Roman: Zum Wohle! 2017

Christine, eine alleinerziehende Hartz IV Empfängerin, bekommt für sich und ihre kleine Tochter Hilfe zur Erziehung. Viel zu früh wird die Hilfe aus Kostengründen beendet und Christine gerät in einen Abwärtsstrudel, der für ihre Tochter in einer Katastrophe endet. Sozialarbeiter Hannes Thaler setzt sich zur Wehr gegen die problematische Entwicklung der Kinder- und Jugendhilfe. Aber er kann weder diese Katastrophe verhindern, noch für seine Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen bessere Arbeitsbedingungen schaffen. Er verstrickt er sich in ehrgeizigen Karriereschritten und muss am Ende seine Ohnmacht eingestehen. Dabei verliert er die Solidarität und den Respekt derer, für die er sich einsetzen möchte und muss hilflos zusehen, wie aus seinem Beruf eine Karikatur dessen wird, was er sich unter Sozialer Arbeit vorstellt. 

Das Buch stellt an einem konkreten Beispiel die Lage der Gesellschaft im Neoliberalismus vor, in dem Menschen – hier Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene –  exkludiert und im Stich gelassen werden.

Leseprobe:

Textausschnitte aus dem Roman „Zum Wohle“

Kapitel 1

Das ist doch schließlich mein Kind, oder?

Das Fernsehgerät gibt plötzlich jenen schrillen Laut von sich, von dem alle aufwachen, die vor der Glotze eingeschlafen sind. Christine schreckt hoch und drückt auf den Knopf der Fernbedienung. Sie gähnt, streicht sich die strähnigen Haare aus dem Gesicht. Vielleicht sollte sie doch endlich ins Bett gehen! Obwohl das jetzt auch schon egal ist. Wozu muss sie jetzt morgens noch ausgeschlafen sein?

Sie wankt ein wenig und muss sich an der Sessellehne festhalten. Ihre Finger greifen in eine klebrige Schicht auf dem Polster. »Mist«, flucht sie. Da ist ihr vorhin eine Flasche ausgerutscht. Wahrscheinlich ist was von dem Zeug auf den Sessel gelandet. Morgen muss sie da wohl mal mit dem Lappen drüber gehen. Heute ist sie viel zu blau dazu. Eigentlich will sie ja nicht mehr trinken, zumindest nicht diesen Fusel! Aber was soll sie machen, wenn man ihr solche Briefe schickt? Das haben die jetzt davon, die ihr diesen beschissenen Brief geschrieben haben, die Leute vom Jugendamt.
»Kramstadt, 11. Juli 2012. Sehr geehrte Frau Christine Harting«, stand da drüber. „So ‚ne dolle Anrede am Anfang. Aber dann nur noch Scheiße!“, denkt Christine wütend.
»Da Sie die beiden letzten Termine im Jugendamt ohne Angabe von Gründen nicht wahrgenommen haben, werden wir die in Aussicht gestellte Sozialpädagogische Familienhilfe vorerst nicht gewähren. Eine solche Hilfe lebt von der Bereitschaft der Betroffenen, sich aktiv einzubringen. Den Willen hierzu können wir bei Ihnen nicht erkennen.“
Doris Herrmann
Allgemeiner Sozialer Dienst/Jugendamt Kramstadt“

Christine zieht die Augenbrauen zusammen. Was die so daherredet, diese Herrmann! Na klar, wollte sie diesen Drachen nicht mehr sehen. Sie hat gedacht, wenn sie nicht kommt, dann kommt die Familienhelferin vielleicht einfach so zu ihr, ohne diesen ganzen Amtskram. Aber natürlich, für die muss ja immer alles nach Plan gehen. Und wenn die pfeifen, dann hat sie zu kommen! Aber nicht mit ihr! Auch wenn sie ‚ne Hartzerin ist und keinen Schulabschluss hat: Sie lässt sich nicht herumkommandieren! Christine atmet tief aus, als könnte sie so ihren ganzen Ärger loswerden.

Dann fällt ihr ein: Der blöde Brief ging ja noch weiter.
Christine wirft einen bösen Blick auf den Tisch im Hintergrund des Zimmers, wo ein weißes Stück Papier zwischen dem unaufgeräumten Frühstücksgeschirr herumliegt. Als sie heute früh nach der Post sah, war dieser Brief dabei, zwischen den üblichen Rechnungen und der ganzen Reklame, versteht sich. Die Rechnungen macht sie schon lange nicht mehr auf. Und eigentlich holt sie die Post nur raus, damit der Kasten nicht überläuft und ihr die blöde Nachbarin von oben nicht wieder sagen kann: „Machen Sie doch mal endlich ihren Briefkasten leer! Da fällt ja schon die Reklame raus und liegt im Flur herum!“
Den Brief vom Jugendamt heute früh hätte sie deshalb auch beinah übersehen, aber irgendwie sah der Umschlag anders aus als die Rechnungen immer. Sie hat ihn geöffnet und gleich im Stehen gelesen. Sie erwartete dieses Mal nichts Böses aus Richtung Jugendamt, denn es war doch längst alles klar mit der Familienhelfergeschichte. Früher hatte sie ständig Ärger mit dieser Herrmann, die immer nur an ihr rumgemeckert hat. Aber dann war da die Frau, wie hieß sie noch, keine Ahnung. Die war jedenfalls bei so‘ner Beratungsstelle, wo die Herrmann sie hingeschickt hatte. Und die hat ihr klargemacht, dass sie vor der erst dann Ruhe kriegt, wenn sie anfängt, selbst was zu tun. Und die hat ihr auch auf den Kopf zugesagt, dass sie das schaffen kann, eben nur nicht ganz alleine, aber mit ‚ner Helferin, die ihr das alles beibringt. Sie hat der Herrmann dann mitgeteilt, dass sie, also die Frau Christine Hartig, unbedingt eine Familienhilfe braucht. Und das hatte tatsächlich geklappt. Die Frau würde nächste Woche anfangen. Eigentlich war Christine jetzt richtig froh, dass es nun endlich losgehen sollte.
Aber dann steht da auf einmal ganz was Anderes. Allein schon diese aufgeblasene Sprache! „Diese Hermann, das ist die Schlimmste“, denkt sie erbittert. Christine hat den Brief noch einmal hochgenommen und sucht die Stelle:
„Wir müssen Ihnen nun mitteilen, dass Sie in den nächsten Wochen mit unangemeldeten Hausbesuchen des Allgemeinen Sozialen Dienstes zu rechnen haben. Das Jugendamt ist verpflichtet, im Falle von Gefährdung oder drohender Gefährdung von Kindern, die Familien im Auge zu behalten und ggf. entsprechende Maßnahmen einzuleiten.«
Sie hätte es sich ja auch denken können!


Christine will das Licht ausmachen, da fällt ihr ein, dass auf dem Sofaende zwischen Kissen eingewühlt ihre kleine Tochter schläft. Sie hat lange mit Christine fernsehen dürfen, aber irgendwann ist sie dann doch eingeschlafen.
Christine hebt das Kind auf ihre Arme und trägt es behutsam in das kleine Zimmer nebenan. Sie legt Anna auf das ungemachte Bett. Anna wacht für einen kurzen Moment auf, streckt den Arm nach ihr aus und murmelt: „Mama?“, dann schläft sie wieder. Christine lächelt und deckt das Kind mit einer der herumliegenden Wolldecken zu. „Irgendwo hatte ich doch ne richtige Bettdecke für die Kleine“, geht es ihr durch den Kopf. Sie schaut sich um: Dass sie aber auch nie Ordnung halten kann! Auf dem Fußboden liegen halb leer gegessene Quarkbecher und eine ausgeschüttete Pappschachtel mit Pommes. Mitten drin der tolle elektrische Hund, den ihr die Oma am Sonntag mitgebracht hat. Seit die Batterien leer sind, und der nicht mehr laufen und bellen kann, hat Anna nichts mehr für ihn übrig. Morgen sollte sie hier endlich einmal aufräumen. Sie nickt sich selbst zu und schließt die Tür.

In ihrem Schlafzimmer sieht es nicht viel besser aus. „Ach du Scheiße“, denkt sie bei diesem Anblick. Mit Mühe zieht sie sich aus und hält sich dabei immer am Bett fest. Dann wirft sie sich auf die Matratze. Der Schwall Übelkeit, der sie plötzlich überkommt, zwingt sie, eine Zeit lang ganz still zu liegen. Nur allmählich geht es vorüber. Dann endlich kann sie sich umdrehen und unter eine der auf ihrem Bett herumliegenden Decken wühlen. Sie schließt die Augen. Sie möchte einfach nur noch schlafen.

Aber in ihrem Kopf drehen sich die Gedanken weiter:
„Ich bin schließlich nur deshalb nicht zu dem Termin gegangen, weil ich diese Hexe von Herrmann nicht wiedersehen wollte. Und da machen die jetzt so ‚ne Sache draus! Die Frau von der Familienhilfe war eigentlich ganz nett. Als die neulich hier zur Probe war, hat die sich bei mir ordentlich vorgestellt. „Miriam Schneider“, hat sie einfach gesagt und Christine die Hand gegeben. Die ist auch nicht gleich über den ungemachten Abwasch hergefallen und hat ihr keine Vorwürfe gemacht, weil Anna um 10.00 Uhr noch nicht angezogen war. „Ne, wirklich, gegen die habe ich nichts. Vielleicht hätte die mir wirklich helfen können, wegen dem Geld und den ewigen Mahnbriefen und wegen dem Essen für Anna“, denkt Christine traurig.
Das ist ein ganz besonders heikler Punkt. Christine seufzt. Inzwischen kauft sie nur noch Fastfood und Fertiggerichte. Anna will überhaupt nichts mehr von dem essen, was Christine ihr kocht. Klar, es ist fast immer angebrannt, aber sie hat eben nicht die Geduld, beim Herd stehen zu bleiben und aufzupassen. Das ist nicht ihre Art. Und das hat ihr keiner beigebracht. Schon gar nicht ihre eigene Mutter. Die hatte sie schließlich ins Heim gesteckt, weil sie mit ihrem Lover abhauen wollte. Woher soll sie jetzt wissen, was das ist „Mutter sein“ und wie das geht? Als klar wurde, dass sie schwanger war, da sagten sie alle: „Christine, jetzt musst du vernünftig werden, jetzt wirst du Mutter!“
Als ginge das einfach so! Als würde man das alles mit aus dem Bauch rausdrücken, zusammen mit dem Kind: Das ganze Wissen, wie man zu sein hat, wenn man eine Mutter ist. Irgendwer muss ihr das doch erklären!

Und nun ist es also wieder nichts: keine Hilfe.

Christine macht die Augen wieder auf und starrt in das dunkle Zimmer um sie herum. „Schade. Aber, na gut! Dann eben nicht!“ Sie wird nicht darum betteln. Sie nicht. Nicht vor denen. Die tun immer so, als würden sie ihr eine milde Gabe überreichen, wenn sie sich mit ihr befassen. Nein, sie braucht keine milden Gaben!

„Aber, wenn die jetzt wieder dauernd kontrollieren kommen!“, fällt ihr ein. Bestimmt werden sie ihr am Ende Anna wegnehmen.

Christine hebt den Kopf und lauscht. Von ihrer Tochter ist kein Laut zu hören. Anna schläft fest.
„Ich will mein Kind behalten“, flüstert sie. „Ich habe es lieb. Es ist doch schließlich mein Kind, oder nicht? Warum meckern die bloß alle an mir herum? Ich bin doch Annas Mutter und ich will es auch sein!“

Plötzlich kommen Christine Tränen. Den ganzen Tag, seit sie den Brief gelesen hat, ist sie nur sauer gewesen. Jetzt weint sie sich in den Schlaf.

Kapitel 23

Schluss ist, wenn wir es wollen!

Es waren einige Monate vergangen, seitdem Christine das erste Mal am Fenster gestanden und auf Miriam gewartet hatte. Nun kam Miriam schon ein ganzes Jahr lang zu Christine und Anna.

Als Miriam heute die Treppe zu Christines Wohnung heraufkam, sah sie merkwürdig aus, so als ginge es ihr nicht gut, stellte Christine fest.
Miriam begrüßte Christine und ließ sich erschöpft auf den nächsten Stuhl fallen. Christine beobachte Miriam voller böser Ahnungen. Sie fragte nichts und Miriam reichte ihr wortlos einen Brief, den sie ihr vom Jugendamt übergeben sollte. Man wolle es Miriam überlassen, Christine die Sachlage zu erklären, hatte Frau Herrmann freundlicherweise gemeint. Jetzt hatte sie, Miriam also den Schwarzen Peter. Aber natürlich immer noch besser so, als wenn die wieder so einen Amtsbrief per Post an Christine schicken hätten.

Christine nahm Miriam den Brief ab. Sie blieb stehen und las ihn langsam und mit Stockungen, zunehmend verwirrt:

»Sehr geehrte Frau Hartig,
wir freuen uns, dass sie sich zu der Jugendhilfeleistung „Sozialpädagogische Familienhilfe“ bereitgefunden haben und dass diese nach einem Jahr so erfolgreich abgeschlossen werden kann.
Wie wir dem Bericht Ihrer Familienhelferin, Frau Miriam Schneider entnehmen, haben sie inzwischen große Fortschritte gemacht und Ihre Tochter Anna geht jetzt wieder regelmäßig in den Kindergarten.
Die Familienhilfe wird damit zum letzten dieses Monats eingestellt.
Mit freundlichen Grüßen!

Christina starrte auf den Brief und verstand nichts. Was sollte das? Miriam hatte ihr doch versprochen… Und sie hatte ihr auch den Bericht vorgelesen, den sie für das Amt geschrieben hatte. Und da hatte schwarz auf weiß dringestanden, dass sie und Anna zwar schon viele Fortschritte gemacht hätten, dass sie, Christine, aber weiter Unterstützung braucht: Sie brauche ein weiteres halbes Jahr und ggf. noch eine Verlängerung um drei Monate, hatte dringestanden.
Christine sah Miriam ratlos an. Die versuchte gerade, sich aus den Armen der kleinen Anna zu befreien, die hereingestürmt war, als sie die Stimme von Miriam gehört hatte.
»Was ist das?«, fragte Christine und sah Miriam hilfesuchend an.
»Die sind der Meinung, dass du schon alles weißt und kannst«, gab die mit bitterer Stimme zurück.
„Aber ich möchte doch noch weitermachen und ich kann doch noch nicht alles alleine, Miriam, das müssen die doch begreifen!«
»Ich habe schon alles versucht, Christine, aber sie begreifen es nicht. Sie denken nur von hier bis zum nächsten Scheunentor: Weil Anna nun ein paarmal im Kindergarten aufgetaucht ist, heißt es gleich: Erfolgreich abgeschlossen. Natürlich hast du viel gelernt, aber ich denke, wenn wir jetzt aufhören, ist das zu früh.«
»Wieso Scheunentor?«, fragte Christine irritiert.
»Ach, das ist nur so eine Redensart. Im Klartext will ich sagen: Sie wollen kein Geld mehr ausgeben für euch beide. Sie finden, das ist jetzt genug und nun muss es von alleine klappen.«
Die beiden Frauen sahen sich verstört an. Als Christine begriff, dass die Lage aussichtslos war und dass auch Miriam nichts dagegen machen konnte, bekam sie plötzlich Angst. Sie kämpfte mit den Tränen. Miriam, selbst tief empört und erschrocken, bemühte sich, der jungen Frau Mut zu machen. „Du hast schon so viel gelernt, Christine, ich glaube, du weißt doch schon, wie es geht, das Mutter-Sein.“ Aber ihre Stimme klang nicht sehr überzeugend.
Jetzt fing Anna an zu weinen. Sie begriff nicht, warum die beiden Erwachsenen plötzlich so ernst und hilflos vor ihr standen.
»Miriam darf nicht mehr zu uns kommen«, versuchte die Mutter, zu erklären. »Die Leute da im Jugendamt sind der Meinung, wir beide hätten schon genug gelernt«, sagte sie und bemühte sich tapfer, ihr Kind dabei anzulächeln.
Mit einem Mal brüllte Anna los. Sie klammerte sich an Miriam und schrie ihre Mutter an. »Dann hau du ab! Die bleibt hier!« Christine brach in verzweifelte Tränen aus.
Miriam hatte gerade mal zwei Wochen, um den Schaden zu begrenzen. Sie war und blieb bestürzt.

Am Nachmittag saß sie noch immer schockiert im Familienhelferbüro. Sie hatte mit Hannes sprechen wollen. Er war unterwegs.
Miriam rief Heike im Jugendamt an. Sie musste jetzt einfach mit jemand sprechen, der das Ganze anders sah als diese Frau Herrmann. ´Sich mit der auseinanderzusetzen, hatte sie keine Kraft und es war mit Sicherheit sinnlos.

Heike meldete sich. Als Miriam ihr die Lage schilderte, sagte die nur:
„Scheiße, wieder so eine Sache! Aber Miriam, mach dir keine Hoffnungen. Zurzeit geht hier im Amt der Sparteufel um. Wir sollen alle laufenden Hilfe – sie sagen ja immer Leistungen – gut alles, was kostenintensiv ist – also, wir sollen bei jedem Fall prüfen, ob die Hilfe unbedingt noch weiterlaufen muss und dann möglichst das Ende einleiten. Dagegen wirst du nicht ankommen. Ich käme zurzeit selbst nicht dagegen an.“

Miriam schüttelte enttäuscht den Kopf.

Dann fragte Heike noch: „Nächste Woche ist Kritischer Kreis, sehen wir uns da? Hoffentlich kommt Irene dann auch. Ich habe seit unserer letzten Sitzung nichts mehr von ihr gehört. Ich glaube, wir müssen uns mal um sie kümmern.“
„Stimmt“, versprach Miriam. Dann legte sie auf, denn Heike musste ein dringendes anderes Telefonat führen
Eben war auch Hannes gekommen. Noch bevor er sein Büro betreten konnte, überfiel Miriam ihn mit der Hiobsbotschaft. Hannes war von der Nachricht so schockiert wie sie selbst. Wieder einmal machten die im Amt einem die ganze Arbeit kaputt, weil sie die Hilfen einfach zu früh abbrachen. Das hatte wahrhaftig mit Kindeswohl nichts mehr zu tun, dachte er zornig.

Sein Anruf im Amt bei Frau Herrmann allerdings stieß auf taube Ohren. »Hören Sie mal, Herr Körner, das ist ja sehr schön, dass Sie sich für die Fälle Ihrer Mitarbeiter so einsetzen, aber über die Dauer einer Maßnahme entscheiden immer noch wir. Dieser Fall ist keine Kindeswohlgefährdung und nicht einmal Grauzone. Und wir haben die Hilfe trotzdem gewährt. Ein Jahr ein bisschen gemeinsam Bilderbuch gucken, das muss dann aber mal reichen!«
„Schau mal an, wer hätte das gedacht: So gut liest sie die Zwischenberichte der Familienhelferinnen dann also doch!“, zuckte es Hannes durch den Kopf. Er wurde jetzt lauter. Es ging hin und her. Dann sagte die Kollegin am anderen Ende der Leitung mit spitzer Stimme:
»Sie haben sich nun schon zwei Mal in dieser Sache echauffiert. Langsam frage ich mich, welches Interesse sie eigentlich an diesem Fall haben.«
Hannes hatte das Gefühl, eine Ohrfeige bekommen zu haben. Er konnte nur noch den Hörer auflegen.
Ihm fiel keine Instanz ein, an die er sich in seiner Wut und seinem Entsetzen hätte wenden können. Bei seinem Träger würde man das Verhalten des Jugendamtes einfach und ohne Widerstand schlucken. Schließlich wollte man ja weiterhin Fälle überwiesen und finanziert bekommen. Den Vorgesetzten von Frau Herrmann im Jugendamt kannte er. Der würde höchstens sagen: »Nun seien Sie doch endlich mal zufrieden, Herr Körner, nun hatten sie Ihren Willen und wir haben ein Jahr finanziert. Aber es gibt wahrhaftig wichtigere und schwierigere Fälle, da werden sie mir sicher zustimmen!«.
Das konnte er sich also sparen.
Er rief bei der Ombudstelle an, die es seit einigen Jahren in der Stadt gab und deren Mitarbeiterinnen sich um Konfliktfälle zwischen öffentlicher Jugendhilfe und Klientinnen oder Klienten kümmerten.
Aber auch hier lief Hannes ins Leere:
»Zunächst müsste die Mutter selbst zu uns kommen, Herr Kollege, und dann denke ich, wir haben schlechte Karten. Deswegen weiß ich gar nicht, ob es wirklich sinnvoll wäre, die Mutter zu einem solchen Schritt zu motivieren. Es könnte sehr leicht auf eine erneute Enttäuschung hinauslaufen. Ein Jahr wurde ja schließlich gewährt und scheint ja auch ganz gut gelaufen zu sein. Und in Gefahr ist dieses Kind doch nicht, das haben sie selbst gesagt. Glauben Sie mir, wir haben hier ganz andere Sachen durchzukämpfen.«

Hannes sah plötzlich ganz klar, dass er sich in einer Sackgasse befand. Hatte er bis jetzt noch gezögert seine in ihm gärenden Veränderungspläne ernsthaft umzusetzen, hatte es nur noch diesen Vorfall gebraucht, diese endlich umzusetzen. Er machte sich keine Illusionen, dass es anderswo grundlegend anders sein würde. Aber vielleicht könnte er – etwas weiter oben auf der Leiter – auf diese unsinnigen Strukturen Einfluss nehmen. Ohnmächtig zusehen jedenfalls, das wollte er nicht mehr.

Kapitel 46

Da kann ich nicht mehr zusehen

Tage vergingen.
Das Telefon klingelte. Hannes nahm ab und hörte zu seiner Freude Miriams Stimme. So gerne hätte er ihr jetzt sein Herz ausgeschüttet! Aber Miriam drückten im Augenblick eigene Sorgen und die musste sie loswerden.
Sie hatte gestern zufällig Christine und Anna auf der Straße getroffen, mitten in einer Gruppe von Alkis, oder Pennern, wie auch immer. Christine saß da in den Armen eines der Männer und Anna stand hilflos und wütend dabei. Miriam hat ihren Augen nicht trauen wollen und musste zweimal hinsehen.
„Als Anna mich erkannte, sprang sie sofort auf mich zu und sagte: ‚Nimm mich mit, Miriam. Ich will nicht hierbleiben‘. Ich schaute nach Christine, die sich aufgerichtet hatte. Und als sie sah, dass Anna meine Hand nahm, löste sie sich aus der Umarmung und kam zu uns.
‚Was macht ihr hier?‘, fragte ich.
‚Das sind hier alles meine Freunde‘, lallte Christine.
‚Ich bringe euch nach Hause‘, habe ich gesagt und bin einfach mit Anna losgegangen. Christine kam hinterher. Als ich in die Wohnung trat, hat mich fast der Schlag getroffen. Alles durcheinander und dreckig, nein regelrecht versaut. Ich spar mir die genauere Beschreibung. Als Christine sah, wie schockiert ich war, fing sie hemmungslos an zu weinen. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Eigentlich war ich auf dem Weg zu einer anderen Familie. Dort rief ich an und sagte für den Tag ab. Ich blieb bei den beiden bis in den Abend hinein. Als Anna schlief, war Christine endlich halbwegs nüchtern.
‚Christine‘, habe ich gesagt, ‚du weißt, dass das so nicht geht. Nicht für Anna. Aber auch nicht für dich. Du zerstörst gerade euer Leben, weißt du das?‘
Sie hat geantwortet: ‚Da ist nichts mehr zu zerstören, Miriam.‘ Und dann hat sie wieder geweint. Irgendwann sah sie mich an und fragte: ‚Warum durftest du nicht mehr kommen? Und warum hast du vor einem halben Jahr nicht wieder angefangen? Sie wollten es doch alle, wegen dem blöden Schularzt. Aber es wurde nichts draus. Niemand hilft mir mehr. Niemand mag mich mehr, bis auf die paar Freunde, die du gerade gesehen hast.‘
Ich habe ihr gesagt, dass dieser Umgang für Anna nicht infrage kommt und, wenn das nicht aufhört, Anna wo anders leben wird. Da hat sie furchtbar geheult und gesagt: ‚Aber der Rudo, der mag mich. Der ist auch manchmal hier, aber dann stört ihn wieder die Anna. Anna kann ihn nicht ausstehen und macht dann alles, um ihn rauszuekeln. Manchmal sperrt er sie in ihr Zimmer ein. Da tut mir Anna leid. Aber ich kann ihn doch nicht rauswerfen. Was soll ich tun, Miriam?‘“. Sie schwieg einen Moment.

Und genau das frage ich jetzt dich, Hannes. Was soll ich tun? Was müssen wir tun? Sie hat die Herrmann seit Wochen nicht reingelassen. Die macht immer unangemeldete Hausbesuche. Aber Christine lässt die Frau nicht rein. Die wissen also im Jugendamt gar nicht, wie es mit Anna und ihrer Mutter wirklich aussieht!“

Hannes dröhnte der Kopf. Das war jetzt also das Ergebnis all der Bemühungen und der Nichtbemühungen um Anna und ihre Mutter. Kein Einzelfall freilich. Aber es traf einen immer dann am meisten, wenn man selbst mit solchen Katastrophen zu tun hatte.
Hannes bemühte sich, einen professionellen, klaren Blick zu behalten. „Wenn das so ist, dann musst du natürlich eine Gefährdungsmeldung machen. Oder ich kann das übernehmen. Ich weiß ja: Dich hat die Frau ja gefressen, diese Frau Herrmann. Ich mache das, Miriam. Jetzt ist die Gefährdung ja da, das kann keiner mehr abstreiten. Und jetzt muss gehandelt werden und du wirst sehen, das Amt wird springen.“
„Aber was wird jetzt mit den beiden? Wenn ich mir vorstelle, dass Anna ins Heim kommt, und niemand Christine betreut und stützt: Das geht in die Hose! Und Anna wird trotz ihrer Wut auf Christine nicht bereit sein, wegzugehen.“
„Kann sein, aber dann ist wieder Frau Herrmann am Ball, Miriam. Die im Amt müssen handeln. Und die gute Nachricht heißt: Jetzt werden sie es ernst nehmen. Die schlechte Nachricht: Es ist eigentlich zu spät.“
„Stimmt“, meinte Miriam traurig. „Gut Hannes, mach du es. Aber sag mir, was mache ich, wenn Christine mich aufsucht. Sie weiß, wo ich wohne.“
„Es ist zum Fürchten, Miriam, aber du musst sie dann samt Anna zu Frau Herrmann bringen oder zum Bereitschaftsdienst.“
„Das halte ich nicht aus. Sie braucht doch jemanden, aber dort wird sie nur herumgeschickt und beschuldigt, das weißt du doch auch.“ Sie hielt inne. Dann sagte sie in einem ruhigeren Ton:

„Hannes, was machen wir hier eigentlich? Warum ist es so unmöglich, Menschen tatsächlich zu unterstützen? Warum geht es nicht darum, Menschen zu helfen, sondern immer nur darum, dass die endlich spuren und funktionieren? Und nicht so viel Geld kosten. Und erst, wenn alles zu spät ist, dann werden sie auf einmal interessant…“
„Miriam, was soll ich sagen? Wir haben offenbar einen Scheiß-Job erwischt“ seufzte Hannes. „Wer heute Jugendhilfe machen will, der muss sich warm anziehen.“

Hannes holte tief Luft. Er überlegte, ob er weitersprechen sollte. Aber dann sagte er doch: „Du weißt ja, in was für einer Klemme ich in den letzten Monaten gesteckt habe! Und es ist schließlich nicht vorbei. Grätz will es noch mal mit dem Vorstand erörtern. Also ist alles offen.“
„Glaubst du denn, sie werden Irene den Vertrag jetzt doch verlängern?“
„Keine Ahnung. Ich warte und rätsele. Aber ehrlich gesagt, ich weiß wirklich nicht, was ich tue, wenn sie meine Intervention ein zweites Mal einfach ignorieren.“
„Kann ich gut verstehen, Hannes. Halt die Ohren steif! Ich muss jetzt los zum nächsten Termin.“

Hannes meldete Frau Herrmann noch am selben Nachmittag, in welchem Zustand die Mutter mit ihrer Tochter angetroffen wurde und sprach klipp und klar von aktueller Kindeswohlgefährdung. Es müsse auf der Stelle was passieren. Und er konnte es sich nicht verkneifen, zu fragen, warum eigentlich nach seiner Ablehnung damals, den Fall unter den angegebenen Konditionen zu übernehmen, niemand anderes mit der Familienhilfe betraut worden sei. Das hätte vielleicht das Schlimmste verhindert.
„Das hat unser Amtsleiter damals so entschieden. Und Sie haben den Fall ja schließlich nicht übernehmen wollen!“, trumpfte Frau Herrmann sofort auf.
„Ich ging davon aus, dass Sie im Amt sich noch einmal überlegen, was Anna und Christine wirklich brauchen und dass Sie dann einen neuen Hilfeplan entwickeln würden“, bemerkte Hannes. Aber Frau Herrmann fuhr ihm über den Mund mit den Worten: „Machen jetzt die freien Träger die Hilfeplanung, oder was? Wie kommen sie auf so eine absurde Idee?“
„Aber warum haben Sie die Maßnahme nicht wenigstens anderen Trägern angeboten?“
„Sie fanden sie zu knapp bemessen und fragen jetzt, warum andere sie nicht gemacht haben? Ich glaube, Herr Körner, das Gespräch hier ist müßig. Danke für ihre Meldung. Ich kümmere mich darum. Aber Ihre Belehrung können Sie sich an den Hut stecken.“

Rezensionen zum Roman „Zum Wohle“


„Lehrroman der kritischen sozialen Arbeit“

07.04.2017
Der Roman „Zum Wohle“ von Mechthild Seithe, die selbst aus der Sozialen Arbeit kommt, erzählt aus dem Leben von Hannes Thaler, einem engagierten Sozialarbeiter, der sich inmitten der fortschreitenden Neoliberalisierung der Kinder- und Jugendhilfe, trotz bester Absichten in seinen Karriereschritten verstrickt.
Auch wird von Christine Hartwig und ihrer Tochter Anna erzählt, die aus Kostengründen nicht ausreichend Hilfe vom Staat bekommen und den Konsequenzen davon.
Nach zahlreichen Berufsjahren in der Sozialpädagogischen Familienhilfe steigt Hannes Thaler mit der Zustimmung seines Teams zum Teamleiter auf. Er baut darauf, aus dieser Position bessere Arbeitsbedingungen für seine Kolleginnen zu schaffen und sich besser gegen die problematischen Entwicklungen in der Kinder- und Jugendhilfe zur Wehr setzen zu können. Doch diese Rechnung wird nicht aufgehen. Hannes Thaler erlebt, wie wenig er bewegen kann, wie er mehr und mehr in eine Sandwich-Position und in Loyalitätskonflikte gerät, Kürzungen und Stellenreduktionen mit durchsetzen muss und sich trotz aller Gegenbemühungen immer weiter von der Basis entfernt. Und er leidet daran, tut sich aber auch schwer, den neu erlangten Status wieder aufzugeben. Thalers Situation spitzt sich zu und es kann kein Happy End geben. Einer der „Fälle“ die Hannes Thaler mit bewegt und trotz besseren Wissens doch nicht wenden kann, sind Christine Hartwig, eine alleinerziehende ALG-II-Empfängerin, und ihre 4jährige Tochter Anna. Nach dem erfolgversprechenden Beginn einer Sozialpädagogischen Familienhilfe für die Beiden, wird diese viel zu schnell wieder durchs Jugendamt eingestellt: Nachdem es die Mutter ein paar Mal geschafft hat, ihre Tochter wieder in die Kita zu bringen, geht man dort davon aus, dass das angestrebte Zeil der Hilfe erreicht worden sei. Aber das ist viel zu kurzgegriffen. Obwohl die Mutter die Hilfe unbedingt fortsetzen möchte, wird die „Maßnahme“ beendet. Christine und ihre Tochter sind nun wieder alleine auf sich gestellt – und die Probleme nehmen ihren Lauf. Die Geschichte von Hannes Thaler, Christine Hartwig und den anderen Protagonisten aus „Zum Wohle“ spielt in einer Gegenwart, die von der gesamtgesellschaftlichen Umsteuerung im neoliberalen Sinne und damit von der Vermarktlichung auch des Sozialen geprägt ist. Dies bedeutet für die Soziale Arbeit und hier die Kinder- und Jugendhilfe unter anderem auch die Gleichstellung gewinnorientierter mit gemeinnützigen Trägern und eine Bewertung der Arbeit hauptsächlich nach ökonomischen Gesichtspunkten. Die notwendigen Voraussetzungen für eine „gute“ Soziale Arbeit werden von Verwaltung und Politik verweigert und die Arbeitsverhältnisse der Sozialarbeiterinnen prekarisiert. Aus Gründen der Effizienz wird oft keine oder eine nur unzureichende Hilfe gewährt. Wie sich Sozialarbeitende – in ständigem Kampf mit diesen Widersprüchen – in diesen
Verhältnissen zu bewegen versuchen, ohne ihre fachlichen Ziele aufzugeben, davon handelt dieser Roman.
Angesichts des realpolitischen Hintergrundes ist „Zum Wohle“ kein leicht verdauliches, wie wohl ein differenziertes und doch kurzweiliges Buch ohne Längen. Die Autorin schafft es ihren Figuren angemessen zu begegnen und deren Handeln, Denken und Fühlen unter den jeweiligen Bedingungen zu beschreiben, ohne die Menschen vorzuführen. Auch die Nebenfiguren sind gut ausgearbeitet und tragen ihren Teil zur Geschichte bei, so Elke, Hannes pragmatische und durchaus aufstiegsorientierte Ehefrau, oder Alenka, Bekannte von Hannes, Kroatin, die als gelernte Ingenieurin bisher als Reinigungskraft arbeitet und nun die Chance bekommt, bei einem der neuen Sozialen Träger als Ungelernte Sozialarbeit zu machen.
Vor allem aber schafft es die Autorin, zum Nachdenken zu bewegen.
Mechthild Seithe hat nach zahlreichen Sachbüchern mit ihrer ersten Prosaveröffentlichung einen, man könnte sagen, Lehrroman der kritischen sozialen Arbeit geschrieben, den es zu lesen lohnt!
Rezensentin: Corinna Wiesner-Rau,
Die Rezension wird veröffentlicht in sozial extra 3/17
„…einen Platz im Buchregal eines jeden Sozialarbeiters verdient „


11.04.2017
In ihrem Roman „Zum Wohle!“ entwickelt die Autorin Mechthild Seithe anhand ihres Protagonisten Hannes Thaler ein brandaktuelles und profundes Bild der gegenwärtigen Jugendhilfe in Deutschland. Die Autorin zeichnet die individuelle Entwicklung des Hauptdarstellers nach und entwirft dabei eine eindrückliche Skizze seines Arbeitsfeldes, der sozialen Arbeit, die sie in die fachliche und politische Debatte über die heutigen Entwicklungen der Jugendhilfe einbettet.
Der Leser begleitet Hannes auf dem Weg vom fachlich fundierten und kritischen Familienhelfer über die Sprossen der Karriereleiter in die mittlere Leitungsebene. Gefeiert wird seine berufliche Entwicklung nicht nur von seiner Frau Elke, sondern auch von zwei befreundete Paaren, einem Sozialwissenschaftler ohne Stelle und seiner Frau, die putzen muss, weil ihr ausländisches Diplom nicht anerkannt wird, sowie der studierte Kneipenwirt Carlos und seine ihm ergebene Frau Melanie, Leiterin eines Reisebüros. Die drei Paare treffen sich in größeren Abständen, um nach dem traditionellen lukullischen Festmahl im gemütlichen Kreis über ihre aktuellen Erfahrungen, Sorgen und Pläne diskutieren.
Über den Zeitraum von drei Jahren hinweg, in dem der Roman Hannes Thaler auf seinen spannungsvollen und belastenden Wegen begleitet, erlebt der Leser außerdem die sich zunehmend prekär entwickelnde Lebenswirklichkeit einer alleinerziehenden Mutter und ihrer kleinen Tochter, die als Adressatinnen der Jugendhilfe die bedenklichen Verwerfungen in diesem Feld im wahrsten Sinne des Wortes am eigenen
Leib erfahren. Dieser brisante und exemplarische „Fall“, der sich durch den gesamten Roman zieht, spielt für Hannes Thaler und seine Kolleginnen eine zentrale Rolle.
Ein weiterer Handlungsstrang des Romans dreht sich um die Aktivitäten und das berufliche und persönliche Leben von drei kritischen und politisch aktiven Sozialarbeiterinnen – wobei es auch hier immer Verbindungen zu den anderen Handlungsebenen gibt.
Der Verlauf der Handlung ist geprägt von Charakteren, die in ihrer literarischen Zeichnung für den Leser das Potential zur Identifikation bieten. Die Handlungen zeichnen sich durch Lebensnähe aus, jedoch ohne den Charme der Fiktion des Genres zu verspielen. Die Gestaltung der gesellschaftlichen und fachlichen Umgebung ist gut nachvollziehbar, ohne dass sie ins Faktuale gerät. Der Bogen wurde auf eine elegante und doch durchdringende Art gespannt, so dass der Leser im Verlaufe des Leseprozesses zunehmend auf die Katharsis und Auflösung hin fiebert.
Besonders hervorzuheben ist: Der Roman verzichtet auf einfache Antworten, auf plumpe Schwarz-Weiß-Zeichnung und auf holzschnittartige Darstellungen der Personen. So sind z.B. die Figuren differenziert und in all ihrer Ambivalenz gezeichnet. Und obwohl Mechthild Seithe auf Missstände pointiert und deutlich hinweist, übt sie sich nicht in reißerischen Formulierungen. Der Leser wird im besten Sinne dazu angeregt, sich in der Auseinandersetzung mit dem Stoff seine ganz eigene Haltung zu erlesen und zu finden.
Der Roman „Zum Wohle“ hebt sich mehr als wohltuend ab von den üblichen Schilderungen sozialer Arbeit und Jugendhilfe. Ist einer breiteren Öffentlichkeit die Situation von Sozialarbeitern und Klienten häufig nur in boulevardesker Form von Vorabendserien in „scripted reality“ und reißerischen Aufmachern auf den Titelblättern bekannt, so bietet sich hier eine einmalige Möglichkeit, eine andere, eine authentische Realität kennen zu lernen.
Mechthild Seithe gelingt es, die Gattung Roman auf verschiedensten Ebenen auf das Beste zu bedienen: Als Leser fühlt man sich hervorragend unterhalten, da der Plot – auch völlig unabhängig vom Inhalt – spannend und fesselnd gestaltet ist. Die Figuren und hier vor allem der Protagonist sind in all ihrer Ambivalenz sind der Motor der die Geschichte nach vorne bringt. Auf diese Weise vermittelt sich nicht nur dem lesenden Sozialarbeiter, sondern auch dem Leser ohne „Stallgeruch“, eine nachvollziehbare, schonungslose und kritische Sicht auf den Zustand von Jugendhilfe und sozialer Arbeit in unserer Zeit.
Zusammenfassend lässt sich feststellen: Der Roman ist unterhaltsam, spannend, realitätsnah und in seiner Erzählweise gradlinig und schonungslos. Er zeichnet ein ehrliches, aber ebenso empathisches Bild von der Lage der Menschen am Rand unserer Wohlstands- und Überflussgesellschaft und von den Menschen, die genau dort als professionelle Sozialarbeiter arbeiten. Bei allem macht der Text unmissverständlich klar, was ein „Weiter so“ für Helfer und Geholfene bedeutet.
Wofür das Buch aber auf jeden Fall einen Platz im Buchregal eines jeden Sozialarbeiters verdient hat, ist die klare Reflexionsfläche, der man sich stellen muss, wenn man diesen
Roman liest und sich auf ihn einlässt. Möglicherweise kann dieses Buch, mehr noch als die Fachpublikationen der Autorin, dazu beitragen, dass es Menschen gelingt, eine neue, kritische Position für sich zu beziehen: zu ihrer Arbeit als Sozialarbeiter in einer höchst problematischen Zeit und zu den Betroffenen, die die Leidtragenden dieser Fehlentwicklung sind. Denn: „Nur ein bewusst gelebtes Leben ist ein gutes Leben“ – Sokrates.
Alle anderen werden aufs Beste unterhalten und erhalten einen realistischen und spannenden Einblick in eine Welt die genauso zu uns allen gehört.
Rezensent: Florian Bode
Die Rezension wird veröffentlicht in „Forum Sozial“ 5/17
„worum es in der Sozialen Arbeit geht, was an der Arbeit schön aber auch sehr belastend bis unerträglich sein kann“


28.4.2017
Mechthild Seithe, eine Doyenne der deutschen Sozialarbeit und unter anderem Autorin des „Schwarzbuch Soziale Arbeit“ sucht mit dem Roman „Zum Wohle“ einen anderen Weg, sich mit derzeitigen Lage in der deutschen Kinder- und Jugendhilfe auseinanderzusetzen. Der Roman „Zum Wohle“ spielt in einer Gegenwart, die von der gesamtgesellschaftlichen Umsteuerung im neoliberalen Sinne und damit von der Vermarktlichung auch des Sozialen geprägt ist, Entwicklungen gegen die sie in ihren anderen Büchern angeschrieben hat. „Aber ich kenne und liebe dieses Arbeitsfeld und diesen gesellschaftlichen Bereich und ich möchte ihm nach fast 40 Jahren der Verbundenheit ein Geschenk machen, ein Denkmal setzen und die Bedingungen für seine Rettung definieren.“ (Seithe 2017, ) Auf diese Weise versucht sie wohl auch eine breitere Leserschaft anzusprechen, die über kein professionelles sozialarbeiterisches Wissen verfügt.
„Der Markt treibt der Sozialen Arbeit die Seele aus.“ (Seithe 2010,146). Und wie das passiert, zeichnet sie anhand der gut gezeichneten Figuren im Roman nach.
Die Protagonist_innen bestehen aus Hannes, Sozialarbeiter mit Leistungsambitionen, der alleinerziehenden Christine, deren Tochter Anna und der Familienhelferin Irene.
Hannes bewirbt sich erfolgreich um eine Leitungsposition, aber er muss ohnmächtig zusehen, wie Kinder und Jugendliche im Stich gelassen werden und Hilfen zu spät oder halbherzig kommen, wie beispielweise für die kleine Anna und ihre Mutter Christine. Er versucht trotzdem, seine Sandwichposition mit den verschiedenen Rollenerwartungen seitens der Leitung und den Mitarbeiter_innen auszubalancieren. Er scheitert und findet nach einem halben Jahr eine Stelle in einem „Sozialkonzern“. Aber auch hier muss er
erkennen, dass man von ihm als Leiter vor allem erwartet, die Anweisungen und Interessen seiner Arbeitgeber nach unten durchzusetzen. Seine Hoffnung auf mehr Macht und Einfluss indes erweist sich als Fehleinschätzung.
Seine Familie, seine Freunde und die Kolleginnen Miriam, Heike und Irene vom „Kritischen Kreis Soziale Arbeit“ begleiten ihn durch die Höhen und Tiefen seines Dilemmas. Hannes Thaler steht wieder zwischen allen Stühlen. Mehr soll zum Inhalt des Romanes nicht verraten werden.
Zum Hintergrund: Sozialarbeiter_innen und Sozialpädagog_innen gehören zu den berufstätigen Gruppen mit der höchsten Burnout Rate. Gegenwärtig entwickelt sich die Soziale Arbeit im Rahmen einer konservativ autoritären und neoliberalen Ideologie zur bloßen Verwahrung bis hin zum Ausschluss derer, die nicht bereit und in der Lage sind, den Habitus der Leistungsgesellschaft zu übernehmen. (Seithe 2017)
Eine inzwischen pensionierte Sozialarbeiterin schrieb‘ mir zum Buch: „Spannendes Buch, hab es in kurzer Zeit gelesen, weil ich wissen wollte, wie es weitergeht, hat mich frappierend an viele Situationen in den letzten Berufsjahren erinnert. Natürlich nicht nur die ständige Erinnerung ans fehlende Geld, von den Mitarbeiter_innen wurde in der Folge erwartet, dass sie ihre Arbeitszeit kürzen. Ich fragte mich, warum waren sie in der Zentrale nicht bereit Arbeitszeitverkürzungen auf der Leitungsebene zu machen. Sie haben den ganzen Apparat so aufgebauscht und die Verwaltung war das Wichtigste. Und dazu die überbordende Dokumentation, die Verschärfung der Kontrolle, weil man ja den Sozialarbeiter_innen keine professionelle Arbeit zutraut. Es wurde immer unerträglicher. Ja so sah ich diese ganze neoliberale Entwicklung, nicht nur im sozialen Bereich, aber vor allem.“
Das Buch kann dazu beitragen, auf diese Entwicklungen, besonders auch auf deren Auswirkungen auf die betroffenen Klient_innen genauer hinzuschauen, denn „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ (Theodor W. Adorno)
Ich wünsche dem Buch viele Leser_innen! Es kann in der Praxis stehenden Sozialarbeiter_innen, die in so beschriebenen Arbeitsbedingungen gefangen sind, einen Spiegel vorhalten. Und wie eingangs schon angemerkt kann es Fachfremden vermitteln, worum es in der Sozialen Arbeit geht, was an der Arbeit schön aber auch sehr belastend bis unerträglich sein kann.
Waltraud Kreidl
Quellen:
Seithe Mechthild, http://zum-wohle-roman.com/, Abruf am 11.04.2017
Seithe Mechthild, Schwarzbuch Soziale Arbeit. VS Verlag für Sozialwissenschaften. Wiesbaden 2010
wird veröffentlicht in der Zeitschrift des Österr. Berufsverbandes

Rezension des Romanes „Zum Wohle“ von Mechthild Seithe
Susanne Köszeghy

  1. Einleitung
    Für das Seminar „Handlungsmethoden“ im 1. Semester B.A. Soziale Arbeit habe ich mich als
    Prüfungsleistung dafür entschieden, eine Rezension über den Roman „Zum Wohle“ von Mechthild Seithe zu schreiben, der sich kritisch mit der aktuellen Jugendhilfe im Spannungsfeld zwischen inneren ethischen Ansprüchen und äußeren betriebswirtschaftlichen Vorgaben der Träger und Ämter auseinandersetzt.
    Dieses Spannungsfeld thematisiert direkt aus der Praxis den Widerspruch zwischen dem
    angestrebten Standard der Sozialen Arbeit als Menschenrechtsprofession und der tatsächlichen Umsetzung in der konkreten Zusammenarbeit zwischen Sozialarbeiter_innen und den zuständigen Trägern und Ämtern.
    1.1 Persönlicher Fokus
    Ethische Normen und Wertvorstellungen waren Thema innerhalb des Seminares, ebenso das
    Doppel- bzw. Tripelmandat und die Sicht der Sozialen Arbeit als Menschenrechtsprofession. Das Buch „Zum Wohle“ behandelt die Probleme der alltäglichen Jugendhilfe, deren Ursprünge im Widerspruch stehen zu gerade diesen ethischen Normen oder auch den sich eigentlich aus
    Aufgabenbeschreibungen ergebenden Handlungsverpflichtungen. Daher betrachte ich den Roman aus diesem Blickwinkel und stütze ich mich dazu auf Literatur, die teilweise im Seminar bearbeitet wurde, sowie auf weitere Quellen, die die Sichtweise der Autorin näher beleuchten.
    1.2 Die Autorin
    Mechthild Seithe ist Diplompsychologin und -sozialarbeiterin und war bis 2011 Professorin für
    Sozialpädagogik an der FH Jena. Sie setzt sich kritisch mit der Neoliberalisierung der Jugendhilfe auseinander und ist Gründungsmitglied des Unabhängigen Forums kritische Soziale Arbeit (www.einmischen.com).
    1.3 Aufbau
    Das Buch spielt im Zeitraum von Sommer 2012 bis August 2015 und ist in 9 Großkapitel mit Prolog und Epilog unterteilt. Anhand der Überschriften ist der Ablauf der Erzählung bereits deutlich erkennbar. Diese Großkapitel setzen sich aus jeweils fünf bis sechs kleineren Kapiteln zusammen, die ebenfalls mit teilweise recht provokanten Titeln versehen sind („Soziale Arbeit kann doch jeder, oder?“ Seithe 2017, S.3). Meist wird aus der Perspektive der Hauptfigur Hannes Thaler erzählt, teilweise werden jedoch auch Gedankengänge einer Klientin wiedergegeben oder Situationen und Auseinandersetzungen der Kolleg_innen von Hannes.
  2. Inhalt
    Hauptfigur des fiktiven Romans ist der Sozialarbeiter Hannes Thaler. Dieser steigt innerhalb des Trägers der evangelischen „Christenhilfe“ vom Sozialpädagogischen Familienhelfer zum
    Teamleiter auf. Dadurch distanziert er sich ungewollt von seinen ehemaligen Mitarbeiter_innen, für deren Belange er versucht zu kämpfen, aber an den strukturellen Gegebenheiten seines Trägers und seiner eigenen Position scheitert.
    Der Verein „Aufwärts e.V.“, der für die Familienhilfe ungelernte Kräfte zu Dumpingpreisen einsetzt und Sozialpädagog_innen nur als Teamleitungen, der Geschäftsführer der „Christenhilfe“, ein ehemaliger Diakon, der sein Team aus Kostenersparnisgründen vor die Wahl stellt, die Gehälter der Angestellten um zehn Prozent zu kürzen oder betriebsbedingte Kündigungen auszusprechen, Hannes‘ neuer Träger mit dem beziehungsreichen Titel „SocialCare&Help“, der mangelhafte fachliche Arbeit in Kauf nimmt, um das eigene Familienhilfe-Angebot konkurrenzfähig zu erhalten – sie alle spiegeln die Schattenseiten der zunehmenden Ökonomisierung der Sozialen Arbeit.
    Der Prototyp für diese ökonomische Herangehensweise ist die Jugendamtsmitarbeiterin Frau
    Herrmann. Bereits zu Anfang verweigert sie die zugesagte Sozialpädagogische Familienhilfe für Christine Hartig und ihre Tochter Anna, da Christine Hartig zwei Termine im Jugendamt nicht wahrgenommen hat. Christine Hartig ist zu diesem Zeitpunkt aus ihrer persönlichen
    Überforderungssituation heraus gar nicht in der Lage, Regelmäßigkeiten in ihrem Leben
    wahrzunehmen oder gar selbst zu implementieren, sie ist in diesem Stadium dringend auf Hilfe angewiesen, da sie auch ihrer Tochter keinen angemessenen Alltag bieten kann. Das Jugendamt in Gestalt von Frau Herrmann setzt für die Bewilligung von Hilfemaßnahmen aber eine aktive Bereitschaft zur Zusammenarbeit voraus, die Christine Hartig nicht leisten kann. Auch im späteren Verlauf des Buches beurteilt Frau Herrmann an sie herangetragene Probleme von Klient*innen ausschließlich unter dem Gesichtspunkt von Effizienz und nachprüfbarem Ergebnis.
    Hannes Thaler, im Verlaufe der Geschichte beim neuen Träger „SocialCare&Help“ zum
    Abteilungsleiter aufgestiegen, merkt nach einer euphorischen Einstiegsphase sehr schnell, dass sich auch weiter oben in der Hierarchie die strukturellen Einflussmöglichkeiten nur marginal geändert haben und ertappt sich dabei, unbewusst selbst die eigene Denkungsart anzupassen – von Seithe treffend mit „Schau in den Spiegel!“ überschrieben. Auf die neue Familienhelferin Irene Baumschneider setzt er die Hoffnung, die Kämpfe austragen zu können, die er aus Furcht vor Verlust seiner gesicherten Stellung nicht mehr direkt angehen kann und will. Diese kommt aus dem „Kritischen Kreis Soziale Arbeit“ und ist bei ihrer letzten Arbeitsstelle gekündigt worden, da sie sich dort nicht anpassen wollte. Ihre kritische Denkweise hat sie sich dadurch nicht austreiben lassen, auch wenn sie bei „SocialCare&Help“ deshalb erst einmal befristet eingestellt wird.
    Hannes‘ Kämpfergeist erwacht, als ihm der Fall von Anna Hartig vorliegt, die nach einer vom
    Jugendamt aus sozialpädagogischer Sicht viel zu früh beendeten ambulanten
    Familienhilfsmaßnahme mehr als ein Jahr später bei der Schuluntersuchung auffällig geworden ist.
    Leidenschaftlich versucht er Frau Herrmann, die zur Arbeit an den massiven
    Entwicklungsstörungen des mittlerweile 7-jährigen Mädchens wöchentlich 3 Stunden für
    „vorschulspezifische Übungen“ zur Verfügung stellt, davon zu überzeugen, an der Wurzel von
    Annas Problemen und denen ihrer Mutter zu arbeiten. Schließlich lehnt er den Auftrag aufgrund der unrealistischen Vorgaben offiziell ab in der Hoffnung, dadurch das Jugendamt wachzurütteln.
    Resultat ist aber, dass Anna Hartig vom Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) mit betreut wird und dadurch spezifische Förderungen in noch weitere Ferne gerückt ist.

Diese Entscheidung läutet letztendlich aber das im Kontext des Buches voraussehbare Ende ein:
Christine Hartig rutscht in die Alkoholsucht ab. Auf der Suche nach Halt beginnt sie eine
Beziehung mit dem gewalttätigen, ebenfalls alkoholabhängigen Rudo und vernachlässigt ihre
Tochter erneut. Als das Jugendamt die Entwicklung erkennt, ist es zu spät. Nach dem Besuch der Amtspsychologin prügelt Rudo das „nervende“ Mädchen Anna zu Tode. Das Jugendamt weist alle Schuld von sich, im Gegenteil wird die „lasche Arbeit“ der zuvor zuständigen Familienhelferin bemängelt, die ihre Kontrollfunktion nicht ernst genug genommen habe. Hannes wird von seinem Träger Stillschweigen zu den Vorgängen verordnet, um weitere Zuweisungen von Fällen zu erhalten.
Parallel dazu wird der Vertrag der kritischen Sozialarbeiterin Irene nur für ein weiteres Jahr
verlängert. Dass sie diesen Vertrag als eine Zumutung empfindet und von sich aus das Team
verlässt, bedeutet für Hannes nur einen letzten Schlag.

3. Diskussion
Mechthild Seithe ist seit Jahren eine Verfechterin der kritischen Sozialen Arbeit und geht dabei nicht nur mit der neoliberal-kapitalistischen Gesellschaft, sondern auch mit der eigenen Profession ins Gericht, der sie ein schwaches Selbstbewusstsein und daraus resultierend den stetigen Wunsch nach staatlicher Anerkennung attestiert (vgl. Seithe 2013).
Das grundlegende Problem, mit dem Hannes und seine Mitarbeiter_innen zu kämpfen haben, ist die Neuorganisation der Sozialverwaltungen (Neue Steuerung) mit dem Ziel der messbaren
Effektivität (vgl. Galuske 2013, S. 155). Wo Galuske noch versuchte, sozialpädagogische
Praktiker_innen von den Vorteilen des Kompetenzerwerbs im betriebswirtschaftlichen Denken zu überzeugen1, prangert Seithe nunmehr vor allem die konkret erlebten negativen Gesichtspunkte der Neuen Steuerung in ihrer praktischen Umsetzung an2. Diese ziehen sich als roter Faden durch alle Kapitel. Den Auftakt bildet die Rede einer Vertreterin des Bundesministeriums für Familie und Jugend anlässlich einer Arbeitsgruppe der Länder zur Kostenminimierung in der Jugendhilfe, die von den Lautäußerungen einer Gruppe Protestierender begleitet wird. Ein Textausschnitt aus deren Flugblatt fasst den Inhalt des Buches bereits im Vorfeld zusammen:
„Es geht den Verantwortlichen längst nicht mehr um das Wohl der Kinder. Es geht ihnen um das Wohl der Politiker, der Amtsträger, der zu Betrieben aufgeblasenen Wohlfahrtsverbände und der Sozialunternehmen. Es geht ihnen am Ende nur um eins: Es geht ums Geschäft.“(Seithe 2017, S.10)

  • Der Geschäftsführer der „SocialCare&Help“ ist froh, dass seiner Firma eine unzuverlässige Klientin – Christine Hartig mit ihrer Tochter Anna – „erspart bleibt“, über deren Geschichte er gut informiert ist (Seithe 2017, S.237). Er erwartet von seinen Klient_innen, dass die gewährten Hilfen dankbar angenommen werden, vom Recht der Klient_innen auf Beteiligung (Beschluss S.30) im Sinne des Ethikkodices von IFSW (International Federation of Social Workers) und IASSW (International Association of Schools of Social Work) ist nicht die Rede. Auch auf den besonderen Schutz von Mutter und Kind, der in den Menschenrechten verankert ist (Menschenrechte, Artikel 25 Abs. 2), nimmt er keine Rücksicht. Christine Hartig hat durch ihr Unvermögen, das Hilfsangebot anzunehmen, für ihn den Anspruch auf weitere Maßnahmen verwirkt.
    Die Jugendamtsmitarbeiterin Frau Herrmann ist ein weiteres Beispiel. Sie nimmt ihre
    Kontrollfunktion im Sinne der bestimmenden/ zuweisenden Machtausübung sehr stark wahr, im direkten Kontakt mit der Familie aber nur oberflächlich. Reglementierende Briefe schreibt sie, begnügt sich bei der Betreuung über den ASD aber dann damit, in regelmäßigen Abständen an der Tür zu klingeln, wo sie von der Mutter aber nicht hineingelassen wird. Sie zeigt keinerlei Interesse oder Eigeninitiative, obwohl sie im Vorfeld ja mehrfach von verschiedener Seite über die bedenkliche Situation der Familie informiert wurde.
  • „Selbständig denkende SozialarbeiterInnen sind nicht wirklich erwünscht (Seithe 2014., S.7).“
    Irene Baumschneider, Mitglied im Kritischen Kreis Soziale Arbeit, erhält nur einen Jahresvertrag, da „Social Care&Help“ sich die vorher im Betriebsrat engagierte, möglicherweise renitente neue Mitarbeiterin erst anschauen möchte. Auch als Vertragsverlängerung wird ihr erneut nur ein Jahr angeboten, da sie sich zwischenzeitlich zu sehr für teure Leistungen für ihre Klientinnen stark gemacht hat. Sie zeigt daraufhin die Größe, diese Vertragsverlängerung nicht anzunehmen („So lasse ich nicht mit mir umgehen.“ Seithe 2017, S. 328). Somit erweist sich Irene Baumschneider als letztendlich kompromisslose Verfechterin des Ethikkodices und damit des Tripelmandates der Sozialen Arbeit, in dem es eben nicht nur um Hilfe und Kontrolle, sondern auch um die eigene Ethik und die der Profession geht.

  • 4. Zusammenfassend gesagt, stellt Seithe den moralischen Konflikt zwischen dem betriebswirtschaftlich forcierten Case management und den hohen Ansprüchen der Profession Soziale Arbeit dar (vgl. Großmaß, Perko 2011, S.42). In Form eines Romans ist es der Autorin möglich, die emotionale Ebene anzusprechen, die bei theoretischen Diskussionen eher vermieden wird. Sprachlich enthält sie sich bewusst einer professionellen Fachsprache, sowohl der Verlaufstext wie auch die einzelnen Unterhaltungen sind umgangssprachlich gehalten. Die inneren Vorgänge der „guten“ Protagonistinnen – allesamt Praktiker_innen der Sozialen Arbeit oder deren Klientel – sind jederzeit nachvollziehbar. Sie bleiben menschlich sympathisch, ihre Ohnmacht ist die Ohnmacht von uns allen bzw. ihre Beweggründe für das eigene Handeln und Nichthandeln sind dem alltäglichen Verhaltenskodex entnommen. Die „Bösen“, hier die Vertreter*innen der Neuen Steuerung in den unterschiedlichen Ämtern und Trägern, erscheinen vergleichsweise konturlos in ihrem Verhalten. Das Ende, in seiner Unausweichlichkeit trotzdem überraschend, hinterlässt eine viel deutlichere Erinnerung als es z.B. die fachlich fundierte Argumentation eines Vortrages könnte und dient als Appell an das eigene Gewissen und dadurch als indirekte Aufforderung, endlich im Sinne der Profession tätig zu werden.
  • Fazit
  • Die Figur des Hannes Thaler ist ein Synonym für die Hilflosigkeit einer durch teilweise
  • menschenverachtende Vorgaben des Qualitätsmanagements sinnlos werdenden Jugendhilfe, in der die Sozialarbeiter_innen vor Ort die Abwärtsspirale ihrer Klient_innen diagnostizieren und beobachten, diese aber nicht verhindern können.
  • Als Zielgruppe für dieses Buch sehe ich Studierende und Praktiker*innen (hier schließe ich die
  • Wissenschaft absolut mit ein!) der Sozialen Arbeit und vergleichbarer Berufe.
  • Die Frage, die sich diesen Leser_innen nach dem Lesen stellt, ist:
  • In wie weit ist die Profession der Sozialen Arbeit als solche gefordert, mit allen Mitteln der
  • voranschreitenden Neoliberalisierung der Sozialen Arbeit selbstbewusst entgegenzutreten? Kann sie das überhaupt? Und was bedeutet das konkret für jede:n einzelne_n?
  • Die Frage bleibt offen wie das Ende des Buches.