Was könnte man tun? – Fall 2: Allgemeiner Sozialer Dienst

Fortsetzung zum Thema „Das kann ich nicht mehr verantworten!“  – Kommentierung der Texte – Was tun? (2)

Text:  „So können wir unsere wichtigen Aufgaben nicht erfüllen!“– Hilferufe aus dem Allgemeinen Sozialen Dienst (Seithe/Wiesner-Rau 2013, S. 92)
Ich arbeite seit über 15 Jahren als Bezirkssozialarbeiterin in einer deutschen Millionenstadt, immer in belasteten Stadtteilen. In dieser Zeit wurde die Arbeit immer mehr, immer schwieriger und immer belastender. Die Bürokratie ist unglaublich angestiegen, die Hürden, um eine Hilfe zu erschließen, sind riesig (oft sind über 20 verschiedene Schritte, Unterschriften zur Genehmigung etc. erforderlich), die Ressourcen werden immer knapper.
Statt „rauszugehen“ in den Stadtteil, Hausbesuche durchzuführen usw. verbringen wir immer mehr Zeit am Schreibtisch, um Anträge auszufüllen, Berichte zu schreiben und „Diagnosen“ zu erstellen. Viele Betroffene und Kooperationspartner melden sich enttäuscht und wütend und verstehen die Vorgehensweisen und Entscheidungen unserer Behörde, die Wartezeiten etc. nicht mehr. Ich bin oft unter großem Rechtfertigungsdruck für Entscheidungen, die ich gar nicht zu verantworten habe.Die Multiproblemfamilien werden immer mehr, jeden Tag haben wir mit psychisch kranken, suchtmittelabhängigen oder vernachlässigenden und misshandelnden Eltern, entwicklungsverzögerten, kaum geförderten oder gefährdeten Kindern und Jugendlichen, verwahrlosten Wohnungen, Arbeitslosen, verwirrten Alten, gewaltbereiten Migranten, drohendem Wohnungsverlust und vielem anderen mehr zu tun. Sehr häufig sind wir die Einzigen, die diese Menschen noch aufsuchen, sich kümmern und zu helfen versuchen.
Viele meiner Kolleginnen und Kollegen bewältigen die Arbeit nicht mehr und gehen weg, ständig sind mehrere Stellen unbesetzt, auch auf der Leitungsebene, sodass zusätzlich noch viel vertreten werden muss.
Ich fühle mich oft überfordert und an der Grenze meiner Belastbarkeit. Wenn ich mit mehr als drei oder vier schwierigen Fällen in der Kinder- und Jugendhilfe gleichzeitig zu tun habe (was meist der Fall ist), kann ich auch in meiner Freizeit nicht mehr „abschalten“ und mache mir zu Hause noch Gedanken, die mich sehr belasten.
Ich schäme mich für unsere Gesellschaft, dass ihr diese unsere Arbeit nicht mehr wert ist, mehr Anerkennung, mehr Ausstattung und mehr Gehalt. Ich bin teilzeitbeschäftigt und verdiene unter 1000,- Euro, das ist für die Verantwortung, die ich trage, absurd wenig.

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Fachliche Kritik der beschriebenen Arbeit und Arbeitssituation

Die Kollegin schildert die Arbeitsplatzsituation im Allgemeinen Sozialen Dienst sehr deutlich.
Es besteht eine zunehmend hohe Arbeitsverdichtung. Die KollegInnen tragen eine enorme Verantwortung für Menschen, um die sich sonst keiner mehr kümmern würde. Die Multiproblemfamilien nehmen ständig zu. Trotzdem wird von politischer und von der Verwaltungsseite her nicht auf diese immer größer werdenden Belastungen und Herausforderungen reagiert. Es bleibt den SozialarbeiterInnen überlassen, wie sie damit fertig werden. Statt das Personal zu erweitern, bleiben viele Stellen, auch Leitungsstellen unbesetzt, sodass für die meisten neben ihrer eigenen Stelle auch noch eine Vertretung hinzukommt.
Neben dem zeitlichen Stress und der Personalknappheit wird ihnen dazu ein Höchstmaß an Bürokratie verordnet, das viel Zeit schluckt und dazu führt, dass sie fast mehr am PC sitzen, als Kontakte zu ihrer Klientel aufzunehmen. Diese Bürokratie dient mitnichten der Qualität der Arbeit, sondern eigentlich nur dem Schutz der Behörde, die sich nichts zu schulde kommen lassen will. Es geht darum, sich immer wieder abzusichern. Danach, was gut ist für die Klientel, wird dabei nicht gefragt.
Die MitarbeiterInnen sind durch das Jugendamt ständig einem Rechtfertigungsdruck ausgesetzt. Gleichzeitig müssen Sie sich nach außen und gegenüber ihrer Klientel laufend für Entscheidungen oder Prozessabläufe verteidigen, die sie selbst eigentlich gar nicht zu verantworten haben.
Unter diesen Bedingungen kann man keine gute und verantwortliche Arbeit im Allgemeinen Sozialen Dienst leisten.

Bei den meisten KollegInnen ist die Grenze ihrer Belastbarkeit erreicht. Viele steigen aus oder werden krank. So wie die Erzählerin können etliche KollegInnen in ihrer Freizeit nicht mehr abschalten und sind somit von Burnout bedroht.
Hinzu kommen der Ärger und die Kränkung, dass diese schwierige und belastende Arbeit nicht anerkannt und wertgeschätzt wird. Dies zeigt sich für die MitarbeiterInnen immer wieder am schmerzhaftesten in der zu geringen Bezahlung, die in keinem Verhältnis steht zu der Verantwortung die sie tragen.

Anmerkung: Die Bezahlung ist bei öffentlichen Trägern im Vergleich zu dem, was freie Träger zahlen, oft noch erträglich. Auch die prekären Stellen und Verträge sind eher bei freien Trägern zu finden. Dennoch steht auch der geltende Tarifvertrag TVöD im Vergleich zu den Eingruppierungen von Fachhochschul-AbgängerInnen mit anderen Ausbildungsrichtungen (z.B. Ingenieur) in keinem angemessenen Verhältnis.

 Gesellschaftswissenschaftliche und politische Analyse Hintergründe

Was hat dazu geführt, dass der ASD heute nur noch ein Zerrspiegelbild dessen ist, was er in der Zeit vor der Neuen Steuerung, also vor 1990 war?
Durch die neue Finanzierungsform, die neue Rolle des öffentlichen Trägers als Arbeitgeber und Kontrolleur gegenüber den Leistungserbringern hat sich das Aufgabenfeld des Allgemeinen Sozialen Dienstes fatal verändert.
Von den MitarbeiterInnen wird kaum noch erwartet, dass sie selbst sozialpädagogisch tätig sind. Bei der gleichzeitigen zeitlichen und inhaltlichen Überforderung ist es dann kein Wunder, wenn im ASD keine wirkliche Diagnose mehr stattfindet, wenn ambulante Hilfe eingesetzt werden, um diagnostische Fragen zu beantworten, wenn das Verhältnis zwischen ASD und freien Trägern nicht mehr von Kooperation und Gleichberechtigung getragen ist sondern sich wie ein Herrschaftsverhältnis ansieht. Kein Wunder auch, dass der Allgemeine Soziale Dienst gezwungen ist, die Schwelle für die Hilfe zur Erziehung in Abweichung von den Vorgaben nach § 27 KJHG so hoch zu ziehen, dass fast nur noch in Fällen massiver Kindeswohlgefährdung Hilfe zur Verfügung gestellt werden kann. Kein Wunder auch, dass der eigentlich regionalisierte und auf Sozialräume hin orientierte Allgemeine Soziale Dienst immer mehr den Blick für die Lebenswelt der Klientel verloren hat.

All das sind die Folgen der veränderten Aufgabenzuschreibung und des veränderten Verständnisse der Kinder- und Jugendhilfe durch die Neue Steuerung, mit der die Ökonomisierung in die Soziale Arbeit Einlass fand. Im Rahmen der Verbetriebswirtschaftlichung und Privatisierung der Kinder- und Jugendhilfe hat sich der Blick für die Verantwortung für die Minderjährigen und jungen Erwachsenen in Richtung eines Effizienzdenkens verschoben, dass auch die Kinder- und Jugendhilfe wie einen Wirtschaftszweig auffasst, der sich zu rechnen hat und der Produkte herstellt.

Gleichzeitig mit der Abgabe der sozialen Verantwortung des Staates an die Wirtschaft und die Menschen selbst sowie ihre sozialen Nahräume, hat der Staat seine Kontroll- und Sanktionsvorstellungen gegenüber dem Teil der Bevölkerung verstärkt, die nicht von sich aus bereit ist, effizient zu sein, sich um gesellschaftliche Nützlichkeit zu bemühen und für mögliche Hilfen auch immer die von ihnen verlangten Gegenleistungen zu erbringen. Zu diesem Personenkreis gehört (neben den Menschen, die von Hartz IV leben, neben Flüchtlingen, Wohnungslosen, Randgruppen etc.) auch ein großer Teil der Klientel der Kinder- und Jugendhilfe. Eine zunehmende Nähe der Kinder- und Jugendhilfe zur Ordnungspolitik (u.a. durch die hohe Dokumentationspflicht für die MitarbeiterInnen) ist nicht zu übersehen. So wird aus dem Kinderschutz, als einem Bemühen, Kinder zu schützen und ihr Wohl zu sichern, jetzt das Bemühen, möglichst früh zu erkennen, wer in Zukunft womöglich das Wohl seiner Kinder gefährden könnte. Dieser Personenkreis wird aber nicht als Gruppe verstanden, die besondere Unterstützung benötigt. Vielmehr wird sie verstärkt kontrolliert und ggf. sanktioniert.

Was steckt hinter der Neuen Steuerung und all den Wiederauflagen der Neuen Steuerung, die wir Jahr ein Jahr aus erleben?
Die sogenannte „Neue Steuerung“ (1990) war der Einbruch der neoliberalen Politik in das Soziale und damit auch in die Kinder- und Jugendhilfe und die Hilfen zur Erziehung. Nach Galuske (Galuske 2002, 144) handelt es sich bei der Neoliberalisierung um einen gesamtgesellschaftlichen Vorgang, der keineswegs nur in Bezug auf die ehemaligen „Non-Profit“ Bereiche von Bedeutung ist. „Im Jahr 2000 beschlossen die europäischen Staats- und Regierungschefs in Portugal, die EU bis zum Jahr 2010 zur ‚wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Region der Welt“ (Dahme /Wohlfahrt 2005, 12) zu machen. „Das Aktivierungsparadigma wurde damit zum gesamteuropäischen Projekt erklärt und ist heute längst in allen westlich orientierten Wohlfahrtsstaaten akzeptiert“ (ebenda). Die allgegenwärtige Marktlogik macht nicht vor dem Alltag der Menschen halt und hat für die alltägliche Lebensführung vielfältige Konsequenzen, denn sie führt zu einer Ökonomisierung lebensweltlicher Beziehungen. Ziel der Ökonomisierung ist es, z.B. auch die Soziale Arbeit in ein Marktgeschehen umzugestalten, bei dem es grundsätzlich um Produktion von Waren, um Gewinne, um Unternehmen und um Marktfähigkeit geht. Menschliche Probleme und Bedürfnisse bzw. die ausgegrenzten oder von gesellschaftlicher Ausgrenzung bedrohten Menschen werden damit zur Ware.

Einschätzung der Reaktion der betroffenen SozialarbeiterIn

Die Erzählerin schildert ihre massive Belastung und deren Auswirkungen auf ihr Leben und ihre Gesundheit. Sie schämt sich für unsere Gesellschaft, die die Arbeit der SozialarbeiterInnen im ASD nicht wertschätzen, fühlt sich also gesellschaftlich missachtet und ungerecht behandelt.
Es ist immerhin etwas, wenn sie die Situation so deutlich und kritisch schildern kann und die Folgen nicht sich, sondern der Gesellschaft anlastet. In ihrer Erzählung kommen trotzdem nur zwei Arten von Bewältigungsversuchen vor: Das Krank-Werden und das Weggehen.

Grundsätzlich mögliche Handlungsperspektiven und Strategien der Gegenwehr im beschriebenen Beispiel

Es gibt zum einen Möglichkeiten, sich am Arbeitsplatz zu wehren bzw. Position zu beziehen:

So lange es sich um den Versuch handelt, etwas an dem eigenen Arbeitsplatz und an den Arbeitsbedingungen zu ändern, unter denen man arbeiten soll, stehen der Kollegin und steht allen SozialarbeiterInnen in ähnlicher Lage die Möglichkeiten zur Verfügung, die sie als Mitarbeiterin hat:

  • Sie kann z. B. konkrete Gehaltsforderungen stellen, Geld für Überstunden, für Wochenendarbeit verlangen, sie kann einen besseren Arbeitsvertrag fordern und bessere Arbeitsbedingungen einklagen.
  • Das ist in der Regel nicht so leicht und wird kaum einfach im Gespräch mit den Vorgesetzten zu regeln sein. Was man auf dieser Ebene erreichen kann, ist ohne Zweifel begrenzt. Vorgesetzte, die einem vielleicht in der kritischen Einschätzung zustimmen, werden die Schultern zucken, weil auch sie sich gezwungen fühlen, die Aufgaben zu erfüllen, die ihnen offiziell zugedacht sind. Und auf Politik haben sie auch keinen Einfluss.
  • Hier hilft es ungemein, wenn innerhalb des Teams Einigkeit und Solidarität besteht und man gemeinsam begründete Forderungen stellt und dabei Phantasie, Ausdauer und die notwendige Sturheit entwickelt.
  • Personalräte bzw. Betriebsräte können hier hilfreich sein, müssen aber meist von den KollegInnen entsprechend gefordert werden.
  • Wird es ernst und steht man mit seinem Arbeitsgeber vor Gericht, so kann man die Unterstützung seiner Gewerkschaft oder des Berufsverbandes DBSH bekommen.

Das Sich-Organisieren hat aber nicht nur den Zweck konkreter Unterstützung bei Tariffragen u.ä. Es ist vor allem wichtig, damit man nicht alleine ist, damit man sich austauschen kann, gemeinsame Strategien entwickeln und sich gegenseitig stärken kann.
Im Rahmen einer Organisation ist es auch möglich, Mittel und Wege zu finden, Missstände und prekäre Situationen in der eigenen Arbeit anzuprangern und öffentlich zu machen, ohne dass man als Person dabei in Gefahr gerät.
Und mit einer Organisation im Rücken wären dann durchaus Aktionen und Schritte von Widerstand möglich: Vom Sit-in vor der Tür des Geschäftsführers oder des Sozialdezerneten bis zur Einreichung schriftlicher Forderungen, die gleichzeitig – mit ein paar fachlichen Informationen über die gegenwärtige Lage angereichert – in der Zeitung stehen (denn Forderungen sind keine Dienstgeheimnisse) usw.
Es muss darauf hingewiesen werden, dass man auch als Mitglied einer solchen Organisation nicht erwarten kann, dass hier die Initiative von der Organisation ausgeht. Jede Organisation ist so gut wie ihre Mitglieder aktiv sind. Es gilt also, die Unterstützung für solche Initiativen gezielt und hartnäckig einzufordern, möglichst gemeinsam mit anderen Mitgliedern.

Zum anderen:

Die Ursachen für die fatalen Entwicklungen z.B. im Allgemeinen Sozialen Dienst sind im Wesentlichen politischer und gesellschaftlicher Natur. Die problematischen Strukturen und Zielsetzungen betreffen keineswegs nur die Soziale Arbeit. Davon sind z.B. ebenso das Gesundheitswesen, die Pflege, aber auch das Bildungssystem betroffen. Im Grund betrifft die Neoliberalisierung unserer Gesellschaft alle Lebensbereiche, zwingt uns alle in einen atemlosen Rhythmus, indem wir unser Leben lang beweisen müssen, dass wir für die Gesellschaft nützlich sind und wo wir uns wie Unternehmer unserer selbst ständig um Wachstum bemühen müssen, während andere Lebensbereiche belastet und z.T. ernsthaft beschädigt werden. Diese Ideologie und die durch diese Ideologie gestützte Wirtschaft im heutigen entfesselten Kapitalismus rechtfertigt außerdem die Zunahme der Schere zwischen Arm und Reich, grenzt Menschen aus als Überflüssige und „legitimiert“ Kriegseinsätze, die Ausbeutung anderer Völker und die Zerstörung unserer Umwelt.
Wer das verstanden hat, wird neben einer politischen Haltung in Sachen Soziale Arbeit bemüht sein, auch auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene politisch aktiv zu werden und Widerstand zu leisten. Es gibt unendlich viele Gruppen und Initiativen, die solche Ziele verfolgen.

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Über m.s.

Ich war 18 Jahre Professorin für Soziale Arbeit an der FH Jena (Methoden, Hilfen zur Erziehung, Schulsozialarbeit). Davor war ich 18 Jahre in der Praxis. Studiert habe ich Psychologie in Münster und Soziale Arbeit in Frankfurt a.M. Bücher: Schwarzbuch Soziale Arbeit Engaging Hilfe zur Erziehung zwischen Professionalität und Kindeswohl Das kann ich nicht mehr verantworten Ambulante Hilfe zur Erziehung und Sozialraumorientierung
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