Neoliberalismus- Schnee von gestern?

Wie kann man denn heute noch über den Neoliberalismus schreiben? Der liegt doch schon hinter uns. Wir haben inzwischen eine neue Phase, den Post-Neoliberalismus“, so schrieb man mir.
Ist das so?

Sicherlich, inzwischen gibt es Themen und Tendenzen – auch und gerade in der Sozialen Arbeit – , die in ihrer krassen Form in meinem Buch noch nicht vorkommen oder nur am Rande erwähnt werden. Ich denke dabei an die neuen, autoritären Strukturen innerhalb der Gesellschaft, ausgehend von den Herrschenden aber weitgehend auch übernommen von Teilen der Bevölkerung und der KollegInnen.              
Dies ist meines Erachtens aber nicht etwas Neues, eine Ideologie sozusagen nach dem Neoliberalismus. Dies alles ist nichts anderes als seine konsequente Fortsetzung der neoliberalen Ideologie.

Der Neoliberalismus wird von vielen nur als wirtschaftliche Produktionsweise angesehen, als rein ökonomisches Phänomen, dass unser Leben ansonsten nicht weiter tangiert. So sehen sehr viele SozialarbeiterInnen die ökonomischen Strukturen der Neuen Steuerung als vielleicht lästig, aber ansonsten nicht wirklich prägend an.
Tatsächlich ist der Neoliberalismus die aktuelle und weiterentwickelte Form des kapitalistischen Wirtschaftssystems. Im Unterschied etwa zur Phase des Fordismus und des Spätfordismus unterwirft er aber in einem sehr viel höheren und konsequenteren Maße nicht nur die eigentlichen wirtschaftlichen Produktionsprozesse seinem Waren- und Profitdiktat, sondern gnadenlos auch die Menschen selbst und alle gesellschaftlichen Aspekte der menschlichen Gesellschaft . Er versucht, die Menschen in die Funktionen von SelbstunternehmerInnen und Waren hineinzupressen und ist an den menschlichen Bedürfnissen und Beziehungen nicht interessiert, wenn sie nicht seinen Interessen entgegenkommen.
Für die Soziale Arbeit bedeutet das, dass ein Verständnis Sozialer Arbeit als eine Profession, die Menschen bei der Bewältigung ihres Lebens unterstützen will und sich insbesondere um diejenigen kümmern will, die gesellschaftliche Benachteiligung erfahren, den neoliberalen Interessen nicht nur im Wege steht, sondern sie infrage stellt.

In der Sozialen Arbeit wie insgesamt in unserer Gesellschaft vollzieht sich im Rahmen der neoliberalen ideologischen Beeinflussung seit langem eine Entwicklung, die gekennzeichnet ist durch eine bewusst forcierte Individualisierung, durch die Abwertung bisheriger Werte und Erfahrungen, durch die Ideologie vom unabdingbaren Fortschritt durch alles „Moderne“, durch die Abwertung sozialer Nähe und Solidarität , die Gewöhnung an Gewalt, die Einschränkung der Meinungsfreiheit, die Verteuflung von Kritik und jeder Abweichung vom Mainstream und von Zivilcourage etc. Das aber hat die Menschen für gegenwärtige scheinbar „neuen“ Tendenzen empfänglich gemacht und lähmt ihre Bereitschaft, sich zu wehren:

Die sich zunehmend entwickelnde Gewöhnung der Bevölkerung an autoritäre Strukturen, an Pseudowahrheiten und die Förderung ständiger Ängste und Befürchtungen stellen dabei eine Fortsetzung der bisherigen neoliberalen ideologischen „Umerziehung“ der Menschen dar. Diese Tendenzen sind nicht etwas Anderes oder Neues. Ich möchte darauf hinweisen, dass es der Neoliberalismus ist, der diese Erscheinungen erst möglich gemacht, sie vorbereitet hat. Sie liegen in seinem Interesse.


Neoliberalismus wird meiner Erfahrung nach von den meisten als harmlose Sache angesehen. Vielleicht, weil der Begriff „liberal“ enthalten ist, und man damit vielleicht nichts Negatives verbinden kann. Er verspricht ja auch – und das immer noch – Freiheit . Und wer will die nicht?

Patrick Schreiner (2018) beschreibt in seinem Buch „Leben im Neoliberalismus – Unterwerfung als Freiheit“ wie sich der Neoliberalismus weit über Politik und Wirtschaft hinaus im Alltagsleben verankert hat. „Neoliberale Gedanken, neoliberale Moral und neoliberales Handeln sind in Bereichen präsent, in denen sie gar nicht als solche wahrgenommen werden. Sie gelten als selbstverständlich, als normal, werden oft sogar als etwas Positives verstanden – als etwas, das sich einfach gut und richtig anfühlt. Mit Politik, mit Interessengegensätzen, mit sozialen Konflikten scheint der Neoliberalismus in unserem Alltag nichts zu tun zu haben. Auch ist der Neoliberalismus zu komplex, als dass man ihn pauschal als autoritär und unterdrückend ansehen könnte.… Neoliberalismus ist eine Ideologie, die Freiheit verspricht, aber Unterwerfung verlangt.“ Die Wirkmächtigkeit dieser »alltäglichen« Erscheinungsformen des Neoliberalismus gründet gerade darin, dass sie nicht autoritär sind. Vielmehr steuert sie die Menschen durch deren eigenen Willen und deren eigene Vorlieben, sodass die Unterwerfung unter die neoliberalen Prinzipien als Freiheit erlebt werden kann. Und das funktioniert durch den „vermeintlichen Segen der negativen Freiheit“. Die Freiheit des Neoliberalismus ist eine Freiheit innerhalb klarer Grenzen. Wer diese Grenzen nicht sieht oder nicht sehen will, hat den Eindruck in einer Welt unendlicher Möglichkeiten und Chancen zu leben. Aber diese Freiheit ist nicht die Freiheit, eine andere Meinung zu vertreten, sich den neoliberalen Avancen zu verweigern, Werte hochzuhalten, die der Neoliberalismus auf den historischen Abfallhaufen geworfen hat.

Der Neoliberalismus sieht infolge der neoliberalen Ideologie den einzelnen Menschen ganz für sich, losgelöst und „frei“ von sozialen Bindungen und gesellschaftlichen Beeinflussungen. „Von strukturellen Faktoren entkoppelt wird das Leben zum individuellen Projekt“ (Spetsmann-Kunkel 2016, S. 8). Damit wird dem menschlichen Individuum eine übergroße Bedeutung und im Rahmen seiner „Freiheit“ ein grenzenloser Zuwachs an Macht und Möglichkeiten zugesprochen. Der auf diese Weise entstehende Verlust an sozialen Stützen, Sicherungen und Hilfenetzwerken wird dabei nicht weiter beachtet.

Das Individuum wird im Neoliberalismus zum Selbstunternehmer. Es liegt damit angeblich ganz allein an ihm selbst, wie er sein Leben steuert und ausrichtet, ob er Chancen nutzt oder nicht. Dass diese Chancen gesellschaftlich gerahmt und begrenzt werden, wird nicht in den Blick genommen. Die Zuschreibung der Rolle des Selbstunternehmers setzt das Individuum von gesellschaftlichen Unterstützungen und Solidarität frei und verheizt es im ständigen Versuch, mehr vom großen Kuchen zu bekommen, immer im Glauben, die absolute Freiheit zu genießen. Probleme, Benachteiligungen, Beeinträchtigungen, Armut, Arbeitslosigkeit, Krankheit… all das sind nunmehr Folgen des eigenen Versagens und eines schlechten Marketings des eigenen Lebens.

Somit hat der Neoliberalismus durchgreifende Folgen für das herrschende Menschen- und Gesellschaftsbild insgesamt. Der Mensch dient nur mehr der Mehrung des gesellschaftlichen Reichtums, er ist ein Rädchen im Marktbetrieb. Es geht nicht mehr um das Wohl der Menschen sondern um ihre Effizienz. Für die Soziale Arbeit, ihre Zielsetzungen, ihre Vorgehensweisen, ihren Umgang mit der Klientel hat das massive Folgen.

Diese Erkenntnis dieser Zusammenhänge ist leider nicht weit verbreitet und wird auch nicht oder selten offen vertreten. Die Illusion, der Neoliberalismus wäre für die Soziale Arbeit nicht wesentlich bestimmend, ist eine gefährliche Illusion, ein Irrtum. Dieser Irrtum aber ist systemgewollt und lenkt ab von den eigentlichen Folgen und Absichten dieser Ideologie.

In der Sozialen Arbeit spiegelt sich ziemlich genau wieder, was gesamtgesellschaftlich derzeit passiert. Und auch hier verhält sich die Mehrheit der SozialarbeiterInnen wie die Mehrheit der Bevölkerung: Sie stöhnen unter den Lasten der unsozialen Politik. Aber sie sehen nicht die Verursacher oder wollen sie nicht sehen. Sie schauen weg, wenn die Steuergelder für Ziele und Themen verwendet werden, die nicht der Bevölkerung nutzen, sondern sie durch Schuldenberge und angestrebte Kriege eher ins Unglück stürzen werden. Vielmehr rechnen sie die schon längst bestehenden und ebenso die noch drohenden Probleme – wie von oben vorgemacht und erwünscht – einer rechten Partei an, die sie als faschistisch bezeichnen.       
Sie sind blind geworden für die eigentlichen Probleme und folgen bereitwillig der Aufforderung, sich gemeinsam mit den Herrschenden und unerbittlich gegen einen absoluten alles bedrohenden Feind zu wenden, der ihnen als Ablenkungsmanöver vor die Nase gehalten wird – ohne zu prüfen, ob ihre Vorstellungen der Realität entsprechen.

Der Neoliberalismus maßt sich an, Wahrheiten zu setzen, wie es ihm passt. Und er hat schon lange dafür gesorgt, dass die Menschen bereitwillig seine „Wahrheiten“ schlucken.

Über m.s.

Ich war 18 Jahre Professorin für Soziale Arbeit an der FH Jena (Methoden, Hilfen zur Erziehung, Schulsozialarbeit). Davor war ich 18 Jahre in der Praxis. Studiert habe ich Psychologie in Münster und Soziale Arbeit in Frankfurt a.M. Bücher: Schwarzbuch Soziale Arbeit Engaging Hilfe zur Erziehung zwischen Professionalität und Kindeswohl Das kann ich nicht mehr verantworten Ambulante Hilfe zur Erziehung und Sozialraumorientierung
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