Was könnte man tun? – Fall 1 „Menschen in Wohnungsnot gibt es immer mehr“

Fortsetzung zum Thema „Das kann ich nicht mehr verantworten!“  – Kommentierung der Texte – Was tun?

In den nächsten Monaten werde ich versuchen, die Geschichten aus unserem Buch jede für sich und ganz in Ruhe näher zu betrachten und zu kommentieren. Es könnte auf diese Weise ein Teil II „Aber was soll und was kann ich tun?“ zum Buch entstehen. Und jeder LeserIn steht es frei, daran per Kommentar mitzuwirken.

Dabei geht es mir jeweils um folgende Aspekte:

  • Fachliche Kritik der beschriebenen Arbeit und Arbeitssituation
  • Gesellschaftswissenschaftliche und politische Analyse Hintergründe
  • Einschätzung der Reaktion der betroffenen SozialarbeiterIn
  • Grundsätzlich mögliche Handlungsperspektiven und Strategien der Gegenwehr im beschriebenen Beispiel

Da die Situationen zwar unterschiedlich sind, aber doch viele Gemeinsamkeiten aufweisen, auch was die möglichen Gegenstrategien betrifft, werde ich nicht auf alle Aspekte jedesmal ausführlich eingehen, sondern auf die, auf die ich schon einmal ausführlich eingegangen bin, nur noch hinweisen.

 Es geht los mit folgender Geschichte (Seithe/Wiesner-Rau, S. 145)

 „Was können wir schon für diese Menschen erreichen?“
Menschen in Wohnungsnot gibt es immer mehr
Ich bin studierte Sozialpädagogin. Seit 17 Jahren arbeite ich nun schon in der Beratungsstelle für wohnungslose Menschen und Menschen in Wohnungsnot. Ich habe schon viel gesehen und auch einen Wandel im Klientel mitverfolgen können, doch langsam wird es wirklich immer erschreckender. In unserer Stadt wird die Beratung immer schwieriger, weil immer mehr Mittel fehlen und Kolleginnen und Kollegen weggekürzt werden. Auch Sprachbarrieren stellen mich mittlerweile vor einige Schwierigkeiten und dazu kommt, dass immer mehr Kinder involviert sind. Und ich will gar nicht von dem schlechten Wohnungsmarkt in unserer großen Stadt anfangen. Und letztlich, was können wir schon für die Menschen erreichen?
Zwei Beispiele von gestern:
Gestern früh kam eine Frau mit drei Kindern zu mir. Das jüngste davon war gerade erst acht Monate alt. Die vier kamen aus der Türkei. Aufgrund schwieriger Familienverhältnisse und ihres gewalttätigen Mannes dort, der sich von ihr getrennt hatte, war die Frau durch das Rote Kreuz nach Deutschland ausgeflogen worden und landete ohne alles in Berlin.
Zu mir kam sie nun, nachdem sie einige Tage auf der Straße und dann in einem Frauenhaus geschlafen hatte. Unvorstellbar für mich der Gedanke, mit einem acht Monate alten Kind auf der Straße zu übernachten.
Immerhin konnte ich die Klientin an die Soziale Wohnhilfevermitteln, sodass sie zunächst erst einmal einen Raum mit fließend Wasser, Betten, Heizung und einer Möglichkeit zum Kochen hat. Da ihre Kinder noch so jung sind, müsste hier eigentlich das Jugendamt zuständig werden und helfen, doch die Mühlen der Bürokratie mahlen langsam und ich bin froh, wenigstens etwas für sie getan zu haben.
Trotzdem tut es mir leid, weil ich weiß, wie lang der Weg noch sein wird, bevor all die Ungewissheit verschwunden ist und die Kinder endlich ein geregeltes Leben und ein stabiles Umfeld haben werden.
Es ist einfach schwer zu ertragen, wie immer mehr Menschen mit kleinen Kindern auf solche Weise oder auch aus gerade geräumten Wohnungen vor dem Nichts stehend zu uns kommen.
Und eine zweite Frau kam dann auch noch zu mir. Sie stammte aus Rumänien und wollte in Deutschland einen Neuanfang wagen. Aus dem alten Elend ins neue Elend. Sie hatte sich offensichtlich ihre besten Kleider angezogen, kam mit Laptop und Jobbewerbungen. Sie war gelernte Chemielaborantin und hatte sich seit einigen Wochen hier aufgehalten. Sie hatte in Hostels gelebt und Bewerbungen abgeschickt, vielleicht sogar ein oder zwei Bewerbungstermine wahrgenommen. Sie hatte sich so große Mühe gegeben, doch nun war ihr Geld für Hostels aufgebraucht und sie hatte weiterhin keinen Job. Ich konnte sie in die Notübernachtung vermitteln, doch ich denke, ihr bleibt nur der Weg zurück nach Rumänien. Mehr kann ich nicht für sie tun.
Es müssten ganz andere Sachen passieren, um dieses Elend wirklich zu beenden, mit dem ich täglich konfrontiert werde: Die Stadt müsste mehr bezahlbaren Wohnraum schaffen und so die sozialen Verhältnisse verbessern.

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Fachliche Kritik der geleisteten Arbeit 

Die Wohnungslosenhilfe ist hier nicht viel mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein.

  • Wohnungslosenhilfe hätte die Aufgabe, Menschen, die in eine solche Notsituation geraten sind, angemessen zu beraten, ihnen bei der Bewältigung des Problems zu helfen und ihnen durch Information und persönliche Ermutigung zu helfen, diese Lage zu überwinden. Das funktioniert aber nur, wenn genug Lösungsmöglichkeiten für Betroffene zur Verfügung stehen und wenn die personellen Ressourcen in der Wohnungslosenhilfe mehr als eine bloße verwaltungsmäßige Bearbeitung der Fälle zulassen. Was die Kollegin von ihrer Arbeit beschreibt, lässt darauf schließen, dass sie oft nur oberflächlich helfen kann und ihre Arbeit wie einen Tropfen auf den heißen Stein empfindet.
  • Gleichzeitig ist im Hintergrund eine Wohnungspolitik erforderlich, die die Wohnungslosigkeit erst gar nicht  hochkochen lässt und die z.B. verhindert, dass Eigentümer Menschen aus Wohnungen herausklagen oder -ekeln, die dort über lange Zeit gelebt haben. Wenn aber stattdessen gesetzliche Regelungen geschaffen werden (etwa bei Hartz IV), die die Gefahr der Wohnungslosigkeit vervielfachen, darf man sich nicht über den Anstieg dieses Problems wundern. Hier erfüllt eine Wohnungslosenhilfe nur die Funktion, die Not zu verwalten.

Gesellschaftswissenschaftliche und politische Analyse

  • Wohnungslosenhilfe, die über viel zu geringe Mittel verfügt, um den Betroffenen zu helfen, ist in sich eine Farce. Die Mitarbeiterin ist gezwungen, der zunehmenden Verschärfung der Problematik ohnmächtig zuzusehen. Immer mehr kommen Problemlagen auf sie zu, die mit den geringen Hilferessourcen, über die sie verfügen kann, kaum bewältigen kann.
  • Ihre fachlichen Mittel der sozialpädagogischen Beratung und Information sind hier – am Ende der Fahnenstange – eigentlich nur ein Trostpflaster bzw. dazu da, die schlimmsten Kollateralschäden zu lindern und zu managen. Sie können die gesellschaftlichen Versäumnisse, die hinter den steigenden Problemlagen stecken, nicht kompensieren oder auffangen. Zunehmend mehr wird hier Sozialpädagogik zur Befriedung und zur Beruhigung und als Alibi eingesetzt.
  • Der Trend zu immer mehr Wohnungslosigkeit, der auch neue gesellschaftliche Schichten betrifft und z.B. vor Familien keinen Halt macht, muss gesellschaftspolitisch umgedreht werden!

Einschätzung der Lage und der Reaktion der betroffenen SozialarbeiterIn

Die Mitarbeiterin der Wohnungslosenhilfe leidet unter dem Schicksal der Menschen, denen sie nicht wirklich helfen kann und an der allgemeinen Verschlechterung der Lage. Sie leidet an der offensichtlichen Sinnlosigkeit ihrer Arbeit, die nichts an den Ursachen verändern kann und offensichtlich auch nicht soll.

Sie leidet auch an den konkreten Bedingungen, unter denen sie selbst diese Arbeit erledigen muss, obwohl dieser Punkt für sie offensichtlich nicht im Vordergrund steht.
Sie sieht sehr wohl, dass hier die Probleme gesellschaftlich verursacht werden und stetig zunehmen und wirft der Politik Verantwortungslosigkeit vor. Sie stellt für sich Forderungen an die Gesellschaft auf.

Die Frage bleibt, wie lange sie diese Situation aushalten wird, ohne krank zu werden oder die Arbeit aufzugeben.

Mögliche Handlungsperspektiven und Strategien der Gegenwehr

Einen ersten Schritt zum Widerstand, hat die Kollegin bereits gemacht: Sie reflektiert die Situation, ihre Lage darin und erkennt die Hintergründe für die gesamte Misere. Das alleine ist bereits der Beginn einer widerständigen Haltung, auch wenn man noch nicht weiß, was man dagegen machen könnte.

Was könnte sie noch tun? 

Die eigentlichen Probleme, die einer guten und sinnvollen Arbeit in der Wohnungslosenhilfe im Wege stehen, nämlich die gesellschaftlich inakzeptablen politischen und sozialen Rahmenbedingungen, die die Wohnungslosigkeit heute zu einem häufigen und kaum  lösbaren Problem machen, die werden SozialarbeiterInnen nicht am eigenen Arbeitsplatz lösen können.

Allerdings wäre wichtig, diese nicht einfach frustriert oder geduldig als Fakt hinzunehmen. Es ist angezeigt, dass man offen  mit den KollegInnen, den KlientInnen und auch den Vorgesetzten darüber spricht, was die Zunahme der Wohnungslosigkeit verursacht . Es ist nicht unsere Aufgabe, die Lügen zu unterstützen, die den Menschen einreden, sie seien selbst an diesem Schicksal schuld. Aufklärung ist hier ein wichtiger Schritt zur Gegenwehr.

Um hier mehr  zu erreichen, bedarf es politischer Aktivitäten über den eigenen Arbeitsplatz hinaus. Das Einmischen  in die Wohnungspolitik und in andere relevante Bereiche der Politik steht für Sozialarbeitende sozusagen auf der Tagesordnung. Zu fordern wären z.B.
o   genug  bezahlbarer Wohnraum
o   die Verbesserung der sozialen Verhältnisse der Menschen
o   die Korrektur von Gesetzen, die die Wohnungslosigkeit forcieren
o   Verstärkung der Rechte von Mietern
o   bessere personelle Ausstattung der Wohnungslosenhilfe
und manches mehr.

Für solche Aktionen und Strategien braucht man allerdings Gleichgesinnte und eine möglichst starke Organisation im Rücken. Gewerkschaften und vor allem auch der Berufsverband sind hier mögliche Partner. Darüber hinaus gibt es überall politisch engagierte, kritische Gruppen von SozialarbeiterInnen, die es sich zum Ziel gesetzt haben, diese Auseinandersetzung zu führen.
Wer nicht einfach nur in Ruhe seinen Job machen will, egal, ob die Arbeit noch einen Sinn macht oder ob die Politik Soziale Arbeit nur noch dazu benutzt, Probleme zu verdecken und Menschen zu beruhigen, wer also erwartet, dass Soziale Arbeit wirklich auch im Interesse der Menschen ausgeübt werden kann, der kann und müsste mehr tun. Er sollte das politische Mandat seiner Profession aufgreifen und sich mit anderen zusammen für eine Sozialpolitik und Gesellschaft einsetzen, innerhalb der Soziale Arbeit mehr sein darf, als ein Ausfallbürge für die politische Verantwortung der Gesellschaft.

Natürlich kann man eine solche politische Arbeit nicht in seiner Arbeitszeit machen. Man muss sich entscheiden, die politische Arbeit als etwas zu betrachten, was im ureigensten Interesse liegt und von daher auch wert ist, in der vorhandenen Freizeit seinen Platz zu finden.

Darüber hinaus gibt es  – unabhängig von unserer Profession – in vielen Städten Wohnungslosen-Initiativen, also politische Initiativen vor allem Betroffener, die unsere Solidarität und unsere Parteilichkeit brauchen. Uns hier zu beteiligen, unser Wissen und unsere Beratung anzubieten, wäre ebenfalls ein Akt politische Gegenwehr, den wir als Professionelle dann leisten sollten, wenn wir uns nicht als Erfüllungsgehilfen dieses Staates verstehen wollen.

Im Rahmen einer solchen politischen Arbeit jenseits des eigenen Arbeitsplatzes sind leider keine schnellen Erfolge und Veränderungen zu erwarten, denn die gegenwärtige Lage ist sehr festgefahren und scheint in jeder Hinsicht im Sinne der neoliberalen Vorstellungen unserer gegenwärtigen Politik zu funktionieren. Aber nur wer sich wehrt, gibt sich und seine Profession nicht auf. Parteilichkeit ist eine der ethischen Grundpfeiler der professionellen Sozialen Arbeit.
Das freilich sieht die neoliberal gewendete Soziale Arbeit völlig anders. Und wir müssen uns entscheiden.

Die Kommentierung der nächsten Geschichte folgt 

Über m.s.

Ich war 18 Jahre Professorin für Soziale Arbeit an der FH Jena (Methoden, Hilfen zur Erziehung, Schulsozialarbeit). Davor war ich 18 Jahre in der Praxis. Studiert habe ich Psychologie in Münster und Soziale Arbeit in Frankfurt a.M. Bücher: Schwarzbuch Soziale Arbeit Engaging Hilfe zur Erziehung zwischen Professionalität und Kindeswohl Das kann ich nicht mehr verantworten Ambulante Hilfe zur Erziehung und Sozialraumorientierung
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