffen, dass sie uns Schaden zufügen (und den KlientInnen natürlich auch) und dass wir uns zusammen überlegen müssen, wie und wo wir uns wehren können.

Literaturverweis:
Kersting, K. (2021): Zur Macht objektiv Kälte verursachender Strukturen in sozialen Berufen. In: Kraus, B./Krieger, W. (Hrsg.) (2021): Macht in der Sozialen Arbeit. Interaktionsverhältnisse zwischen Kontrolle, Partizipation und Freisetzung. 5. Aufl. Detmold: Jacobs Verlag. S. 253ff.

Über m.s.

Ich war 18 Jahre Professorin für Soziale Arbeit an der FH Jena (Methoden, Hilfen zur Erziehung, Schulsozialarbeit). Davor war ich 18 Jahre in der Praxis. Studiert habe ich Psychologie in Münster und Soziale Arbeit in Frankfurt a.M. Bücher: Schwarzbuch Soziale Arbeit Engaging Hilfe zur Erziehung zwischen Professionalität und Kindeswohl Das kann ich nicht mehr verantworten Ambulante Hilfe zur Erziehung und Sozialraumorientierung
Dieser Beitrag wurde unter aktuelle Blogbeiträge abgelegt und mit , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert