Was kann man tun? – Fall 7: “Du hast keine Chance, aber nutze sie!“

Fortsetzung zum Thema „Das kann ich nicht mehr verantworten!“  – Kommentierung der Texte – Was tun? (7)

Text:  „Du hast keine Chance, aber nutze sie!“  Die mobile Jugendarbeit hat immer weniger reale Möglichkeiten, Jugendlichen zu helfen (Seithe/Wiesner-Rau 2013, S. 137)

Im Rahmen meiner Tätigkeit in der Mobilen Jugendsozialarbeit sitzen mir an meinem Schreibtisch viele junge Leute gegenüber. Was mir in meiner Arbeit täglich begegnet, lässt für mich die Schlussfolgerung zu, dass es bei jungen Menschen mit gravierenderen Problemen im Hinblick auf die strukturellen Bedingungen und die Chancen für eine Veränderung oder Verbesserung ihrer Lage ziemlich mau aussieht.
Das Wort Schreibtisch habe ich hier im Zusammenhang mit dem Arbeitsfeld Mobile Jugendsozialarbeit ganz bewusst gewählt. Früher wäre das absurd gewesen, diese Arbeit am Schreibtisch auszuführen. Aber es hat sich bei uns nach den Kürzungen vieles massiv geändert. So ist es einigen Projekten der Mobilen Jugendsozialarbeit im ländlichen Raum überhaupt nicht mehr möglich, mobil zu sein, weil kein Geld für das nötige Benzin, geschweige denn für ein Dienstfahrzeug vorhanden ist.
Im Wesentlichen arbeite ich mit „benachteiligten“ Jugendlichen. Meine Arbeit wird im
§ 13 SGB VIII als Integration solcher Jugendlichen in unsere Gesellschaft beschrieben. Das bedeutet praktisch: Hilfe bei der Arbeits- und Lehrstellensuche, Wohnungssuche, Suchtentwöhnung, Hilfe bei familiären Schwierigkeiten etc.

Das zu verwirklichen ist aber mittlerweile zu einem beinah unlösbaren Unterfangen geworden. Dabei fehlt es keineswegs an der Motivation der jungen Menschen. Es mangelt vielmehr an den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für eine Veränderung hin zu einer Integration. Im Klartext: Die Türen, die in ein integriertes Leben führen würden, sind quasi mit bürokratischen Schlössern verriegelt oder sie gehen so schwer auf, dass es für einen jungen Menschen allein fast unmöglich ist sie zu öffnen.
Wir erleben regelmäßig die Situation, dass unzählige Sozialarbeiterinnen und -arbeiter verschiedenster Sozialleistungsträger einem langzeitarbeitslosen jungen Menschen Mut zur Überwindung seiner bestehenden Suchtproblematik machen und ihm zum Beispiel eine Lehrstelle in Aussicht stellen. Entschließt er sich, sein Problem anzugehen, sieht die Wirklichkeit für ihn dann aber in den meisten Fällen folgendermaßen aus: Der Jugendliche ist ein Jahr weg. Er macht eine Entgiftung, anschließend laufen Therapien. Kommt er nach Hause zurück, erhält er aufgrund vorheriger Mietschulden keine Wohnung und bekommt daher keine Lehrstelle, da Wohnraum in der Regel dafür eine Voraussetzung ist. Einen Platz in betreuten, das heißt begleiteten Wohnformen, gibt es für ihn nicht mehr, wenn er über 18 Jahre alt ist. Also zurück zu den alten Kumpels, weil es draußen schneit … ach, das geht schon.

Aber es geht eben nicht. Wir erleben junge Menschen, die eine Lehrstelle aufnehmen, um sich aus dem ALG II-Bezug zu lösen, sich jedoch dann mit dem Problem konfrontiert sehen, dass laut SGB II ab dem ersten Tag der Ausbildung sämtliche, damit meine ich wirklich alle Leistungen nach SGB II eingestellt werden. Gleichzeitig fängt aber die Arbeitsagentur, die für die schulische Ausbildungs- und Berufsausbildungsbeihilfe zuständig ist, erst mit dem ersten Tag der Ausbildung an, die Beihilfe zu berechnen. Diese Berechnung kann sich dann mitunter über zwei Monate hinziehen. Und das bedeutet zwei Monate keine Miete zahlen können, was zu einer fristlosen Wohnungskündigung führen wird, und wenn nicht, dann zumindest zu einer emotional schwer zu ertragenden Zeit.

Besonders im ländlichen Raum kommt dann noch hinzu, dass ohne Geld auch der Weg zur Ausbildung zu einem Problem wird. Viele Jugendliche sind dann mitunter, weil es billiger ist, erst einmal krank oder verschweigen ihre Ausbildung und lassen sich vom Jobcenter überzahlen oder brechen ihren Versuch, aus ALG II herauszukommen, entnervt wieder ab. Es folgt der Rückfall in die Sucht und damit der Rückfall in den ALG II-Bezug.
Und wer trägt die „Schuld“ für die ausgebliebenen Lebensveränderungen? Laut eines voranstürmenden Neoliberalismus wird die natürlich den jungen Menschen selbst in die Schuhe geschoben. Vielleicht ist auch noch die mobile Jugendarbeit schuld. Die fehlenden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen jedenfalls bleiben in der Regel unhinterfragt und werden nicht angetastet.

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Fachliche Kritik der beschriebenen Arbeit und Arbeitssituation

Die Bemühungen der mobilen Jugendarbeit erscheinen hier wie die berühmte Situation des griechischen Sisyphos. Das, was sie mühsam und mit viel Zeitaufwand und Kraft aufgebaut hat, geht an dem Mangel an bereitgestellten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen wieder verloren. Es scheint, als würde die Soziale Arbeit hier nur zum Schein „ins Feld geschickt“, um die bestehende Suchtproblematik bei Jugendlichen anzupacken. Man hat den Eindruck, dass die Gesellschaft eigentlich keinerlei Interesse an einer wirklichen Lösung hat. Das verwundert angesichts der Tatsache, dass die immerhin für die Jugendlichen mögliche Suchttherapie viel Geld kostet.

Hier wird die eigentliche sozialpädagogische Arbeit gar nicht beschrieben und problematisiert. Es hat bei der Beschreibung des Erzählers aber den Eindruck, als sei diese durchaus erfolgreich. Aber die Politik ist nicht bereit, an den sozialpädagogischen Erfolg sinnvoll anzuschließen. Im Rahmen der Hartz IV Gesetze und im Rahmen der damit verbundenen Verfügungen und Regelungen entsteht für den aus der Suchttherapie Entlassenen erneut eine materielle Notsituation sowie faktische Obdachlosigkeit, was den Rückfall schlicht provoziert, wenn nicht sogar unvermeidbar macht – es sei denn, Eltern mit hinreichend Geld fangen den Betroffenen auf. Jugendliche ohne Mittel aber scheitern hier systematisch. Auf diese Weise wird ein wirklicher Erfolg geradezu verhindert.

Gesellschaftswissenschaftliche und politische Analyse Hintergründe

Man kann kaum glauben, dass für dieses dysfunktionale Umgehen mit der Problematik Sparmotive ausschlaggebend sind.

Die Regelungen im Kontext Hartz IV, die es den Jugendlichen unmöglich machen, sich wirklich wieder einzugliedern, sind vermutlich den rigiden, bürokratischen und auf Kostensenkung getrimmten Vorstellungen derjenigen zurückzuführen, die für die Umsetzung von Hartz IV verantwortlich sind. Das hier aber- weit weg von alle Gedanken an Effizienz – Geld einfach zum Fenster herausgeworfen wird, kann nur damit erklärt werden, dass hier niemand ganzheitlich und systemisch denkt und somit Fragen der Kompatibilität sozialer Leistungen und Angebote überhaupt nicht berücksichtigt werden.

Eine weitere Überlegung ist es, dass politisch keinerlei Interesse an der Zielgruppe besteht, man sie als zukünftige Leistungsträger dieser Gesellschaft längst aufgegeben hat und somit nicht bereit ist, für sie „Extrawürste zu braten“. Letztlich sind ja die Jugendlichen selbst schuld an ihrer Lage. Die Bemühungen der mobilen Jugendarbeit sind somit nur Ablenkung von der Misere, Verschiebung und Verschleierung der Situation. Und da man ihren Bemühungen letztlich Misserfolg konstatiert, bzw. den selbst verursachten Misserfolg in die Schuhe schiebt, kann man im nächsten Schritt fragen: „Was soll diese teure mobile Jugendarbeit eigentlich noch? Sie führt ja zu nichts.“

Einschätzung der Reaktion der betroffenen SozialarbeiterIn

Die KollegInnen von der mobilen Jugendarbeit stehen hilflos und wütend vor dieser Situation, die nicht nur Gleichgültigkeit gegenüber ihrer Klientel, sondern auch Gleichgültigkeit gegenüber ihrer fachlichen Arbeit ausstrahlt. Sie fühlen sich ausgenutzt und letztlich veralbert.
Was sie dagegen tun, wird nicht berichtet.

Grundsätzlich mögliche Handlungsperspektiven und Strategien der Gegenwehr im beschriebenen Beispiel

Das Team der mobilen Jugendarbeit und sein Träger könnten Eingaben gegenüber dem Sozialamt machen, könnten bis zur Stadtverordnetenversammlung vordringen mit Protesten. Auch wenn diese Protestschreiben und Argumentationen fachlich gut entwickelt und selbstbewusst vorgetragen werden, kann es passieren, dass sie niemanden interessieren – einfach weil die Zielgruppe niemanden interessiert. Hier Druck zu machen ist nicht leicht. Wenn man die Betroffenen dafür gewinnen kann, sich an diesem Protest persönlich zu beteiligen, wird es nicht leichter.

Widerstand am Arbeitsplatz ist  auch das Verweigern der allgemein üblichen und erwünschten Abwertung sozial benachteiligter Menschen und die deutliche Wertschätzung dieser Menschen. Es reicht nicht, gegenüber der Klientel parteilich und wertschätzend zu sein. Unsere parteiliche, wertschätzende Haltung sollten wir offensiv zeigen und unserer KooperationspartnerInnen deutlich demonstrieren. Im Zweifel müsste man auch von ihnen verlangen, dass sie von unserer Klientel mit Respekt sprechen und sie wertschätzend behandeln (sei es, es handelt sich um den Chef, das Team, den Geschäftsführer, die MitarbeiterInnen des Jugendamtes, des Jobcenters, der Schule etc.). In unserem Fall würde das heißen: denjenigen, die man ansprechen wird, um bessere Bedingungen durchzusetzen, sollte man nicht als BittstellerIn entgegentreten, sondern selbstbewusst Forderungen stellen und Veränderungen einklagen und damit die Würde unserer Klientel demonstrieren.
Aber man sollte es wissen: Wer sich für Verachtete einsetzt, darf sich nicht wundern, wenn er selbst verachtet und missachtet wird.

Bei dem Weg in die Öffentlichkeit wird man  nur dann erfolgreich sein, wenn es gelingt, die Medien und dann die Öffentlichkeit dazu zu bringen, sich für die Betroffenen und ihr Schicksal zu interessieren. Dieses Problem besteht insgesamt für die Soziale Arbeit. Je ausgegrenzter die Zielgruppen sind, für die man sich einsetzt, desto schwieriger wird es, andere dazu zu bringen, sich für sie zu interessieren oder gar einzusetzen. Schon deshalb wird man als SozialarbeiterIn, die in einem solchen Feld arbeitet und die sich nicht damit abfinden kann, dass ihre Klientel und ihre Arbeit so mit Füßen getreten werden,  versuchen, sich allgemein und über die eigene Arbeitssituation hinaus politisch zu engagieren.  Politische Interessengruppen, Organisationen, Gewerkschaften und der Berufsverband sind Organisationen, innerhalb derer man versuchen kann, gesamtgesellschaftliche Kritik an unserer neoliberalen und zunehmend Menschen entwürdigenden Politik zu üben.

Mancher SozialarbeiterIn und auch mancher Organisation scheint der Bogen vom problematischen Arbeitsplatz bis zur politischen Systemkritik zu weit gespannt. Aber wenn man die Lage wirklich kritisch betrachtet und diese Kritik zu Ende denkt, bleibt letztlich nichts anderes übrig, als die Aspekte und Orientierungen unserer Gesellschaft politisch zu bekämpfen, die nicht zuletzt auch der Hintergrund für die Lage in der Sozialen Arbeit darstellt.

Über m.s.

Ich war 18 Jahre Professorin für Soziale Arbeit an der FH Jena (Methoden, Hilfen zur Erziehung, Schulsozialarbeit). Davor war ich 18 Jahre in der Praxis. Studiert habe ich Psychologie in Münster und Soziale Arbeit in Frankfurt a.M. Bücher: Schwarzbuch Soziale Arbeit Engaging Hilfe zur Erziehung zwischen Professionalität und Kindeswohl Das kann ich nicht mehr verantworten Ambulante Hilfe zur Erziehung und Sozialraumorientierung
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