Ein trojanisches Pferd scharrt mit den Hufen

Die Diskussionen um das KJHG Reform ist keineswegs abgeebbt. Die Prozesse im Lande, die seit 2010 unter dem Titel: „Wiedergewinnung kommunalpolitischer Handlungsfähigkeit zur Ausgestaltung von Jugendhilfeleistungen- Änderung des Kinder- und Jugendhilferechtes“ laufen, gehen munter weiter und werden auch schon in den ersten Städten (z.B. Hamburg) erprobt.

Die KritikerInnen formieren sich. Im Blog der Internetseite „www.einmischen.com“ kann man den entstehenden Widerstandsprozess verfolgen und sich vernetzen. Auf der Homepage selber steht unter „heiße Themen“ ein zusammenfassender Bericht  über die Thematik sowie eine Stellungnahme des Unabhängigen Forums kritische Soziale Arbeit.

Die Träger und Fachverbände sagen: das ist ja alles noch gar nicht spruchreif, das muss man schon genauer betrachten, bitte nicht übertreiben, im Prinzip ja aber, aber jedenfalls nicht ohne uns, schließlich geht es ja gar nicht anders……

Die herrschende Politik in Personen der Staatssekretäre der A-Länder (das sind die SPD regierten Länder, was einen nach Hartz IV nicht unbedingt beruhigen kann) beteuert: Wir wollen den individuellen Rechtsanspruch doch gar nicht antasten. Wir wollen die Jugndhilfe verbessern.

Und das klingt dann etwa so:

„Besteht Hilfebedarf bei den Sorgeberechtigten, ist dieser grundsätzlich und vorrangig durch Verweisung in sozialräumliche Hilfsangebote oder Angebote der Familienförderung  und der Elternbildung zu erbringen. Formliche Hilfen zur Erziehung werden danach nur genehmigt, wenn im Einzelfall absehbar ist, dass sozialräumliche Hilfen keinen Erfolg versprechen und bereits gescheitert sind. Die Hilfen sollen grundsätzlich nicht als Einzelmaßnahmen innerhalb der Familienwohnung stattfinden.“ (Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration Hamburg, Mai 2011)

Der Herr, der von der Bundesregierung den Auftrag hat, die Gruppe der Staatssekretäre und ihre Arbeit zu begleiten, Dr. Wolfgang Hammer, Leiter des LJA Hamburg, hat in der neuenpraxis vom Oktober 2011 einen Artikel zur Thematik geschrieben unter dem Titel: Neue Praxis oder Paradigmenwechsel? Zur Notwendigkeit einer Weiterentwicklung der Hilfe zur Erziehung und des Kinderschutzes“. hammer-aufsatz.pdf

Das klingt gar nicht schlecht und wer in diesen Text hineinschaut, ist zunächst einmal angetan bis entzückt, wie kritisch und fachkundig Herr Hammer hier mit der Wirklichkeit heutiger Hilfen zu Erziehung umgeht. Als Kenner der Materie beruft er sich auf die professionelle Soziale Arbeit, wie sie etwa 1980 im Rahmen der Lebensweltorientierung formuliert wurde und betont die unbedingte Notwendigkeitkeit, sich wieder auf dieSozialraumorientierung zu besinnen. Wenn man weiter liest, wird immer deutlicher, worum es ihm geht und worauf er schließlich hinaus will:

 “Deshalb gilt es flächendeckend einen Paradigmenwechsel einzuleiten, der unter der Leitlinie steht: Erzieherische Unterstützung wird regelhaft durch eine wohnortnahe, alltagsentlastende unterstützende Infrastruktur geleistet. Familien sollen Unterstützungsangebote erhalten, die ihre Alltags- und Erziehungskompetenz nachhaltig stärken. Der Rechtsanspruch auf eine geeignete Hilfe zur Erziehung wird im Regelfall am wirkungsvollsten – und mit der stärkeren Beachtung der Menschenwürde – durch entsprechende Angebote der Infrastruktur erfüllt, die eine große Einzelwirkung entfalten.”

Hammer verweist auf Hamburg als Land, in dem seine Erkenntnisse schon am weitesten umgesetzt sind.
In Hamburg wurden 2011 die Haushaltsmitte für ambulante Hilfen für Familien von vormals 77 Mio. auf 15,7 Mio. runtergekürzt. Das Budget für die von Hammer so gepriesenen „Neuen Hilfen“, die  vor allem im Bereich der sozialen Infrastruktur angesiedelten Hilfen beträgt 16 Mio.

Das nenne ich Perspektivwechsel und Reform: Man schlägt euphorisch einen „neuen, fachlich so viel richtigeren Weg“ ein und spart dabei 32 Mio. Euro.

Das trojanische Pferd steht wiehernd vor dem Tor!

Ich habe mir erlaubt,  dem Gaul ein wenig unter die Hufen zu sehen.

Thesen zum Beitrag : „Neue Praxis oder Paradigmenwechsel. Notwendigkeit einer Weiterentwicklung der Hilfen zur Erziehung und des Kinderschutzes“ von Wolfgang Hammer (neuepraxis, 10/11)

Zum Hintergrund:

Der Beitrag von Wolfgang Hammer ist genau in dem Augenblick veröffentlicht worden, wo sich in der Profession Soziale Arbeit endlich kritischer Widerstand gegen eine Aushöhlung des KJHG rührt. Die Gedanken, die im internen A-Länderpapier der Staatssekretäre freimütig genannt und dann an die Öffentlichkeit geraten sind, haben die Profession wach gemacht und empört. Auf ihre lauten Proteste hin wird aus der Politikecke jetzt einiges versprochen: Eine Abschaffung des individuellen Rechtsanspruches, wie in diesem Papier angedeutet, sei nie Beschluss oder Konsens gewesen. Man habe auf keinen Fall vor, den Rechtsanspruch auf Hilfen zur Erziehung anzugreifen. Ganz im Gegenteil, so wird geschworen: Man sei dabei, die Hilfe zur Erziehung deutlich zu verbessern.

Was aber bedeutet das, wenn die Jugendhilfe hier „verbessert“ werden soll? Hier einige Thesen als Kommentar zu Hammmer’s Gedanken.
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These 1:
Hammer kritisiert die derzeitige Praxis der Hilfen zur Erziehung zum Teil durchaus zu Recht, aber er tut so, als hätte die Praxis der Jugendhilfe diese Entwicklung selber verschuldet und als hätte es die verursachenden politischen Praktiken und Einengungen der Sozialen Arbeit durch die Ökonomisierung und die Vereinnahmung durch den aktivierenden Staat gar nicht gegeben oder als seien sie zumindest jetzt vorbei. Folglich verbreitet er die Illusion, sein Paradigmenwechsel (der keiner ist) sei einfach dadurch zu machen und zu schaffen, dass die Praxis ihre überholte, wie er sagt, konservative Auslegung des KJHGs aufgibt.
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These2 :
Hammer nutzt den Hinweis auf die vorhandenen gesellschaftlichen Ursachen menschlicher Problemlagen, seine durchaus berechtigte Kritik an den heutigen Hilfen zur Erziehung sowie die von ihm offenbar neu entdeckte Notwendigkeit einer seit 40 Jahren in der Sozialen Arbeit als zentrales Prinzip erkannten Sozialraumorientierung in erster Linie als Vehikel, um gegen die individuellen Hilfen zur Erziehung und ihren Rechtsanspruch zu polemisieren.

These 3:
Das Fazit von Hammer: „Der Rechtsanspruch auf eine geeignete Hilfe zur Erziehung wird im Regelfall am wirkungsvollsten – und mit der stärkeren Beachtung der Menschenwürde – durch entsprechende Angebote der Infrastruktur erfüllt“, weist den Weg, wohin es gehen soll: Hammer stellt das sozialräumliche Konzept den Hilfen zur Erziehung entgegen. Das zeugt zum einen von einem verkehrten und begrenzten Verständnis des KJHG wie des Konzeptes der Sozialraumorientierung. Aber es dient ihm als scheinbar fachlicher Einstieg in die Argumentation um eine kostengünstigere Auslegung des § 27 KJHG.

These 4 :
Hammer schlägt in seinem Artikel einen wirklich ausgefuchsten Weg ein, um die Kosten der Jugendhilfe und insbesondere der Hilfe zur Erziehung zurückzudrehen: Er versucht die Profession Soziale Arbeit schlicht an der eigenen Nase herumzuführen und sie mit ihren eignen Waffen zu schlagen: Er kritisiert die heutige Soziale Arbeit mit Verweis auf ihre eigenen Argumente und Konzepte, verschweigt aber die eigentlichen Ursachen für diesen durchaus kritischen Zustand.

These 5:
Die Botschaft wird deutlich: Man muss den individuellen Rechtsanspruch gar nicht angreifen, man muss ihn und die Hilfen zur Erziehung nur diskriminieren bzw. in ein Licht stellen, dass sie zum allerletzten, nur schwer vertretbaren Mittel stempelt, dann werden sich die Kosten für diese Hilfen ebenfalls deutlich reduzieren lassen.

These 6: Eine wirkliche Reformierung der Jugendhilfe und eine Wiederherstellung ihrer Qualität und Wirksamkeit würde bedeuten: Die sozialpolitischen und finanziellen Einengungen zurückzunehmen und der Jugendhilfe für die Hilfen zur Erziehung den Raum für wirklich fachliches und das heißt immer auch sozialräumlich orientiertes Arbeiten zurückzugeben – statt sie zu diskreditieren, zurückzudrängen und zu bestrafen. Der Politik ins dringend anzuraten, dass sie sich sofort von der Vorstellung einer Kinderschutzfeuerwehr verabschiedet und die Erziehungshilfen gerade wegen ihrer nachhaltigen und insofern präventiven Wirkungschancen wieder stärker ausbaut.

Mechthild Seithe
Berlin, 30.11.2011

Über m.s.

Ich war 18 Jahre Professorin für Soziale Arbeit an der FH Jena (Methoden, Hilfen zur Erziehung, Schulsozialarbeit). Davor war ich 18 Jahre in der Praxis. Studiert habe ich Psychologie in Münster und Soziale Arbeit in Frankfurt a.M. Bücher: Schwarzbuch Soziale Arbeit Engaging Hilfe zur Erziehung zwischen Professionalität und Kindeswohl Das kann ich nicht mehr verantworten Ambulante Hilfe zur Erziehung und Sozialraumorientierung
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