Krawalle der Ausgegrenzten

Was ist in England los?

Da greifen Menschen zu Chaos und Gewalt, nehmen sich „einfach“, was sie haben wollen, negieren jede Grenze und jede Regel und lassen – offenbar ohne Skrupel – über dieses Land das Chaos hereinbrechen. Die Bilder erschrecken. Man möchte nicht dabei sein. Und auch auch als Sozialarbeitende steht man mit Grausen vor dem Desaster, dass Menschen so verrohen können, dass sich Gewalt so sinnlos äußert.
Es fällt schwer angesichts der brennenden Häuser einen klaren Kopf zu behalten und kritisch zu sehen, dass hier Menschen auf Lebensverhältnisse reagieren, die ihnen nichts zu bieten haben als Armut, Ausgrenzung, Perspektivlosigkeit und strukturelle und kulturelle Gewalt, die ihnen aber gleichzeitig  von früh bis spät vorgaukeln, dass das persönliche Glück das einzige Lebensziel und materieller Reichtum der einzige Sinn des Lebens sei. Die Medien und die Werbung belügen und betrügen sie von morgens bis abends und machen ihnen die Erreichbarkeit aller Konsumgüter vor. Aber sie können nicht teilhaben. Sie stehen vor dem hellerleuchteten Schaufenster des Reichtums ihrer Gesellschaft. Aber sie dürfen nicht rein. Klar, dass sie irgendwann nicht mehr einsehen, dass sie draußen stehen bleiben sollen.  Sie wachsen in einer Atmosphäre der Verachtung, des Hasses und der Gewalt auf, nicht weil das alles von vorneherein in ihnen steckt, sondern weil ihnen genau so begegnet wird.
Im Grunde muss man sich wundern, dass sie so lange warten, bevor sie ausbrechen.
In Deutschland zerbrechen sich nun sofort alle Leute die Köpfe darüber, ob uns hier auch so ein Ausbruch der ausgeschlossenen, ausgestoßenen und verachteten Gesellschaftsteile bevorstehen könnte.

  • Nein, sagen einige, bei uns sind doch alle integriert, wir sorgen schon dafür, dass sie es sind und wir halten sie doch still mit unserem Geld, wir versorgen sie doch ausreichend.

Eine ziemlich freche Position, finde ich, zynisch eigentlich in einem Land, w0 Integration zu einer Bringeschuld umdefiniert wurde und über Centbeträge gestritten wird, die Kinder brauchen oder nicht brauchen für eine menschenwürdige Entwicklung.

  • Doch, sagen die anderen,  bei uns gibt es genauso Ausgegrenzte, Menschen, die Wut ansammeln könnten über ihre schlechten Lebensbedingungen, Wut auf die satte Gesellschaft, die sie einfach an den Rand schiebt, Wut auf eine Gesellschaft, die ihnen nichts zu bieten hat und ihnen einfach voller Verachtung  den Rücken zukehrt.

Aber dann folgt meistens gleich die Aussage: Wir brauchen mehr Polizei zm Schutz vor diesen Gewalttätern und Plünderern, vor drohenden Krawallen und Gefahren.

Wenn ich vielleicht eine Sekunde lang geglaubt haben sollte, gehofft habe, dass da also doch endlich einmal  Leute sind, die  zur Kenntnis nehmen, dass eine Spaltung durch diese Gesellschaft läuft, dass die Gesellschaft wirklich einen ganz schön großen Teil  ihrerMenschen ausgrenzt und dass diePolitik aktiv und aggressiv an dieser Ausgrenzung beteiligt ist – schon im nächsten Moment wird mir klar:

Die Soziale Benachteiligung eines Teils der Bevölkerung wird von solchenLeuten zwar konstatiert, aber nur als logistisches Problem, als Risiko, als einzukalkulierende Störung unseres Wohlstandes und unserer Ruhe betrachtet: Wie können wir dieses Risiko eindämmen? Wie können wir uns schützen? Wie können wir möglichst präventiv solche Leute aussondern? Wieviel Polizei brauchen wir? usf. Und es wird selbstverständlich davon ausgegangen, dass dieser Ausgrenzungsprozess zwar vielleicht problematische Folgen hat, dass er aber unvermeidbar ist und in Zukunft, bei noch knapperen Mitteln, noch massiver werden könnte.
Keine, fast keine Stimme sieht die eskalierende Situation als Beweis für die Notwendigkeit, diese Ausgrenzung zu beenden,sSoziale Benachteiligung abzuschaffen, die Lebensbedingungen dieser Menschen menschenwürdig zu machen. Niemand ist bereit oder kann es sich auch nur vorstellen, dass  Politik und die sie dominierende Wirtschaft die grundlegenden Ursachen dieses Risikos beseitigt, zum einen von mir aus, um sich selber zu schützen, zum anderen aber natürlich, um diesen Menschen Menschenwürde und Gerechtigkeit zu teil werden zu lassen.
Es ist tatsächlich so:
Heute geht es nicht mehr um den Schutz der Armen vor der Gesellschaft, sondern nur um den Schutz der Gesellschaft vor den Armen.
Und wo steht da die Soziale Arbeit? Wo soll und wo darf sie stehen? Und wo will sie stehen?

Unsere verrohte, unmenschliche Welt sollte sich wirklich nicht wundern, wenn es aus dem Wald so herausschallt, wie hineingerufen wurde.

Über m.s.

Ich war 18 Jahre Professorin für Soziale Arbeit an der FH Jena (Methoden, Hilfen zur Erziehung, Schulsozialarbeit). Davor war ich 18 Jahre in der Praxis. Studiert habe ich Psychologie in Münster und Soziale Arbeit in Frankfurt a.M. Bücher: Schwarzbuch Soziale Arbeit Engaging Hilfe zur Erziehung zwischen Professionalität und Kindeswohl Das kann ich nicht mehr verantworten Ambulante Hilfe zur Erziehung und Sozialraumorientierung
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Eine Antwort zu Krawalle der Ausgegrenzten

  1. Franz Josef Krafeld sagt:

    Sehr geehrte Frau Seithe,

    das ist ein toller Kommentar zu den Ereignissen in Großbritannien in der letzten Woche, der zu fundierter kontroverser Duskussion und Auseinandersetzug reizt. Ich habe ihn eben spontan an die Studierenden meines Projektes „Förderung von Bewältigungskompetenzen“ an der FH Bremen weitergeleitet und das kurz so begründet:
    Ich finde die hier präsentierte Sichtweise gerade im Rahmen unseres Projektes Bewältigunskompetenzen außerordentlich interessent und nachdenkenswert. Denn all die vielen Kommentare der letzten Woche hatten jedenfalls eines fast durchweg gemeinsam, nämlich den Tenor, dass davon ausgegangen wird, dass die Beteiligten damit jedenfalls selbst subjektiv davon ausgingen, mit ihrem Verhalten besser etwas bewirken, etwas bewältigen zu können als durch „Ruhe als erste Bürgerpflicht“. Wenn zumindest das Konsens ist (und ich habe die Medien so verstanden), dann handelte es sich dort jedenfalls nicht um „sinnlose Gewalt“ (wie immer wieder behauptet wurde), sondern um eine Gewalt, hinter der (wie im Prinzip eigentlich aus meiner Sicht hinter jeder Gewalt) jedenfalls subjektiv für die Aktivisten dort ein offenbar ganz bedeutsame Sinnhaftigkeiten standen. Wenn wir jenen Sinn nicht teilen, den die Aktiven selbst dahinter sahen oder (sei es auch nur spontan aus dem Bauch heraus) empfanden, dann war sie deshalb ja durchaus noch nicht objektiv sinnlos, sondern war sinnlos ebenfalls „nur“ aus einer anderen, ebenfalls subjektiven Sicht, nämlich aus der der Politiker, der Medienleute – und allerdings auch etlicher unbeteiligter oder intervenierender Gettobewohner. Nur hat die eine Sicht in der Öffentlichkeit ungeheuer viel mehr Gewicht als die andere. Und diese mächtigere ist so stark, dass sie immer wieder versucht, ein entsprechendes Meinungs- und Interpretationsmonopol durchzusetzen (nach dem dann z.B. ganz pauschal jedwede Gewalt, die der einen Seite nicht passt, pauschal als „sinnlose Gewalt“ abgewertet und verurteilt wird – und umgekehrt jede von einem selbst befürwortete Gewalt andererseits als Ordnungs- und Sicherheitsmaßnahme geadelt wird. Dass dem so ist, das ist ziemlich sicher sogar ein gravierender Teil des Gesamtproblems – nicht zuletzt deshalb, weil diese sehr ungleiche Gewichtsverleilung ja offenbar extrem wenig mit ethischen Grundhaltungen oder mit Menschenrechten, aber ebenso offensichtlich extrem viel mit Machtverhältnissen, mit Privilegierung versus Ausgrenzung zu tun hat.

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