Was ist professionelle Soziale Arbeit?

Frage eines Zuhörers bei der Vorstellung meines Buches in Berlin am 4.12.25 (verdi-Veranstaltung):
O.k., das ist klar: Nicht das Sozialmanagement und die Betriebswirtschaft machen aus der Sozialen Arbeit eine Profession… aber was ist dann professionelle Soziale Arbeit wirklich?

Es kommt zunächst einmal auf den Professionsbegriff an.
Hält man die berufsstrukturelle Perspektive (sozialer Staus, Selbstregulierungskapazität und Einkommen) für die entscheidenden Kriterien für Professionalität, dann ist Soziale Arbeit in unserer Gesellshaft sicher keine Profession.

Aber es gibt eine andere Definition, die ganz andere Kriterien setzt (vgl. z.B. Heiner 2004):
Hier geht es um die Frage, ob Fachkräfte eines Berufes die angestrebten Resultate bei der Erledigung bestimmter Aufgaben erzielen und danach nach ihren beruflichen Standards handeln dürfen und können.

Unter dieser Definition wäre die Soziale Arbeit durchaus eine Profession – vorausgesetzt, dass sie es unter den neoliberalen Bedingungen  bleiben kann und soll. Es ist die Frage, ob es uns heute gelingt, nach unseren beruflichen Standards zu handen.

Etwas ausführlicher definiert z.B. Nadai ein professionelles Berufsfeld bzw. die Tätigkeit von professionellen Fachkräften anhand folgender Kriterien:

  • Einsatz von theoretischem, empirischen und Erfahrungswissen    
    Die professionellen Fachkräfte sollten zudem über die notwendigen Reflexionskompetenzen verfügen, welche ihnen zu den entsprechenden fachlichen Begründungen bzw. Erkenntnissen verhelfen. Diese sind erforderlich, um die kommenden Interventionen erarbeiten und angemessen durchführen zu können.
  • Keine Standardisierbarkeit     
    Der Gegenstand einer Profession ist komplex, systemisch und ganzheitlich organisiert. Die professionelle Fachkraft versucht der Komplexität des Gegenstandes selbst, aber auch der Komplexität der Problemsituation gerecht zu werden und die Fakten weder zu vereinfachen noch sich auf Ausschnitte zu beschränken.
  • Autonomie der professionellen Entscheidung und die Fähigkeit, diese zu begründen.
    Der Umgang mit diesen Komplexitäten setzt Fachkenntnisse voraus und einen flexiblen, wissenschaftlich orientierten und der Situation jeweils angemessenen Umgang mit komplexen Sachverhalten. Da eine Bearbeitung durch Routinen hier nicht möglich ist, ohne wesentliche Aspekte außer Acht zu lassen, bedarf es der Autonomie der professionellen Entscheidungen. Als Profession kann und muss Soziale Arbeit ihre Handlungsschritte und fachlichen Entscheidungen selbständig entwickeln und verantworten.
  • Handlungszwang erfordert die professionelle Kunst, unter Zeitdruck und in der Diffusität der Handlungssituation die richtigen Entscheidungen treffen zu können. Da das Risiko falscher Entscheidungen nicht ausgeschlossen werden kann, besteht die unbedingte Verpflichtung zur – zumindest nachträglichen – Begründung einer Entscheidung.

Nun kann man fragen: Ist Soziale Arbeit nach diesen Kriterien eine Profession?

  • Antwort:
  • Diese Kriterien erfüllt die Soziale Arbeit dann, wenn sie in die Lage versetzt wird, autonom über ihre Entscheidungen und Handlungswege zu entscheiden.
    Ob dies allerdings heute zu Zeiten der neoliberalen Transformation so noch ist, ob es noch gewollt ist und ob die SozialarbeiterInnen es überhaupt noch können und für ihre Aufgabe halten, das muss man sich ernsthaft fragen.
  • Aber, so wie die professionelle Soziale Arbeit sich selbst bisher sieht und gesehen hat, erfüllt sie diese Kriterien:
    • Durch ihr wissenschaftliches Studium haben die Fachkräfte die theoretischen, empirischen Grundlagen erlernt und in der eigenen Praxis wird dieses Wissen durch die eigenen Erfahrungen bereichert und konkretisiert.
  • Erlernt haben sollten sie ebenfalls die Fähigkeit, selbständig in komplexen Situationen auf dem Hintergrund ihres Wissens und ihrer analytischen Erkenntnisse differenzierte und der Situation und dem konkreten Fall angemessene Handlungsschritte herzuleiten und in einer flexiblen und reflektierenden Weise umzusetzen.
  • Sie sollten in der Lage sein, ihre Entscheidungen fachlich zu begründen und verantwortlich durchzuführen. Sie müssen begründen können, warum sie etwas tun und warum sie es genauso tun.
  • Da es sich um eine Tätigkeit handelt, die quasi im Lebensprozess ihrer Klientel abläuft und in diesen integriert ist (keine Schreibtischentscheidungen wie sie etwa in der Verwaltung vollzogen werden und auch keine Gewinnung allgemeiner Erkenntnisse wie in wissenschaftlichen Berufen), müssen sie in der Lage sein, trotz Handlungszwang und Zeitdruck ihr professionelles Handeln aufrechtzuerhalten. Diese Kompetenz wird in der praktischen Erfahrung unter Begleitung einer hohen Reflexivität angeeignet.  
  • Das bedeutet:
  • Unprofessionell handelt eine Sozialarbeiterin z.B.
    • Wenn sie wissenschaftliche Hintergründe missachtet oder außen vor lässt.
    • Wenn sie nicht fachlich begründen kann, warum sie etwas genau so tut.
    • Wenn sie vor der Komplexität kapituliert und Standardisierungen vorzieht, statt sich selbst Gedanken zu machen und passgenaue Pläne zu entwickeln.
    • Wenn sie Fälle über einen Kamm schert und die Einzigartigkeit der Menschen und der Fälle nicht berücksichtigt.
    • Wenn sie nicht in der Lage ist, eigenständige fallspezifische Entscheidungen abzuleiten.
    • Wenn der unvermeidlich Handlungszwang bei ihr dazu führt, dass ihr Handeln zufällig wird oder anderen als den professionellen Kriterien folgt. Wenn sie im Handlungszwang die Kontrolle über ihr Handeln verliert und zufällig zu handeln beginnt, ohne später sagen zu können, warum sie so gehandelt hat bzw.. wie ihr Handeln zu bewerten ist
    • Wenn sie immer ein und dieselbe bzw. nur wenige Methoden anwendet, ohne Prüfung, ob diese Methode im konkreten Fall greifen kann und angebracht ist.

Zu beachten ist, dass viele dieser hier geschilderten problematischen Verhaltensweisen und Haltungen von SozialarbeiterInnen von einer gewandelten neoliberalisierten Sozialen Arbeit voll unterstützt, ja geradezu herausgefordert und belohnt werden.

Dass SozialarbeiterInnen mit einem unzureichenden Professionsverständnis der neoliberalen Versuchung nicht widerstehen können, den einfachen, standardisierten Weg zu wählen und erleichtert die Komplexität außer Acht lassen, ist gut vorstellbar.

Die kritische Soziale Arbeit kämpft mit den neoliberalen Erwartungen und Zumutungen. Aber gleichzeitig muss die Profession auch noch einen anderen Kampf gewinnen: Sie muss es schaffen, dass die SozialarbeiterInnen sich des fachlichen Anspruches ihrer Profession, der fachlichen Autonomie der Sozialen Arbeit und ihrer gesellschaftlichen Verantwortung, ihrer Leistungsfähigkeit und auch ihrer Alleinstellungsmerkmale bewusst werden, und damit einen entsprechenden Perspektivwechsel vollziehen.

Jede VertreterIn der Sozialen Arbeit, die die eigene Profession nicht wirklich schätzt und für minderwertig hält, ist ein Stoß in den Rücken unserer Fachlichkeit. Solche, die sich schämen, dass sie es „nur bis zur SozialarbeiterIn gebracht haben“, können außerdem nur zu leicht dazu verführt werden, sich von der Sozialen Arbeit abzuwenden, sie umzudeuten und dann im Rahmen der gewendeten Sozialen Arbeit des Aktivierenden Staates etwas zu tun, was mehr anerkannt wird, was aber keine professionelle Soziale Arbeit mehr ist.

Und jede KollegIn, die sich als Sozialarbeitende unsicher, abgewertet oder nicht respektiert fühlt, findet nicht den Mut in dieser gewendeten Praxiswelt zur Fachlichkeit zu stehen. Diejenigen, welche sich der fachlichen Bedeutung ihrer Arbeit gar nicht bewusst sind, sehen (im Sinne von „erkennen“) keinen Anlass, sich den fachlichen Verwerfungen entgegenzustellen.

Denn:
Ein selbstbewusstes und selbstsicheres Professionsverständnis macht stark gegen neoliberale Beeinflussung

Über m.s.

Ich war 18 Jahre Professorin für Soziale Arbeit an der FH Jena (Methoden, Hilfen zur Erziehung, Schulsozialarbeit). Davor war ich 18 Jahre in der Praxis. Studiert habe ich Psychologie in Münster und Soziale Arbeit in Frankfurt a.M. Bücher: Schwarzbuch Soziale Arbeit Engaging Hilfe zur Erziehung zwischen Professionalität und Kindeswohl Das kann ich nicht mehr verantworten Ambulante Hilfe zur Erziehung und Sozialraumorientierung
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