10. Es geht abwärts, aber nicht für alle

Roman: Das war gestern, Ackermann! 

Paul in Not

Seine Aussprache mit Suse hatte Dieter ein wenig erleichtert. Wenigstens diesen Druck, diese Verantwortung und dieses dauernde schlechte Gewissen spürte er nicht mehr. Das war wichtig gewesen, so würde er eher die Kraft für eine Lösung und einen Neuanfang seiner Berufssituation haben.

Die Arbeit ging ihm noch immer schwer von der Hand, vor allem aber sträubte sich alles in ihm, diese nichtssagenden und hinterhältigen Zahlen auszurechnen. Denn ob er es wollte oder nicht, der Kollege hatte recht: Er war jetzt einer von denen, die dafür sorgten, dass an den falschen Ecken gespart wurde, dass Stellen nicht besetzt werden konnten, dass die Mitarbeiter den größten Teil ihrer Arbeitszeit und Kraft in Dokumentationen und Niederschriften stecken mussten, statt mit den Menschen zu arbeiten. Seine Zahlen kamen ihm vor wie eine Schar von Kriegern, die, sobald sie seinen Schreibtisch verlassen hatten, brutal über seine Kollegen und die Mitarbeiter der EWV herfielen.

Dennoch ging es ihm jetzt ein wenig besser. Er wusste noch nicht, was er tun sollte, aber er war festentschlossen, etwas zu tun.
An einem Donnerstagvormittag erhielt Dieter einen Anruf von Frau Springer, seiner ehemaligen Sekretärin in der Lebensberatungsstelle.

„Es geht um Paul Heisinger“, leitete sie ein. „Herr Ackermann, ich muss ihnen etwas erzählen. Ich habe das Gefühl, dass Sie das erfahren sollten. Aber bitte, sagen Sie niemand, dass ich deswegen bei Ihnen angerufen habe.“
Überrascht und mit einem mulmigen Gefühl im Bauch hörte Dieter zu.

„Herr Heisinger kam gestern Morgen in unsere Beratungsstelle. Er wollte einen Termin mit Ihnen auszumachen. Er war ja sehr lange nicht mehr da gewesen. Aber jetzt brauchte er offenbar dringend Hilfe, dass konnte ich sehen.

Ich erklärte ihm, dass Sie nicht mehr in der Lebensberatung tätig sind. Herr Heisinger wurde nervös. Er verstand das nicht. Er fragte immer lauter, wie er Sie erreichen könnte. Inzwischen waren auch Stefan und Herr Hiltrup zu mir ins Büro gekommen. Vermutlich hatten sie seine laute Stimme gehört. Aber keiner wollte ihm Auskunft geben.“
Frau Springer holte tief Luft und wartete offenbar auf eine Reaktion von Dieter. Als der nichts sagte, fuhr sie fort:

„Da hat sich Herr Heisinger zu mir ins Sekretariat gesetzt und dort den ganzen Tag gewartet. Es war für mich sehr belastend. Was hätte ich ihm sagen können! Auch die Kollegen konnten ihn nicht davon überzeugen, dass er besser gehen sollte.

Als wir dann abends abschließen wollten, haben Hiltrup und Stefan ihn vor die Tür gesetzt. Da fing er furchtbar an zu schreien. Keiner verstand, was er wollte. Er sprach von Außerirdischen und dass er den Befehl hatte, ihnen Berichte zu schreiben. Er drohte damit, dass er ihnen mitteilen würde, wie schlecht sie ihn hier behandelt hätten. Als das niemanden beeindruckte, fing er an, wie ein Kind zu weinen. Schließlich rief Hiltrup die Polizei, die nach einiger Zeit eintraf und Paul aufforderte, das Haus zu verlassen. Da geriet Paul in Panik. Er redete immer unverständlicheres Zeug und verlangte immerzu nach Dieter. Irgendwann führten die beiden Polizisten ihn mit sanfter Gewalt zum Auto. Der arme Mann war völlig aufgelöst.“

Dieter hörte atemlos zu.

„Heute früh hat Hiltrup noch mal mit der Polizei gesprochen und mir anschließend davon erzählt“, führte Frau Springer ihrem Bericht fort.

„Die Polizisten hatten Herrn Heisinger zum nächsten Revier gebracht, wo er weiter von seinen Außerirdischen redete, und weil ihn keiner ernst nahm, schließlich wieder ausrastete und um sich schlug. Die Herren Polizisten fühlten sich bedroht und brachten Paul in die Psychiatrie.“

Frau Springer machte eine kleine Pause. „Ich glaube, es ist richtig, dass Sie darüber Bescheid wissen, Herr Ackermann. Dieser Paul war doch so lange Ihr Klient?“

„Ja, danke Frau Springer“, antwortete Dieter mit tonloser Stimme.

Als sie aufgelegt hatte, schloss Dieter die Akten, an denen er gerade gesessen hatte, und zog sich seine Jacke an. Die Adresse des psychiatrischen Krankenhauses war ihm bekannt.

Es schüttelte ihn, wenn er sich vorstellte, dass er zu genau der Zeit, als Paul keine 100 Meter weit von ihm entfernt festgenommen worden war, ahnungslos im 5. Stock über seinen Zahlen geschwitzt hatte!

Er meldete sich als Psychologe der EWV an und verlangte, den zuständigen Arzt seines Klienten zu sprechen. Es gelang Dieter nach einem langen Gespräch mit diesem Arzt, Paul herauszuholen und halbwegs zu beruhigen.

Der Dienstweg schlägt zurück

Am nächsten Morgen – er hatte gerade erst sein neues Büro betreten – da erhielt Dieter die Aufforderung, sofort zu Kortenscheid zu kommen.

Dr. Kortenscheid ließ Dieter erst einmal warten. Als der schließlich eintreten durfte, bot Kortenscheid ihm keinen Stuhl an. Dieter stand da und wusste nicht, was auf ihn zukommen würde.

„Ein gewisser Paul Heisinger ist ihnen bekannt?“ fragte er mit einem ironischen Lächeln.

Dieter stockte der Atem. Jetzt ahnte er, was passiert war.

„Dieser Mann hat heute früh zum zweiten Mal in der Lebensberatungsstelle Ärger gemacht. Wie wir erfuhren, hatte ihn die Polizei gestern bereits in die Psychiatrie überbracht. Dort, so sagte uns die Klinikleitung , sei gestern ein Psychologe erschienen, der sich als zuständiger Berater dieses Mannes und als Mitarbeiter der EWV ausgab und es erreichte, das Paul Heisinger wieder entlassen wurde.“

Bisher hatte Kortenscheid in einem unterkühlten sachlichen Ton gesprochen. Plötzlich brüllte er Dieter an:

„Ackermann, das machen Sie nicht noch einmal! Sie haben sich in einen Fall eingemischt, mit dem Sie nichts zu tun haben. Sie haben sich als für diesen Mann zuständigen Psychologen der EWV ausgegeben. Wissen Sie, was das ist? Das ist Amtsanmaßung, Ackermann! Ich verwarne sie hiermit!“ Dr. Kortenscheid setzte seine Worte wie Peitschenhiebe. „Noch so eine Geschichte und wir lösen Ihren Vertrag auf.“

Dieter bemerkte erstaunt, dass er bei Kortenscheids wütender Ansprache innerlich auf einmal ganz ruhig geworden war.

„Ich kenne den Fall Paul Heisinger sehr gut. Der Klient ist schizophren, aber harmlos, es besteht weder Fremd- noch Eigengefahr. Allerdings gilt das nur, wenn er einen Ansprechpartner hat, dem er vertraut. Das war bis vor Kurzem ich. Und Sie verbieten mir nun, den Klienten, der sich ganz offensichtlich in einer schweren Krise befindet, zu unterstützen und für seine Interessen einzutreten? Das ist Anstiftung zu unterlassener Hilfeleistung, Herr Kortenscheid.“

Dieter machte eine Pause und sah dem verblüfften Kortenscheid offen ins Gesicht.

„Und eine Amtsanmaßung, Herr Dr. Kortenscheid, wäre es nie gewesen, wenn ich nicht durch die Verbandsleitung von meinem Arbeitsplatz verjagt und hier oben wie in einen Turm eingesperrt worden wäre.“ Dieter beobachtete mit Genugtuung, wie Kortenscheid langsam rot anlief.

Der schnappte ein paar Mal nach Luft und zischte dann:

„Erzählen Sie keinen Unsinn, Ackermann! Das ist Ihre Version. Dieser Heisinger gehört ansonsten genau dorthin, wo er jetzt auch wieder ist: in die Psychiatrie! Passen Sie bloß auf, was Sie sagen! Noch eine solche Geschichte und wir haben endgültig keine Geduld mehr mit Ihnen. Ich hoffe, wir haben uns verstanden!“

„Ich habe verstanden, was Sie mir sagen wollen“, entgegnete Dieter ruhig.

Der Chef fixierte Dieter mit einem schnellen Blick. „Die Besprechung ist beendet. Sie können gehen.“

Dieter wollte sich keine Blöße geben und hielt es noch bis 17.00 Uhr in seinem ungeliebten Büro aus. Dann endlich rannte er das Treppenhaus hinunter, stieg in seinen Wagen und fuhr los. Er parkte nach ein paar Minuten Fahrt auf einem abgelegenen Parkplatz, stellte den Motor ab und lehnte seine Stirn gegen das Lenkrad. Die Beherrschung, die er die ganze Zeit aufgebracht hatte, fiel in sich zusammen, er fühlte sich schlapp und ausgelaugt. Die innere Ruhe und die Genugtuung, die er vorhin gespürt hatte, waren verflogen.

Er glaubte, Paul zu sehen, wie der in seinem Bett saß und nicht aufhörte, von den Außerirdischen zu faseln, und zwischendurch immer wieder kleine Schreie ausstieß, wie er es machte, wenn er sich in Not glaubte. Wahrscheinlich sedierten sie ihn. Dieter hoffte nur, dass sie ihn nicht auch noch fixieren würden. Es war nicht auszudenken, was das für Paul bedeuten und in welcher tiefschwarzen Nacht sein Geist herumirren würde. Dieter hätte seine Rettung sein können, doch das war nun verspielt. Alles war verspielt.

Er sehnte sich danach, von diesem ganzen Irrsinn um sich herum erlöst zu werden. Ja, er wünschte sich plötzlich an Pauls Seite. Gerne hätte er den Abend mit Paul verbracht und mit ihm einen Text für seine Außerirdischen darüber verfasst, wie sich Verzweiflung anfühlte – oder Einsamkeit.

Und nun auch noch selbst schuld

Irgendwann fuhr er nach Hause und setzte sich stumm in seinen Sessel. Als Suse ihn ansprach, erschrak er, als wäre er sich ihrer Anwesenheit nicht bewusst gewesen.

Suse zog sich zurück. Was war passiert? Er schien nicht zu beabsichtigen, es ihr zu erzählen. Zum ersten Mal fragte sie sich ernsthaft, warum sie eigentlich immer noch bei ihm war.

Dieters hoffnungsvolle Vorsätze, etwas zu tun, um sich selbst aus dieser fürchterlichen Situation zu befreien, waren wie ausgelöscht. Seit dem Rüffel von Kortenscheid sprach Dieter mit niemandem mehr. Anrufe seiner Schwester wimmelte er ab, auf Werners Angebot, mal wieder wandern zu gehen, ging er nicht ein. Mit Suse redete er schon gar nicht mehr. Er war verzweifelt. Und er war wütend, auf alles und alle. Er kam sich selbst vor wie eine menschliche Zeitbombe. Suse ging ihm aus dem Weg.

Aber alle paar Tage besuchte Dieter Paul in der Klinik. Das konnte er noch. Und sobald Dieter da war, beruhigte Paul sich. Dieter gelang es schließlich, durchzusetzen, dass während seiner Anwesenheit Pauls Fixierung gelöst wurde – auf seine Verantwortung, wie man ihm erklärte. Diesen Menschen hatte man gebrochen. Von dem interessanten und klugen Paul war nur ein verwirrtes Häuflein Elend übriggeblieben.

An einem Vormittag, den er wie jetzt jeden Tag an seinem einsamen Schreibtisch vor dem grauen Himmelsausschnitt seines Bürofensters verbrachte, bekam Dieter Besuch von Marc. Was wollte der noch hier?

Marc sah sich bekümmert in Dieters winzigen Büro um und seufzte. „Ich wollte dich schon lange mal aufsuchen, Dieter. Mensch, das hier tut mir so leid!“

„Aha“, meinte Dieter und sah seinen ehemaligen Praktikanten böse an. Er ließ Marc stehen. Was wollte der hier?

„Du machst aber auch Sachen! Jetzt auch noch die Geschichte mit deinem Klienten! Du kannst dir keine weitere Abmahnung leisten, Dieter! Irgendwann kann ich auch nichts mehr für dich tun.“

„Was redest du da? Bist du jetzt die rechte Hand vom Chef, oder bist du noch mein gewählter Betriebsrat? Ich hätte erwartet, dass du verhinderst, dass sie mir die Arbeit unter dem Hintern wegziehen!“

Marc blickte überrascht auf. „Ich habe doch für dich gekämpft!“

Dieter starrte ihn verblüfft und verärgert an.

„Ach ja, gekämpft hast du!“

„ Hat dich denn niemand richtig darüber aufgeklärt, was damals passiert ist?“

Dieter konnte ihn nur verständnislos ansehen.

„Du weißt nicht, was dahintersteckte?“

„Ich war ihnen ein Dorn im Auge, denke ich. Ich war nicht effizient genug, stimmt’s?“, brachte Dieter gepresst heraus.

Marc sah Dieter nachdenklich an. „Du hast wahrscheinlich recht, das ist vermutlich der eigentliche Hintergrund. Aber sie meinten, sie hätten das Recht, dich zu kündigen. Ich habe mit Händen und Füßen zu retten versucht, was zu retten war. Am Ende konnte ich nur erreichen, dass du zu deinen alten Konditionen weiterbeschäftigt wirst.“

„Wieso war das schwierig? Ich habe doch einen Vertrag, bin schon lange unkündbar. Marc, das weißt du doch!“ Dieter blickte Marc zweifelnd an.

„Du hast damals deine Krankschreibung nicht an die EWV geschickt und bist vier Wochen nicht erschienen. Und obendrein hast du nicht auf die Abmahnung reagiert. Das ist leider wirklich ein Grund für eine fristlose Kündigung.“ Marc sah in Dieters entsetztes Gesicht. „Natürlich hätten sie sich denken können, was passiert war, dass du es vergessen hast oder überfordert warst. Vermutlich wollten sich dich wirklich da weghaben, wie du sagst.“

Dieter fragte kleinlaut: „Ich habe die Krankmeldung nicht weitergeschickt, wirklich?“

„Offenbar nicht. Wenigstens auf die Abmahnung hättest du aber reagieren müssen.“

„Ich habe nie eine Abmahnung erhalten!“, Dieter sah Marc verwirrt an. „Ich habe keine Abmahnung bekommen!“, wiederholte er.

„Du musst sie bekommen haben, Dieter. Sie haben mich bestellt und mir die Sachlage mitgeteilt. Sie haben mir die Abmahnung sogar gezeigt. Sie hatten vor, dich auf der Stelle zu kündigen. Selbst wenn eine fristlose Kündigung nicht durchgegangen wäre, waren sie entschlossen, dich wenigstens normal zu kündigen. Dieter, ich habe damals mit Engelszungen geredet. Schließlich kamen sie auf die Idee, dich woanders einzusetzen. Sie kamen sich dabei großartig vor – wie die guten Menschen. Ich dachte wirklich, dass man dich über diesen Hergang informiert hat.“

„Hat man nicht. Ich kam, mein Büro war besetzt und man verfrachtete mich hierher. Und jetzt höre ich von dir, dass ich auch noch selbst schuld an allem bin. Das wolltest du mir doch sagen?“ Dieters Empörung war gewichen. Seine Stimme klang wieder müde.

„Ach Dieter. In gewissem Sinne ja, aber das wäre nicht so gekommen, wenn sie dich nicht hätten loswerden wollen. Und das wollten sie. Auf jeden Fall wollten sie dich aus der Beratungsstelle haben.“

„Wenn das hier so weitergeht, werden sie mich auch ganz los, auf die eine oder andere Weise.“ Dieter klang bitter. Er starrte aus dem Fenster, ohne Marc länger anzusehen.

„Es tut mir so leid, Dieter! Aber mach keinen Scheiß, okay?“

„Lass mich in Ruhe!“, zischte Dieter. Er kniff die Augen zusammen und drehte mit seinem Stuhl Marc den Rücken zu. Er konnte nicht mehr.

Marc ging. Leise schloss er die Tür hinter sich.

Dieter schaute zu Hause in der Schublade nach, in die Suse damals die Post gelegt hatte. Er fand die Abmahnung. Er hatte es also selbst vergeigt.  Aber warum hatte Suse damals bloß einfach getan, was er ihr sagte. Hätte sie es denn nicht merken können? Er musste sich zusammenreißen, um Suse nicht die Schuld zu geben. Es war ja sein Fehler gewesen, das war ihm schon klar. Dennoch konnte er es sich nicht verkneifen, ihr bei Abendbrot zu sagen: „Du hättest diesen Brief damals nicht einfach weglegen dürfen. Jetzt haben sie mir daraus einen Strick gedreht.“

Suse sah Dieter erschrocken an. „Was meinst du, welchen Brief?“

„Ach lass es sein, du hast es ja damals schon nicht kapiert“, hörte er sich verärgert sagen.

Suse saß da wie versteinert. Erst als er schon lange vor der Glotze saß und sich mit dem 3. Bier zu betäuben versuchte, konnte sie sich erheben und den Tisch abräumen.  

Dieters Vorsatz, eine Lösung aus seiner verfahrenen Situation zu finden, sackte in sich zusammen. Er verrichtete seine gehasste Arbeit seit Marcs Besuch ohne zu klagen – stumpf, aber exakt. So ging das wochenlang.

Annerose hat Pläne

An einem ihrer freien Tage besuchte Suse mal wieder ihre Schwester. Es machte sie schon ein wenig traurig, wenn sie sah, wie glücklich Annerose inzwischen war. Aber sie hoffte, dort ein wenig Trost zu finden.

Suse staunte auch heute wieder, wie Annerose durch die neue Freundschaft mit diesem Hannes aufgeblüht war. Sie hatte ihre herben Züge verloren, kleidete sich plötzlich weiblicher und vorteilhafter und sogar die Wohnung schien von dem Wandel ihrer Besitzerin profitiert zu haben: Annerose hatte sich ein neues Sofa zugelegt und die Wände im Wohnzimmer frisch gestrichen.

Als sie sich auf dem neuen Sofa niedergelassen hatten, eröffnete Annerose ihr, dass sie ihre Arbeit gekündigt und eine Weiterbildung zur Sozialen Fachkraft angefangen hatte.

„In deinem Alter?“, fragte Suse verdattert.

„Warum nicht? Ich muss schließlich noch sieben Jahre arbeiten. Da will ich noch etwas anders tun, als alten Frauen den Hintern abzuwischen.“ Annerose lachte fröhlich. Sie ging in die Küche, um den Kaffee und den Kuchen zu holen, den sie für diesen Besuch vorbereitet hatte.

Als sie schon eine Weile bei Kaffee und Sahnetorte geplaudert hatten, sagte Annerose plötzlich: „Ach, und vielleicht gibt es bald was zu feiern, Suse.“

„Was denn?“

„Wir wollen heiraten.“

„Wer?“, fragte Suse verständnislos.

„Hannes und ich. Wir sind so gerne zusammen und es ist, als hätte ich mein ganzes Leben auf ihn gewartet.“

Suse blickte ihre große Schwester kopfschüttelnd an. So hatte sie Annerose noch nie erlebt. Sie war gerührt, aber ein bisschen nagte der Neid an ihrem Herzen.

„Übertreib nicht gleich“, amüsierte sie sich. „Und heiraten in deinem Alter? Aber gut, er ist wirklich nett. Ich fand ihn nur etwas streng.“

„Ja, streng kann er sein, da hast du recht. Aber er kann auch völlig anders sein. Ganz und gar anders …“ Annerose sah verträumt auf die Reste ihrer Torte.

„Das ist wirklich das Letzte, was ich je von dir erwartet hätte, Annerose! Ich freu mich für dich!“ Suse schluckte.

„Ich weiß, das tut dir jetzt weh, Kleine, das kann ich mir vorstellen.“ Annerose legte den Arm um ihre Schwester. „Warte nur, du hast noch so viel Zeit. Man muss einfach warten, bis der Richtige kommt.“

„Ich dachte ja, das wäre Dieter.“ Suse seufzte. Ihr kamen die Tränen.

Annerose warf ihr einen mitfühlenden Blick zu. Man sollte diesen Dieter versohlen, dachte sie böse.

„Weißt du was?“, unterbrach Annerose Suses trübe Gedanken.

„Sag schon!“ Suse wischte sich die Augen.

„Ich arbeite mit Hannes zusammen an einem Buch über das Johannisstift zur Nazizeit. Wir ergänzen uns prima. Er kennt die Fakten und ich kann Erfahrungen und Erinnerungen an Mutters Erzählungen beisteuern. Das wird ein großartiges Buch, sage ich dir.“

„Toll!“ Suse staunte. „Dass du so was kannst!“

„Habe ich auch nicht gedacht. Aber wahrscheinlich kann man viel mehr, als man denkt. Man muss es einfach mal machen.“

„Dieter hätte nie etwas gemeinsam mit mir gemacht, schon gar nichts, was ihm wichtig ist. Einmal waren wir im Urlaub, das war so schön.“ Schon wieder kamen ihr die Tränen.

„Ich würde deinem Dieter so gern in den Hintern treten, Suse!“

Suse blickte ihre große Schwester erschrocken an. Alles in ihr wollte sich noch immer schützend vor ihren geliebten Dieter stellen. Aber sie merkte plötzlich, dass da gerade in ihr drin etwas zerbrochen war. Angesichts der Freude und des Glücks von Annerose begriff sie mit einem Schlag, wie sinnlos und selbstzerstörerisch es war, bei diesem Mann auszuhalten. Bitterkeit stieg in ihr auf.

„Und was macht ihr dann mit dem Buch?“, fragte sie schnell, um nicht wieder losheulen zu müssen.

„Hannes hat schon einen Verlag gefunden, so einen kritischen, weißt du. Die sind froh, wenn Leute kritische Sachen schreiben, die zum Nachdenken anregen. Und vielleicht können wir die Herrschaften von der EWV auf diese Weise dazu zwingen, sich zu ihrer Vergangenheit zu bekennen.“

„Die müssen sich dann bei Dieter entschuldigen!“, meinte Suse mit trauriger Stimme. 

„Und bei Hannes! Das soll denen richtig wehtun, das wäre gut!“

Jetzt brach Suse doch noch in Tränen aus. Annerose starrte ihre kleine Schwester überrascht an. „Was ist los, mine Lütte? Das ist doch eher ein Grund zur Freude. Warum weinst du denn so?“

„Ich wünsche euch beiden viel Glück!“ Suse riss sich zusammen und sprang auf. „Ich muss jetzt gehen!“

„Was ist denn los mit dir?“, fragte Annerose noch einmal.

„Ich muss gehen, Annerose, jetzt und überhaupt“. Sie ergriff ihre Sachen und rannte zur Tür. Sie weinte den ganzen Heimweg. Es war ihr egal, was die Leute dachten, denen sie begegnete. Am Nachmittag räumte sie ihre Sachen in Dieters Wohnung zusammen und bestellte sich ein Taxi.

Mobbing, auch das noch!

An genau diesem Tag traf Dieter ein weiterer Schlag.

Seit etwa einer Woche hatte er gespürt, dass die Mitarbeiter noch weiter von ihm abrückten. Er konnte es sich nicht erklären, bis er beim Mittagessen, das er inzwischen einsam an einem Tisch am Rande der Kantine einnahm, von einem Mann angesprochen wurde. Es war derselbe, der ihn schon vor einiger Zeit angepöbelt hatte.

„Glaub bloß nicht, deine alten Geschichten wären unter den Kollegen nicht bekannt! Pfui Teufel, wie konntest du nur. Kannst wohl die Finger von Frauen nicht lassen, was? Kein Wunder, dass sie dir deshalb die Arbeit drüben weggenommen haben.“

Dieter starrte den Mann schockiert an. Erst nach längerem Grübeln wurde ihm klar, was gemeint sein könnte. Vor fünf oder sechs Jahren hatte eine unzufriedene Klientin Dieter beschuldigt, ihr zu nahe gekommen zu sein. An diesem Vorwurf war nichts dran gewesen, er konnte auch seine Vorgesetzten davon überzeugen. Das war seit Langem erledigt und ausgestanden, aber jetzt wurde es offenbar wieder ans Licht gezerrt.

Dieters Herz hämmerte in seiner Brust. Das war zu viel! Er war außer sich. Er ging auf der Stelle zum Chef und verlangte sofort eine öffentliche Gegendarstellung.

Dr. Kortenscheid blieb gelassen und ließ den erregten Dieter erst einmal kommentarlos in seinem Büro stehen. Als er zurückkam, hatte er eine Akte in der Hand. Die hat er in so kurzer Zeit sicher nicht aus dem Aktenkeller geholt, bemerkte Dieter bitter.

Der Chef sah Dieter prüfend an und meinte dann: „Dass man damals den Fall niedergeschlagen hat, Ackermann, das bedeutet ja nicht zwingend, dass es nicht so war.“

Dieter spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss. Er schnappte nach Luft und verlangte mit heiserer Stimme, dass sein ehemaliger Vorgesetzter Lehnert hinzugezogen wurde. Der hatte damals dafür gesorgt, dass Dieter von allen Verdächtigungen freigesprochen wurde.

Gutwillig griff Kortenscheid zum Hörer. Lehnert war gleich am anderen Ende. Der Chef erklärte dem Superintendenten, worum es ging. Dann stellte er das Telefon laut, damit Dieter mithören konnte.

„Also an diesen Vorfall erinnere ich mich nicht im Detail, aber ich weiß noch, Herr Ackermann war eigentlich immer sehr interessiert an seinen Klientinnen. Das weiß ich noch genau. Mehr, lieber Kollege, kann ich dazu nicht sagen.“

Kortenscheid legte auf und sah Dieter eindringlich an. Dieter meinte, ein unterdrücktes Lächeln zu erkennen. Er spürte, wie es ihn würgte. Er schluckte heftig.

„Vielleicht sollten Sie vorsichtiger sein, Ackermann, und nicht so einen Aufstand machen. Vielleicht fällt Ihnen die Sache sonst noch auf die Füße.“

Zutiefst verletzt schleppte Dieter sich in sein Büro. Doch es hielt ihn nicht dort. Er rief sofort bei Marc an. Aber der war gerade auf Fortbildung. Dieter stand auf und ging hinüber zu seiner alten Lebensberatungsstelle. Unterwegs begegnete er Irene, die ihn mit einem irritierten Blick ansah.

Auch die lässt mich fallen, dachte er.

Irene war stehen geblieben, wollte etwas sagen, aber er eilte an ihr vorbei.

Er betrat die Lebensberatungsstelle, wo er seit seinem Rauswurf nicht mehr gewesen war. Er suchte Friedhelm. Als Leiter der Beratungsstelle müsste der doch etwas dazu sagen können! Er fand Friedhelm in seinem Büro. Er hatte gerade keinen Klienten.

„Dieter, wie siehst du denn aus! Was ist los? Ich habe ja gehört, dass es dir da oben nicht gut geht, aber was? …“

„Sie fangen an, mich wegen eines Falls zu mobben, der viele Jahre zurückliegt“, platzte Dieter heraus. Er erzählte Friedhelm kurz den Sachverhalt.

„Niemand hat danach wieder daran gerührt in all den Jahren. Und jetzt haben sie es ausgegraben. Lehnert hat auf Nachfrage sogar gesagt, ich hätte immer ‚ein besonderes Interesse an meinen Klientinnen‘ gehabt. Damit bestärkt er den Verdacht, dieses Schwein! Dabei war er es, der mir damals aus der Patsche geholfen hat.“

„Ich war damals noch nicht hier, Dieter, aber ich hatte tatsächlich bis vor Kurzem nie davon gehört“, meinte Friedhelm nachdenklich und fuhr sich über das Kinn. „Vor wenigen Tagen hat in der Kantine auf einmal jemand davon gesprochen.“

Friedhelm stand auf. Um seinen Mund zeichnete sich plötzlich eine scharfe Linie ab und seine Augen fingen an, ein wenig zu flattern. Er beugte sie zu Dieter und sprach mit gedämpfter Stimme. „Dieter, ich glaube, ich weiß, warum sie dich rausekeln wollen. Es gibt da eine geheime Sache, die unser Träger auf Teufel komm raus verdeckt halten will. Ich glaube, das hatte auch was mit der Entlassung von Hannes zu tun. Und es geht das Gerücht um, du hättest mit ihm unter einer Decke gesteckt – ihr wart immerhin befreundet. Ich fürchte, Dieter, das war wohl der eigentliche Hintergrund für deinen Rauswurf bei uns.“

Dieter riss die Augen weit auf. Damit hatte er nicht gerechnet.

„Ich habe dir nichts erzählt, okay?“, schob Friedhelm schnell nach. „Mach damit, was du willst, ich kann es nur nicht ertragen, dass du so verzweifelt im Dunklen tappst. Wenn du klug bist, zieh hier einen Strich und fang irgendwo neu an.“

Einen Moment stand Dieter mit halb geöffnetem Mund vor Friedhelm und starrte ihn ungläubig an. Dann drehte er sich um, ging zu seinem Wagen und fuhr auf der Stelle nach Hause. Dort legte er sich hin. Gegen Abend stand er auf, um etwas zu essen, danach ging er wieder ins Bett. Erst als er am nächsten Morgen aufwachte, fiel ihm auf, dass Suse nicht da war. Er blieb liegen und starrte stundenlang an die Decke.

Am dritten Tag suchte er einen Arzt auf und ließ sich krankschreiben. Burnout. Der Arzt stellte außerdem fest, dass Dieter unter einem Magengeschwür litt. Die Krankschreibung wurde ordnungsgemäß an die EWV geschickt.

Dieter rief niemanden an und ging auch nicht ans Telefon.

Über m.s.

Ich war 18 Jahre Professorin für Soziale Arbeit an der FH Jena (Methoden, Hilfen zur Erziehung, Schulsozialarbeit). Davor war ich 18 Jahre in der Praxis. Studiert habe ich Psychologie in Münster und Soziale Arbeit in Frankfurt a.M. Bücher: Schwarzbuch Soziale Arbeit Engaging Hilfe zur Erziehung zwischen Professionalität und Kindeswohl Das kann ich nicht mehr verantworten Ambulante Hilfe zur Erziehung und Sozialraumorientierung
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