Kulturchipkarte oder Kulturschock?

   Kultur ist, wie der Mensch lebt…..

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12 Meter langes Wandbild in einem 13stöckigen Haus in einem sozialen Brennpunkt in Wiesbaden – hergestellt von 25 Kindern und einem Künstler in den Herbstferein 1990. Das Thema: „Wie wir leben möchten“ war vorgegeben, die Kinder konnten Entwürfe einreichen. Das Ergebnis ist eine Mischung als Traum und Wirklichkeit. Zum Kunstwerk entstand bei  Kindern und erwachsenen Hausbewohnern eine hohe Identifikation. Das Bild hängt bis heute unangetastet im Foyer des Hochhauses. 

Den armen Kindern soll nun geholfen werden, das BVG hat es ja befohlen und unsere Familienhelferin vom Dienst, Frau von der Leyen hat die Lösung bei der Hand:
Ganz im Sinne des aktivierenden Staates sollen diese Kinder und Jugendlichen  eine Chance bekommen , die sie dann nur noch ergreifen müssen: die Bildungschipkarte. Wer das nicht will, wer das nicht kann oder z.B. im Rahmen von familiärer Loyalität nicht darf, hat dann eben Pech gehabt.

Dass hier einmal wieder die „Erziehung der Armen“ betrieben werden soll, der Versuch, diese oder wenigstens ihre Kinder auf dem kürzesten Wege hinzuführen  zu den Kulturgütern, die in unserer Gesellschaft als die wichtigen, richtigen, wertvollen erachtet werden, um sie zu den Bildungsanstrengungen zu bewegen, die für die Leistungsträger dieser Gesellschaft obligatorisch sind, ist das eine. Seit PISA beginnen einige Verantwortliche in dieser Gesellschaft zu ahnen, dass sie es sich nicht leisten können, die gesamte Nachkommenschaft der „Unterschicht“  links oder rechts liegen zu lassen. Die Intelligenteren von ihnen stellen doch immerhin ein Humankaital da, das man nutzen müsste. Sie sollen jetzt eine Chance bekommen für den kulturellen und sozialen Aufstieg. Was aber ist mit denen, die diesen Zugang nicht finden? Was ist mit denen, die lieber mit der Clique an den Haltestellen herumstehen, anstatt Violine zu lernen? Pech gehabt. Sie hatten ihre Chance.

Die Kritik an dieser Idee ist  vielfältig und kritische Bemerkungen kommen von allen Seiten:

  • Z.B. sind Mittagessen und Nachhilfe  erst einmal lebensnotwendige Güter, die – wenn diese Gesellschaft es ernst meint mit der Förderung von Bildungschancen – nicht gegen Gutschein, sondern kostenlos zu liefern sind für diejenigen, die das Geld dafür nicht haben.
  • Richtig ist auch, dass solche pauschalen Lösungen unsinnig sind. Was Kinder brauchen, ist individuell festzustellen und nicht dadurch zu lösen, dass man allen ein wenig aber keinem genug gibt.  Wie gestern im Radio ein Reporter zu Recht bemerkte: Für 4,75 Euro im Monat kann niemand Nachhilfeunterricht bezahlen. Und wer keinen braucht, der braucht auch diese 4,75 Euro nicht dafür.
  • Sport und Kulturangebote müssten zudem, soll der Bildungsgutschein einen Sinn machen, auch überall vorhanden sein. Statt dessen wird seit Jahren gerade in der Jugendarbeit gespart, gekürzt, werden ganze Einrichtungen geschlossen. Ein ungedeckter Gutschein aber ist wertlos. Es wäre also erst einmal notwendig,  Angebote flächendeckend und hinreichend auszubauen, wieder einzurichten und außerdem personell entsprechend auszustatten.
  • Dass hier pauschal allen Hartz IV Familien unterstellt wird, dass sie das Geld, wenn es denn Bargeld wäre, verprassen, verrauchen, vertrinken würden und man deshalb die elterliche Verantwortung und Entscheidung für die Bildung ihrer Kinder per Staat an sich reißt, ist ein weiterer massiver und berechtigter Kritikpunkt.

Natürlich gibt es auch solche Eltern und ganz sicher wird es die Kinder geben, die ihren Gutschein verfallen lassen oder ihn an andere, kulturinteressierte Kinder der ärmeren Mittelschichten verhökern. Ebenso wird es bestimmt auch den Fall des Kindes aus armen Verhältnissen geben, das sich auf diese Weise seinen alten, von der eigenen Familie vielleicht nie verstandenen Traum erfüllen kann, Posaune oder Klavier zu lernen.

Selbstverständlich kann es nicht darum gehen, die Kultur- und Bildungsgüter unserer Gesellschaft denen vorzuenthalten, die dazu keinen eigenen, intrinsischen Zugang haben. So würde man die  längst bestehende Zweiklassen-Kultur zementieren.
Ihnen aber die Kultur- und Bildungsgüter unserer Gesellschaft   einfach aufzudrücken, wäre manipulativ und patriarchialisch, abgesehen davon, dass es nicht gelingen würde. Und es ist ebenso absurd, das Problem dadurch lösen zu wollen, dass man ihnen nun  den kostenlosen Zugang zu solchen Bildungs- und Kulturgütern ermöglicht, obwohl man doch genau weiß, dass für viele von ihnen z.B. der Besuch einer Musilkschule eher als Kulturschock erlebt, denn als Kulturchance begrüßt und wahrgenommen würde.

Der Plan von Frau von der Leyen investiert mal wieder nur in diejenigen, die mit der größten Wahrscheinlichkeit in der Lage sind, die Chance zu nutzen. Und er rührt keinen Finger für den Rest, der dieses Angebot nicht für sich nutzen kann und wird. Damit grenzt dieser Plan an Betrug und Selbstbetrug, so als würde man jemandem einen schlichten, geschliffenen Edelstein hinzuhalten, obwohl man genau weiß, er steht auf glitzernden, leuchtenden Glasperlen (zumal die Gesellschaft alles tut, um ihnen weiterhin Glas- und Plastikperlen anzudrehen) und dann, wenn er den Stein uninteressiert liegen lässt, zu sagen: selber schuld!
Der Vorschlag macht sich die Lösung des Problems viel zu leicht, er ist vor allem viel zu kurz gegriffen. Denn abgesehen von der dringenden Notwendigkeit einer Sozial-, Jugend- und Familienpolitik, die den (Wieder)auf- und Ausbau von kulturellen und außerschulischen Bildungsangeboten massiv betreibt, ginge es vor allem darum, Kultur und Bildung auch denen zugänglich zu machen, die dazu eine große Distanz haben und die sich nicht im Entferntesten damit identifizieren.
Das freilich ist nicht mit einem hingehaltenen Bildungsgutschein zu erledigen. Das hieße vor allem, ihnen eigene, authetische Erfahrungen zu ermöglichen, also Erfahrungen, die für sie anschließbar und in ihr Bewußtsein und Selbstbild integrierbar sind und die für sie einen erlebbaren Nutzen bringen. Erst so würden bei der großen Masse der „armen Kinder aus bildungsfernen Schichten“ die kulturellen und die Bildungsbedürfnisse entstehen, die die von der Leyen-Chipkarte  unsinnigerweise bei allen Kindern und Jugendlichen bereits voraussetzt.

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Der flächendeckende Ausbau von klassischen Musikschulen wäre deshalb z.B. nicht der geeignete Weg.
Es gab vor vielen Jahren, in den 80ern, in NRW zu dieser Frage das interessante Bildungsmodell „Jugendkunstschule“ (als sozial- und bildungspolitische Alternative zur klassischen Musikschule), bei dem Kinder aller Schichten, und insbesondere Kinder aus den Familien, die wir heute so schön „bildungsfern“ nennen, mit großem Erfolg angesprochen und gefördert wurden. Die Jugendkunstschulen arbeiteten sozialpädagogisch und setzten dabei die künstlerischen Formen und Medien ein, ohne sie aber zu reinen Aufhängern für ihre Pädagogik zu machen. Es ging sehr wohl um Kunst, um Theater, um Malen, um Musikmachen, um Filmen, um handwerkliche und ästhetische Gruppenprojekte. Und außer SozialpädagogInnen waren etwa zur Hälfte KünsterInnen als MitarbeiterInnen in diesen Modelleinrichtungen beschäftigt. Schließlich gab es durchaus auch die Möglichkeit, sich künstlerisch gezielt auszubilden und – ähnlich wie an klassischen Kunst- und Musikschulen – in der gewünschten Kunstform künstlerische und musikalische Leistungen zu erzielen. Das aber war nur eine Variante der Ziele und Angebote. Vor allem ging es um ästhetisches Lernen in Verbindung mit sozialem Lernen und mit der Chance, sich durch die künstlerischen Angebote und Aktivitäten mit dem eigenen Leben und mit der Gesellschaft und ihren Problemlagen auseinanderzusetzen. Kinder aus „bildungsfernen Milieus“ fühlten sich hier zu Hause und erwünscht und hatten hier ihre ersten und oft sehr nachhaltigen Erlebnisse im Umgang mit Kunst und Bildung. Die Eltern waren erst einmal nur froh, dass ihre Kinder sich mit etwas Sinnvollem beschäftigten. Den Wert der Jugendkunstschulen für ihren Nachwuchs haben auch sie erst nach und nach erkannt und dann z.B. mit Staunen verfolgt, wie  mutig und schier verwandet ihr Kind auf der Theaterbühne stand oder wie es mit Ernst und  ungewohnter Selbstsicherheit die riesige Gruppencollage präsentierte, bei der es mitgewirkt hatte.

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Der Modellversuch ging ins Land, es erschien darüber ein Buch, er wurde wohlwollend aufgenommen und dann aber mehr oder weniger gezielt vergessen: Eine Regel-Übernahme dieses Konzeptes wäre natürlich zu teuer geworden und die Lobby der klassischen Kunst- und Musikschulen wäre auf die Barrikaden gegangen. Und so bleibt die Jugendkunstschule – bis auf einige wenige Beispiele, die das alte Konzept auch heute noch umzusetzen versuchen und für sozial benachteiligte Kinder z.B. nur 50% der sonst geforderten Beiträge erwarten – eine Erinnerung, eine leider verpasste große Chance. Solche Angebote – natürlich kostenfrei für Kinder aus den benachteiligten Familien und überall erreichbar -, liebe Frau von der Leyen, die würden schon eher greifen und für die „Kinder der Armen“ im Sinne des BVG eine Verbesserung ihrer kulturellen Bildungslage und ihrer Bildungschancen bedeuten.
Sie aber erfordern nicht nur, dass die Regierung für ihre Kinder und besonders die Minderjährigen aus den Hartz-IV Familien endlich „mehr Geld in die Hand nimmt“, sie erfordern vor allem, dass die Kinder der „bildungsfernen Schichten“ in ihren Bildungs- und kulturellen Bedürfnissen politisch und sozialpolitisch wirklich ernst genommen würden und ihre Förderung auf eine Weise geschähe, die sie tatsächlich erreicht, ohne sie zu diskriminieren, zu beschämen und ohne ihnen ihre Identität zu nehmen.

Über m.s.

Ich war 18 Jahre Professorin für Soziale Arbeit an der FH Jena (Methoden, Hilfen zur Erziehung, Schulsozialarbeit). Davor war ich 18 Jahre in der Praxis. Studiert habe ich Psychologie in Münster und Soziale Arbeit in Frankfurt a.M. Bücher: Schwarzbuch Soziale Arbeit Engaging Hilfe zur Erziehung zwischen Professionalität und Kindeswohl Das kann ich nicht mehr verantworten Ambulante Hilfe zur Erziehung und Sozialraumorientierung
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