Herr Sarrazin – geht uns seine Aussage was an?

Ich saß im Auto, als im Radio seine Äußerungen  zitiert wurden. Da war alles noch ganz frisch und der berichtende Journalist war herzerfrischend aufgebracht über die hetzerische und beleidigende Aussage eines unserer ziemlich weit oben stehenden Leistungsträger.

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Die Aufregung insgesamt hielt sich in den nächsten Tagen allerdings in Grenzen. Am Wochenende sah ich dann eine Reportage – weiß leider nicht mehr genau wann und wo – in der sich Berliner Bevölkerung zur Sache äußerte. Seit dem ist mir klar, wieso Herr Sarrazin so etwas ohne wirkliche Folgen  sagen konnte: Er spricht einem großen Teil unserer Bevölkerung aus dem Herzen. Eine Frau kam in dieser Reportage auf den Punkt: „Der hat endlich mal laut gesagt, was Sache ist. Man traut sich ja gar nicht mehr, wirklich seine Meinung zu sagen!“  Herr Sarrazin hat hier einfach nur dem Volke seine Stimme geliehen: ‚Endlich kann man mal wieder laut sagen, was man eigentlich von diesem Gesocks denkt! Am besten gehen sie eben dahin, wo sie herkommen!‘
Da ist also ein Damm eingerissen worden, der ohnehin schon ziemlich löcherig war: die Toleranz gegenüber Mitmenschen anderer Kulturen, anderer Glaubensgemeinschaften, anderer Rassen und Nationen.

Ein paar Gedanken:

  • Die beleidigende Schelte des Herrn Sarrazin wird interessanter Weise nur  als Kritik an mangelnder Integration der MigrantInnen diskutiert. Die eigentlichen diskriminierenden und volksverhetzenden, antimuslimischen  und ausländerfeindlichen Aussagen werden dabei nicht weiter erwähnt. Ich halte die gesamte Aussage Sarrazin’s tatsächlich für faschistoid. Letztlich muss man seine Aussage so verstehen: ‚Wir Deutschen sind  besser, leistungsfähiger, wertvoller, sowieso fleißiger. Die anderen taugen nichts, führen ein parasitäres Leben in unserem Land und auf Kosten unserer sozialen Netze. Sie haben hier nichts zu suchen.‘
  • Ganz abgesehen davon, dass Integration in der öffentlichen Diskussion um Sarrazin’s Äußerung als reine Anpassung und Assimilisation verstanden wird und die Versuche der Erhaltung der eigenen kulturellen Identität beargwöhnt, diskriminiert und torpediert werden, handelt es sich bei dieser ganzen Blase von Haltungen und zustimmenden Reaktionen, bei dem mit ausgestrecktem Finger auf die „unmöglichen Verhältnisse“ z.B. in Neukölln gezeigt wird und man sich entsetzt über die Lebensverhältnisse der ausländischen Familien, um eine Fortsetzung der bekannten Unterschichten-Schelte, die den Menschen am Rande der Gesellschaft ihre Lebenssituation als selber verschuldet und als schmarotzerhaft und als tadelnswert anlastet.
  • Nur: Die Schelte der Migranten-Unterschichten unserer Gesellschaft hat einen feinen Vorteil: Die Menschen, denen es dank Finanz- und Wirtschaftskrise jetzt schon und bald noch mehr an den eigenen Kragen geht, haben nun ein Negativ-Modell, an dem sie sich abarbeiten können. Sie können sich von denen da absetzen und sich daran hochziehen, dass es eben Menschen gibt, die noch verachtenswerter sind und sie haben endlich auch jemanden, den sie schuldig  sprechen können.
  • So aber werden nicht nur Feindbilder aufgebaut. So wird nicht nur von den wirklichen Verursachern gesellschaftlicher Krisen abgelenkt, so werden nicht nur einmal mehr, menschliche Problemlagen ihrer gesellschaftlichen Hintergründe beraubt und den Betroffenen einfach selber angelastet:
  •  So baut man außerdem ganz offen am Stoff für die nächsten Pogrome.
  • Wenn man den deutschen Michel danach fragt, was denn eigentlich Faschismus sei, wird er was von Judenverfolgung sagen. Und während in unserem Lande die große Mehrheit  darum bemüht ist, sich auf keinen Fall eines Antisemitismus verdächtig zu machen und sich deshalb politisch auf der richtigen, der toleranten und demokratischen  Seite wähnt, wächst auch bei ganz ’normalen Leuten‘, die  sicher nicht mit neofaschistischen Organisationen in Verbindung gebracht werden können, die Fremdenfeindlichkeit gegenüber Muslimen hemmungslos und offenbar aus tiefster Seele heran. Und ein Herr Sarrazin spricht eben nur aus, was so viele denken.
  • Da entsteht unter unser aller Augen ein neuer, alltäglicher Rassismus und Faschismus.

Über m.s.

Ich war 18 Jahre Professorin für Soziale Arbeit an der FH Jena (Methoden, Hilfen zur Erziehung, Schulsozialarbeit). Davor war ich 18 Jahre in der Praxis. Studiert habe ich Psychologie in Münster und Soziale Arbeit in Frankfurt a.M. Bücher: Schwarzbuch Soziale Arbeit Engaging Hilfe zur Erziehung zwischen Professionalität und Kindeswohl Das kann ich nicht mehr verantworten Ambulante Hilfe zur Erziehung und Sozialraumorientierung
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