Beispiel 9:
Wie die Jugendarbeit für Kinder und Jugendliche aus sozial benachteiligten Milieus durch grobe Vernachlässigung sehenden Auges vor die Wandgefahren wird und die Gesellschaft zusieht, wie Kinder und Jugendliche vor die Hunde gehen.
(Berliner Zeitung 2023)
Ausschnitte aus einem Interview mit dem Mitarbeiter (44 Jahre) eines Jugendzentrums in einem größeren, sozial belasteten Wohngebiet in Berlin, veröffentlicht 2023 in der Berliner Zeitung unter dem Titel „Sorge um Jugendliche in Marzahn-Hellersdorf: Wir haben immer mehr Kinder, die sich selbst verletzen.“
„Den Kindern und Jugendlichen in Berlin scheint es zunehmend nicht gut zu gehen. Einiges deutet darauf hin: Sei es die Zunahme von Jugendgewalt oder psychischen Erkrankungen, seien es Krawalle wie an Silvester, als Teenager Brandsätze auf Polizisten und Feuerwehrleute warfen und eine ganze Stadt sich fragte, wie das passieren konnte. Die Jugendlichen leiden unter einer massiven Perspektivlosigkeit, unter körperlicher Verwahrlosung sowie an sexuellen Übergriffen. Es gibt nicht selten Suizidgedanken unter ihnen. Aber wir im Jugendzentrum können oft nur noch eine Notversorgung leisten.
Die meisten der Kinder wohnen hier in den Plattenbauten, etwa die Hälfte hat einen Migrationshintergrund. Die Eltern sind oft Empfänger von Bürgergeld, Studenten und Geflüchtete. Ansonsten sind sie sehr verschieden. Und sie kommen nicht nur aus sogenannten Problemfamilien.
Was aber auffällt, ist, dass es immer häufiger Kinder gibt, die nicht mehr nach Hause wollen, weil sie Angst haben, sich dort nicht wohlzufühlen.
Eigentlich müssten hier fünf ausgebildete Vollzeitkräfte arbeiten. So sieht es das Jugendamt für eine Einrichtung dieser Größe vor. Im nächsten Doppelhaushalt für Berlin sind aber nur Mittel bewilligt, die bei uns für drei Stellen reichen. Wir versuchen das auszugleichen, aber es reicht nicht. Es kommen gleichzeitig immer mehr Kinder zu uns.
Ich denke, wir kriegen jetzt erst mit, was die Corona-Pandemie eigentlich bewirkt hat. Wir haben Drittklässler, die können nicht richtig schreiben. Wir haben Zweitklässler, die können nicht richtig sprechen.“
Wir würden gerne jeden Tag Hausaufgabenhilfe anbieten, aber auch das können wir nicht. Wir haben auffällig viele Kinder, die sich selbst verletzen, sich ritzen oder draußen so lange gegen Gegenstände schlagen, bis ihre Hand blutet. Und die erzählen, dass sie nicht wissen, was sie mit ihrem Leben anfangen sollen, wo in diesem Leben ihr Platz ist. Auch das nimmt leider zu. Aber woran das liegt, können wir leider auch nur erfahren, wenn wir den Raum und das Personal dafür haben, um zum Beispiel öfter eine Gesprächsrunde speziell für solche Themen anzubieten.
Ich merke aber: Wenn Kinder fünf, sechs Jahre lang zu uns kommen, dann sind sie nicht mehr so. Weil sie hier lernen, über ihre Bedürfnisse zu sprechen und ihre Talente entdecken. Tanzen zum Beispiel oder Theater: Das können sie hier ausleben, anstatt auf der Straße Randale zu machen, Ärger mit der Polizei und Stress mit den Eltern zu bekommen.
Vor kurzem haben mehr als 70 Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen Alarm geschlagen und mehr finanzielle Unterstützung gefordert. Die Leute wundern sich immer, warum es so viele Gewaltexzesse unter Jugendlichen gibt, gleichzeitig gewährt man der Jugendhilfe zu wenig Mittel. Ich frage mich: Was denkt ihr eigentlich, wo die Prävention stattfindet? Wenn man keine Gewalt an Silvester will, dann muss man auch kontinuierlich etwas dafür tun.“