Ein Freund fragte mich neulich, welche Erfahrungen ich denn machen würde mit meinem Buch? Kommt deine Botschaft an? Wird sie aufgegriffen? Wird sie ernst genommen? Und führt sie dazu, dass KollegInnen einen anderen, neuen Blick auf ihre Praxis und überhaupt auf die Lage der Sozialen Arbeit bekommen?
Hier unser Gespräch:
Natürlich habe ich nicht erwartet, dass mein Buch zu explosionsartigen Veränderungen führen würde. Ich habe nicht einmal das erwartet, was ich vor 13 Jahren nach Veröffentlichung des Schwarzbuches erlebt habe, nämlich dass mich eine Zeit lang fast täglich neue Mails erreichten von PraktikerInnen, die sich freuten: “Endlich spricht einmal jemand das aus, was uns die ganze Zeit schon belastet und unsere Arbeit so sehr erschwert“. Schließlich hat sich in diesen Jahren einiges verändert und ich fürchte, dass der Neoliberalisierungsprozess inzwischen weit fortgeschritten ist- allerdings ohne, dass es von den meisten zur Kenntnis genommen wird.“
Wie haben SozialarbeiterInnen dieses Mal reagiert?
Etliche, vor allem KollegInnen, insbesondere KollegInnen meiner Generation haben mir geschrieben, dass sie es toll fänden, wie sehr ich mich für die Belange unserer Profession engagiere. Etliche haben angekündigt, Sie würden mir demnächst mehr schreiben, wenn sie das Buch gelesen hätten. Nur vereinzelt kam dann später noch eine Rückmeldung.
Von PraktikerInnen habe ich noch wenig gehört.
Wie erklärst du dir das?
Ich fürchte, das Buch ist ihnen einfach zu dick. Die meisten PraktikerInnen geben zu, dass sie zuletzt für ihren Bachelor oder die Masterarbeit Fachliteratur gelesen haben.
Ansonsten glaube ich, dass die Botschaften des Buches für die meisten LeserInnen einfach zu unangenehm und zu provozierend sind. Letztlich habe ich ja heftig Kritik an der derzeitigen Profession und an ihrer Lethargie, was die politischen Themen betrifft geübt. Wer kann es schon gut ertragen, wenn man kritisiert wird. Wahrscheinlich erwarten die LeserInnen eher entlastende Schuldzuschreibungen an irgendwelche externen Ursachen oder hoffnungsvolle, motivierende Ratschläge, wie man die Lage gut und einfach verbessern kann.
Ich laste die prekäre Entwicklung unserer Profession ja nicht den SozialarbeiterInnen selbst an, sondern zeige eigentlich sehr deutlich, wo die Schuldigen, wo die eigentlichen Hintergründe zu suchen sind. Aber gleichzeitig stelle ich klar, dass auf die Profession und ihre verschiedenen VertreterInnen die Verantwortung dafür zukommt, ob sie selbst diese Bedingungen problemlos hinnimmt, sich einfach anpasst oder aber im Interesse der Profession und der KlientInnen, für die sie zuständig ist, gegen diejenigen Entwicklungen Widerspruch und Widerstand leistet, die ihrer eigenen professionellen Ethik und Konzeption widersprechen.
Knallharte Verschärfungen für Grundsicherungsempfänger vorgesehen
Das Arbeitsministerium von Ministerin Bärbel Bas (SPD) arbeitet im Auftrag der Regierungskoalition gerade an einer Reform des Bürgergelds. Für die zukünftigen Grundsicherungsempfänger wird es wohl ungemütlich.
Die Bundesregierung macht Ernst mit der angekündigten Bürgergeldreform. Ein Referentenentwurf aus dem Bundesarbeitsministerium liegt vor – und sieht deutlich härtere Regeln vor als bisher kommuniziert.
Das Bürgergeld hat ausgedient. Die Bundesregierung treibt ihre geplante Sozialreform voran und hat einen Gesetzentwurf zur Abschaffung des umstrittenen Systems – das künftig Grundsicherung heißen soll – fertiggestellt. Der „Zeit“ liegt der 94-seitige Referentenentwurf aus dem SPD-geführten Bundesarbeitsministerium vor welcher bereits zur Ressortabstimmung weitergeleitet wurde.
Die geplanten Verschärfungen gehen dabei weiter, als von den Koalitionsspitzen bisher öffentlich kommuniziert wurde. Generell soll die Grundsicherung künftig fordernder werden, Sanktionen schneller greifen und vorhandenes Vermögen sofort geprüft werden. An die zukünftigen Grundsicherungsempfänger sollen Maßstäbe angelegt werden, die schon in der normalen Bevölkerung kaum umgesetzt werden.
Mietpreisbremse wird zur Pflicht
Besonders brisant sind die neuen Regelungen für Wohnkosten. Grundsicherungsbezieher müssen künftig ihre Vermieter wegen Verstößen gegen die Mietpreisbremse rügen und dies dem Jobcenter nachweisen. Wer dem nicht nachkommt, kann die üblichen Übergangsregeln zur Anerkennung unangemessener Kosten nicht mehr in Anspruch nehmen. Im schlimmsten Fall droht die Streichung der Mietkostenübernahme und der Verlust der Wohnung.
perfekte neoliberale Inszenierung: Statt dass der Staat diejenigen in die Schranken weist, die die Mietpreisbremse nicht einhalten, wird dem Einzelnen Mieter die Last aufgebürdet, den Vermieter zur Rechenschaft zu ziehen. Wenn er der Aufgabe nicht nachkommt, ist er dann eben selbst schuld, wenn bei ihm die Mietkostenübernahme gestrichen wird. Er hätte sich ja kümmern können…….
Wie die „Zeit“ weiter schreibt, nutzen laut Mietervereinen schon jetzt weniger als fünf Prozent der Mieter in Deutschland die Möglichkeit zur Rüge bei überzogenen Mietpreisen. Für viele sind die formalen Voraussetzungen zu hoch oder die Angst, die Wohnung zu verlieren, zu groß. Von Grundsicherungsbeziehern soll dies allerdings zukünftig verlangt werden.
Das Jobcenter kann nach einer formellen Rüge dann unmittelbar eine Kostensenkung verlangen – bis hin zum Umzug. Liegt die vereinbarte Miete über der zulässigen Höhe, droht der Verlust der staatlichen Unterstützung. Sozialpolitikforscher und Sozialverbände warnen bereits vor mehr Wohnungslosigkeit durch diese Verschärfung.
Kontrollen für psychisch Erkrankte
Menschen mit psychischen Erkrankungen sollen künftig strenger kontrolliert werden. Sie müssen persönlich beim Jobcenter vorsprechen, damit geprüft werden kann, ob sie wirklich psychisch krank sind. Diese Regelung könnte problematisch werden: Mehr als ein Drittel der Leistungsberechtigten erhält im Laufe eines Jahres eine psychiatrische Diagnose, wie die „Zeit“ unter Verweis auf Studien schreibt.
Bei einem Vortrag über mein neues Buch wurde mir die Frage gestellt, welche Rolle eigentlich die Träger im Prozess der Transformation der Sozialen Arbeit einnehmen und ob von ihnen etwas erwartet werden kann, was dieser Transformation Widerstand entgegensetzt.
Es war aufgefallen, dass ich bei der Frage danach, wer etwas bewirken und tun könne in Richtung Widerstand gegen eine fortschreitende Neoliberalisierung, die Träger kaum erwähnt habe. Das ist durchaus richtig beobachtet. Von den Trägern erwarte ich am wenigsten, und das hat seine Gründe:
Die freien Träger sind durch die Neue Steuerung in eine grundsätzlich neue Rolle geraten: Sie sind nur mehr abhängige Dienstleister.
In meinem Buch erkläre ich die Situation folgendermaßen: „Zum einen entwickelte sich ihr Status zu dem eines „reinen Leistungsträgers“, der vom Gewährleistungsträger dominiert und zur Einhaltung der von ihm diktierten betriebswirtschaftlichen Verfahrensweisen gezwungen wird. … Es entstand ein neues Verständnis von „Subsidiarität“, in welchem die Anbieter sozialer Dienstleistungen zu unselbstständigen Akteuren wurden, die allein in ihrer Funktion zur Erbringung sozialer Dienstleistungen in Anspruch genommen werden. Der einzelne Träger steht, wenn es um die Frage geht, wer den Zuspruch für ein Projekt oder eine bestimmte Aufgabe erhält, in Konkurrenz zu anderen Anbietern, die ebenfalls ihre Ware verkaufen, und die von daher ein Interesse daran haben müssen, ihre Ware möglichst günstig anzubieten und möglichst noch günstiger zu produzieren. Unter dem Primat der Effizienz und unter den Bedingungen des sozialen Pseudomarktes sind dabei fachliche Belange von sekundärer Natur und werden von den Erfordernissen des Überlebens der Träger auf dem Markt mehr und mehr an den Rand gedrängt.“ Galuske bemerkte schon vor Jahren (2002, S. 328): „Wo früher über Kinder und Jugendliche nachgedacht wurde, werden jetzt der Kunde hofiert, der Markt analysiert, Werbung betrieben, Konkurrenz beobachtet, Kosten gesenkt usw.“
Gleichzeitig – parallel zu ihrer Rolle als abhängige Dienstleistende – kommen die erbringenden Träger zwangsläufig in die Rolle von Unternehmern, die ihre „Produkte“ am Markt anbieten müssen. Als Unternehmer müssen sie jetzt ein unternehmerisches Risiko tragen. Laut Hagn (2017, S. 83) sind die meisten Träger der Sozialen Arbeit inzwischen „wirtschaftliche Unternehmen geworden, die unter dem Druck der bedingungslosen Effizienz und permanenter Kostenersparnis stehen“. Ihre „Betriebe“ müssen sich rechnen. Deshalb können sie nur da investieren, wo es sich finanziell lohnt. Der Gewinn (bei gewerblichen Trägern) und der Überschuss bei den freien Trägern stehen im Mittelpunkt des Interesses. Es geht tendenziell nur noch um Geld.
Selbstfürsorge seht hoch im Kurs. PraktikerInnen reißen sich um entsprechende Fortbildungen und Weiterbildungen. Die Lehre und die Wissenschaft hält die Selbstfürsorge für ein probates und wichtiges Rezept, um die Strapazen und Herausforderungen der Praxis gut zu überstehen.
Dass die Soziale Arbeit einer der Berufsbereiche mit der höchsten burnout-Quote ist, ist hinlänglich bekannt. Befragungen ergaben und ergeben immer wieder und mehr denn je, dass die KollegInnen den Beruf der SozialarbeiterIn als sehr belastend und anstrengend erleben. In meiner Befragung von 109 SozialarbeiterInnen als allen nur möglichen Arbeitsfeldern waren % der Meinung, dass sie diesen Beruf deshalb wohl kaum bis zur ihrer Rente durchhalten können.
Die meisten VertreterInnen der Disziplin, die sich mit der angespannten Lage in der Praxis befassen, stellen Anregungen im Sinne von Resilienz und Selbstsorge in den Mittelpunkt ihrer Empfehlungen. Es geht ihnen darum, die bestehenden Belastungen auf individuelle und psychologische Weise zu reduzieren. Die professionelle Selbstfürsorge soll die vorhandenen und belastenden Widersprüche für den Einzelnen erträglich machen. Die so oft empfohlene „professionelle Selbstfürsorge“ erweckt die Illusion, die vorhandenen Probleme und Widersprüche selbst lösen zu können und verwischt auf diese Weise die wirklichen Hintergründe.
„Wie kann man denn heute noch über den Neoliberalismus schreiben? Der liegt doch schon hinter uns. Wir haben inzwischen eine neue Phase, den Post-Neoliberalismus“, so schrieb man mir. Ist das so?
Sicherlich, inzwischen gibt es Themen und Tendenzen – auch und gerade in der Sozialen Arbeit – , die in ihrer krassen Form in meinem Buch noch nicht vorkommen oder nur am Rande erwähnt werden. Ich denke dabei an die neuen, autoritären Strukturen innerhalb der Gesellschaft, ausgehend von den Herrschenden aber weitgehend auch übernommen von Teilen der Bevölkerung und der KollegInnen. Dies ist meines Erachtens aber nicht etwas Neues, eine Ideologie sozusagen nach dem Neoliberalismus. Dies alles ist nichts anderes als seine konsequente Fortsetzung der neoliberalen Ideologie.
Der Neoliberalismus wird von vielen nur als wirtschaftliche Produktionsweise angesehen, als rein ökonomisches Phänomen, dass unser Leben ansonsten nicht weiter tangiert. So sehen sehr viele SozialarbeiterInnen die ökonomischen Strukturen der Neuen Steuerung als vielleicht lästig, aber ansonsten nicht wirklich prägend an. Tatsächlich ist der Neoliberalismus die aktuelle und weiterentwickelte Form des kapitalistischen Wirtschaftssystems. Im Unterschied etwa zur Phase des Fordismus und des Spätfordismus unterwirft er aber in einem sehr viel höheren und konsequenteren Maße nicht nur die eigentlichen wirtschaftlichen Produktionsprozesse seinem Waren- und Profitdiktat, sondern gnadenlos auch die Menschen selbst und alle gesellschaftlichen Aspekte der menschlichen Gesellschaft . Er versucht, die Menschen in die Funktionen von SelbstunternehmerInnen und Waren hineinzupressen und ist an den menschlichen Bedürfnissen und Beziehungen nicht interessiert, wenn sie nicht seinen Interessen entgegenkommen. Für die Soziale Arbeit bedeutet das, dass ein Verständnis Sozialer Arbeit als eine Profession, die Menschen bei der Bewältigung ihres Lebens unterstützen will und sich insbesondere um diejenigen kümmern will, die gesellschaftliche Benachteiligung erfahren, den neoliberalen Interessen nicht nur im Wege steht, sondern sie infrage stellt.
In der Sozialen Arbeit wie insgesamt in unserer Gesellschaft vollzieht sich im Rahmen der neoliberalen ideologischen Beeinflussung seit langem eine Entwicklung, die gekennzeichnet ist durch eine bewusst forcierte Individualisierung, durch die Abwertung bisheriger Werte und Erfahrungen, durch die Ideologie vom unabdingbaren Fortschritt durch alles „Moderne“, durch die Abwertung sozialer Nähe und Solidarität , die Gewöhnung an Gewalt, die Einschränkung der Meinungsfreiheit, die Verteuflung von Kritik und jeder Abweichung vom Mainstream und von Zivilcourage etc. Das aber hat die Menschen für gegenwärtige scheinbar „neuen“ Tendenzen empfänglich gemacht und lähmt ihre Bereitschaft, sich zu wehren:
Inzwischen ist die Urlaubszeit vorbei und die ersten Rückmeldungen zu meinem Buch gehen bei mir ein:
„Ihr Buch ist für meine Schwerpunkte im Kontext gesundheitsbezogener Sozialer Arbeit und der stetigen Konfrontation mit der Ökonomisierung des Gesundheitswesens absolut relevant. … Leider hat sich die Situation nach Corona bei weitem nicht entspannt und professionelles Handeln wird regelmäßig den manegeriellen Aufgaben nachgeordnet behandelt. … Viele unserer Studierenden kennen die professionstheoretischen Grundlagen nicht und beziehen sich fast ausschließlich auf Handlungskonzepte aus der Praxis, die nicht zwingend theoretisch und konzeptionell fundiert sind. Sie sprechen mir also aus der Seele .“
„Allerorten sehe ich eine Abnahme an Qualität, die ich nicht mehr aushalte. Was da an „guter“ Arbeit (so das Eigenverständnis) abgeliefert wird, lässt mich nur noch den Kopf schütteln und mich abwenden. Man hat die Idee, man verstehe ein Konzept durchs Lesen und weil man meint, sowieso alles zu können, weiß man auch, wie es anzuwenden ist. Sogar – und das vor allem – Berufsfremde und Anfänger trauen sich eine solche Arbeit zu und haben keinen Respekt vor den eigentlich notwendigen Kenntnissen um mit hochkomplexen Familiensystemen der Jugendhilfe zu arbeiten. Und wenn es zu schwierig wird, arbeitet man mit Mittelgeschichtsfamilien: bei denen lohnt es sich ja noch!“
„In Ihrem Buch bin ich aktuell im Teil über die Analyse der Methodenhandbücher. Das trifft den Nagel auf den Kopf und ich freue mich ein wenig, dass Heiner, an der ich mich in der Sozialen Diagnostik sehr gerne orientiere, recht gut wegkommt ;-).“
„Gerade die Praxis hat mit erheblichen sozialpolitischen Veränderungen zu kämpfen – wenn sie es denn tut! Es sind zum einen die Veränderungen durch die digitale Transformation, sondern auch durch die vom Neoliberalismus begleitete rechte Ideologie, die Raum greift.“
“ Ich bedanke mich ganz herzlich für ihr Buch, das aus meiner Sicht absolut aktuell und total erforderlich ist. Es wird die eine ober den anderen hoffentlich „aufwecken“, wenn es denn gelesen wird. Sie weisen auf etwas hin, das als grundlegend angesehen werden musss. Es ist nämlich der Verlust des Anspruchs der Sozialen Arbeit sich für Menschenrechte und vor allem gegen Unterdrückung und Ausbeutung einzusetzen und für eine andere, auch mögliche Gesellschaft einzutreten.“
„Das Neoliberale macht die Profession zu einer Rettungsmission, die vor allem Menschen wieder fit machen will, sich in sozialen Welten zu bewegen, die sie gerade erst ausgegliedert hatten. Auch zeigt sich u.a. in der Debatte um Klimawandel und Klimagerechtigkeit in der Sozialen Arbeit, …, dass diese nur noch von einer Klimawandelanpassung spricht. Die Veränderung scheint akzeptiert, damit aber auch das Soziale und Ökonomische, das diese verursacht. Aktivitäten zur Verhinderung sind Randnotizen. Ähnliches erleben wir auch in der Debatte um Krieg und Frieden. Zwar will man Frieden, klar, aber dennoch arrangiert man sich auch mit der Tatsache des Krieges als Methode der Politik. Insofern ist Ihre Sicht nicht pessimistisch sondern total realistisch. „
“ ... wie auch auf dem DJHT dieses Jahr in Leipzig eine Fraktion wieder versucht alles unter den Baldachin zu setzen: Nach außen soll nicht vordringen, wie miserabel die Situation in den Jugendämtern ist. Sie wollen damit die „Attraktivität“ der Arbeit in den ASDen nicht gefährden, also locken sie diese jungen Studienabsolventen in ihrer Ahnungslosigkeit in die Ämter und wundern sich, wenn die schnell gehen.“
„Ihre Perspektive und die von Ihnen dargestellten Zusammenhänge mit dem Bereich der Sozialen Arbeit finde ich in der Umkehrung … anregend für mich, zumal Sie mit einer großen Offenheit und klaren Begriffen schreiben. Insbesondere die Aussagen zur Scheinheiligkeit werden für mich sicher noch bedeutsam werden.„
„Wir Sozialarbeitenden sind Teil des Problems geworden, wenn wir schweigen. Die Instrumentalisierung der Sozialen Arbeit funktioniert nur, weil wir sie zulassen.„
Die saarländische Ministerin für Soziales sagte 2017 einmal zu mir: Frau Seithe, da sind Sie ja wohl die Einzige, die die Lage der Sozialen Arbeit so kritisch sieht.“ Es war die Zeit, in der wir gemeinsam gegen die neoliberale „Reform“ des Kinder- und Jugendhilfegesetzes kämpften. Manchmal denke ich, dass diese Frau Recht hatte, manchmal befürchte ich es. Aber das ist nicht so.
Mich erreichte folgender Gastbeitrag :
Erfahrungen aus dem Kinderschutz
Ein Zeitungsartikel in der Berliner Morgenpost – Überlastete Jugendämter in Berlin- „uns fehlt die Zeit“ vom 07.07.2025 brachte sie zurück: meine längst verdrängten Erinnerungen an die Zeit als Sozialarbeiterin im Kinderschutz. Was ich dort las, war erschreckend vertraut – und genau das ist das Problem.
Nach vielen Jahren bin ich gelinde gesagt erschüttert: Die Klagen und Forderungen der Kolleginnen und Kollegen im Regional Sozialpädagogischen Dienst (RSD) sind unverändert dieselben wie vor zwei Jahrzehnten. Bereits 2004 gingen Fachkräfte mit identischen Themen und Forderungen auf die Straße. Heute kämpfen Sozialarbeitende im RSD immer noch gegen die gleichen strukturellen Probleme.
Ich habe wenig Hoffnung, dass sich etwas zugunsten der Jugendhilfe positiv verändern wird. Und das liegt nicht nur an fehlenden Ressourcen – es liegt u.a. an einem System, dem es nicht gelingt, die Bedarfe der Jugendhilfe thematisch und politisch nachhaltig zu platzieren.
Die Aussage der zuständigen Senatsverwaltung für Jugend, Fachkräfte hätten nichts zu befürchten, wenn sie sich öffentlich zu ihren Arbeitsbedingungen äußern, ist kaum glaubwürdig. Wäre sie zutreffend, gäbe es längst einen konstruktiven und offenen fachlichen Austausch: Sozialarbeitende in Jugendämtern sowie bei ambulanten und stationären Trägern der freien Jugendhilfe würden offen über Missstände in der Jugendhilfe und ihre Arbeitsbedingungen diskutieren.
Die Realität zeigt ein anderes Bild: Viele Kolleginnen und Kollegen scheuen sich, ihre fachliche und persönliche Meinung zu äußern. Eine Kultur des Schweigens und der Resignation dominiert, geprägt von der – nicht unbegründeten – Sorge um die berufliche Existenz.
Was systematisch verschwiegen wird, sind die dramatischen Auswirkungen auf die Betroffenen: Viele Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene können in der Jugendhilfe nicht mehr adäquat untergebracht oder versorgt werden. In Krisensituationen müssen sie mangels geeigneter Plätze in weniger oder ungeeigneten Einrichtungen untergebracht werden. Gelegentlich werden sie trotz bestehender Gefährdungseinschätzung weggeschickt, weil keine Krisenplätze zur Verfügung stehen.
Dabei wird billigend in Kauf genommen, dass Kinder und Jugendliche in emotional herausfordernden Ausnahmesituationen auch in stationären Einrichtungen nicht den notwendigen Schutzraum bekommen. Die für eine stabilisierende und haltgebende emotionale Entlastung erforderliche Betreuungskontinuität kann von vielen Kriseneinrichtungen kaum noch gewährleistet werden. Neben dem Fachkräftemangel spielen weitere Faktoren eine Rolle: hohe Arbeitsbelastungen, unzureichende Qualifizierung für die Arbeit mit herausfordernden Kindern und Jugendlichen, schlechte Bezahlung, mangelnde Wertschätzung von Erzieherinnen und Sozialpädagoginnen etc.
Man gewinnt den Eindruck, dass die politisch Verantwortlichen sich mit den Bedingungen in der Jugendhilfe nicht (lösungsorientiert) auseinandersetzen möchten.
Anstatt die Arbeitsbedingungen für Beschäftigte zu verbessern und förderliche Rahmenbedingungen für erfolgreiche Betreuungsverläufe zu schaffen, wird derzeit über geschlossene Einrichtungen für betreuungsintensive Kinder und Jugendliche diskutiert. Intensivpädagogische Betreuungsangebote benötigen jedoch eine solide fachliche und personelle Ausstattung. Einsparungen bei der Personalausstattung erweisen sich langfristig als kontraproduktiv und verursachen höhere Folgekosten.
Es geht oft nur noch darum, dass die Statistik erfüllt ist, damit die Mittel fließen können. Absurde fachliche und sozialpolitische Entscheidungen sind dann keine Ausnahme.
Eine SozialarbeiterIn erzählt aus ihrem Arbeitsfeld:
Es kam schon vor, dass die MitarbeiterInnen von unserem Träger aufgefordert wurden, „nasse AlkoholikerInnen“ in Arbeitsstellen zu vermitteln – obwohl ihnen wie dem Träger und dem Kostenträger natürlich völlig klar war, dass diese schon am nächsten Tag wieder entlassen würden. Genau so war es dann auch.
Was aber auf diese Weise möglich war: In der Statistik wurden die Fälle als Erfolge verbucht.
Qualitätsmanagementversuche, die sozialpädagogische Leistung durch standardisierte Dokumentationsverfahren zu erfassen, sind sinnlos und führen letztlich zur Vernachlässigung von Qualität.
Eine Sozialpädagogin (33 Jahre alt, 5 Jahre Berufserfahrung in der Sozialpädagogischen Familienhilfe) berichtet von einem Experiment: „Ich muss neuerdings für meinen Träger nach jedem Termin mit einer Familie einen Kontrollbogen ausfüllen, der meine Tätigkeiten in Bezug auf die im Hilfeplan genannten Ziele und die entsprechenden Zeiträume, in denen ich mich mit dieser Zielthematik beschäftigt habe, genau festhält. Zum Beispiel geht es dann um die Zeit von 14.30 bis 16.00, also um 1,5 Stunden. Der Kontrollbogen sieht vor, dass für jedes angesprochene Ziel einzeln mit Minutengenauigkeit der Zeitraum der Bearbeitung angegeben wird – quittiert von der Mutter, so als handele es sich um eine Handwerkerdienstleistung. Das sieht an einem bestimmten Tag dann in etwa so aus:
Vertrauensaufbau
15 Minuten
Mutter soll früh genug aufstehen
15 Minuten
Mutter soll dem Kind Pantoffeln mitgeben
28 Minuten
In Deutschland gelten bezgl. Pantoffeln andere Regeln
2 Minuten
Die Mutter soll sich öffnenPlanung
12 Minuten18 Minuten
Das Ausfüllen und Übertragen ist aus meiner Sicht schlicht für die Katz. Denn alles kann in den 1,5 Stunden passiert sein. Der Bogen verrät es nicht: Gutes oder Schlechtes, viel oder wenig, fachlich Qualifiziertes und auch Stümperhaftes … Der Träger kann an den Eintragungen bestenfalls erkennen, dass hier jemand 1,5 Stunden bei der Familie war. Wie gearbeitet wurde, welche sozialpädagogische Qualität diese Arbeit hatte, das erschließt sich mitnichten. Nur Mühe macht der Bogen und frisst Zeit. Was also wirklich in den 1,5 Stunden passiert ist und wie gut dort gearbeitet wurde, das ist so nicht zu erfassen. Das kann man auch nicht messen oder durch irgendwelche formalen Vorschriften oder Kriterien beschreiben.
Ich ärgere mich jedes Mal über dieses mangelnde Vertrauen in meine Fachlichkeit. Deshalb habe ich mir mal den Spaß erlaubt, als Anlage an so ein Kontrollblatt drei verschiedene und unter fachlichen Gesichtspunkten mehr als unterschiedlich zu bewertende Beschreibungen meiner vermeintlichen Tätigkeit anzuhängen. Wohlbemerkt: Alle drei Protokolle wären durch die Angaben auf dem Kontrollblatt völlig abgedeckt und den Tatsachen entsprechend festgehalten worden.
Variante 1:
Heute sind wir nicht dazu gekommen, in Ruhe zu sprechen. Ständig ging das Telefon oder jemand kam zu Besuch. Dazu lief wie immer der Fernseher. Ich habe die Zeit überbrückt und mit den Kindern ein bisschen im Kinderzimmer gespielt. Schließlich war die Zeit fast rum, als endlich niemand mehr störte und wir noch einmal kurz über das Kindergartenproblem sprechen konnten.
Sie meinte, es ginge eigentlich inzwischen ganz gut. Sie hätte ja jetzt den Wecker immer eingestellt. Ich könnte ruhig im Kindergarten nachfragen. Wir haben vor, beim nächsten Mal über ihre Finanzsituation zu sprechen.
Variante 2:
Heute gab es wieder Ärger in der Kita. Man hatte mich bereits informiert. Die Kleine hatte mal wieder die Pantoffeln nicht dabei und die Erzieherinnen sind genervt, weil die Mutter das einfach nicht kapiert.
Ich habe Frau J. noch einmal eindringlich eingeschärft, dass sie die Pantoffeln mitgeben soll. Sie will nicht, weil sie es von zu Hause nicht kennt. Aber ich habe ihr klar gemacht: Wenn sie sich integrieren will und nicht unangenehm auffallen möchte als Ausländerin, dann muss sie sich einfach mal an unsere Regeln halten.
Die Gespräche mit Frau J. liefen wie immer ziemlich zäh. Sie will sich nicht öffnen und gleichzeitig spüre ich genau, dass sie sich gegen das sperrt, was ich von ihr erwarte. Die Liste, in der Frau J. täglich eintragen soll, ob sie es geschafft hat, rechtzeitig aufzustehen, war nur sporadisch ausgefüllt. Dabei hatte sie sich doch sogar schriftlich bereit erklärt hat, ihre Langschläferei aufzugeben.
Ich werde, das habe ich ihr jetzt angeboten, jeden Tag einmal kurz durchrufen, und fragen, ob sie rechtzeitig im Kindergarten war.
Variante 3:
Ich traf Frau J. heute in schierer Verzweiflung an. Sie erzählte mir, dass die Erzieherin sie heute früh wieder angemeckert habe, weil ihre Tochter keine Pantoffeln dabei hatte.
Wir haben in Ruhe darüber gesprochen, wie mies sie sich fühlt, wenn sie in den Kindergarten gehen muss, weil sie den Eindruck hat, dass die Erzieherinnen sie nicht mögen. Wir haben überlegt, was sie machen kann, damit sich das ändert. Sie bat mich, doch einmal für sie mit den ErzieherInnen zu sprechen. Ich habe versucht, mit ihr über ihre Angst und ihre Scham zu sprechen, der sie sich in diesen Situationen ausgesetzt sieht.
Frau J. wurde sehr gesprächig und erzählte viele andere Situationen aus ihrem Leben und dass sie sich sehr oft von anderen schlecht behandelt fühlt. Wir haben überlegt, ob es dafür Gründe geben könnte, die ihr einfallen.
Sie glaubt, die anderen sähen in ihr die kleine dumme Jessica, so wie ihre Mutter es tat. Wir haben überlegt, was sie tun kann, damit die ErzieherInnen merken, dass sie nicht die kleine dumme Jessica ist. Dabei ging ihr auf, dass sie selbst für sich sorgen muss und es nichts bringen würde, wenn ich mit den Erzieherinnen über sie spräche.
Wir haben geplant, nächste Woche die Tochter zusammen abzuholen. Dabei will sie die Erzieherinnen – mutig und ohne deren Blicken auszuweichen – fragen, wozu das Kind überhaupt Pantoffeln braucht. In ihrer Heimat gehen alle im Haus ohne Schuhe und das kennt die Kleine auch nicht anderes. Wir haben die Situation sogar einmal geübt und dabei konnte sie schon wieder lachen, weil wir uns die Verblüffung der Erzieherinnen so richtig gut vorstellen konnten.
Nur die dritte Variante entsprach dem, was ich wirklich getan hatte.
Die quantitative Erfassung in Zeitwerten aber ließ völlig offen, wie hier gearbeitet wurde. Ich hoffte nun, dass mein Träger auf diese Weise erkennen würde, dass diese Art der Kontrolle völlig unsinnig ist, da sie ihr Ziel verfehlt. Außerdem forciert sie meiner Meinung nach bei uns MitarbeiterInnen ein nicht-fachliches, quantifizierendes Verständnis von Sozialer Arbeit und deprofessionalisiert.
Mein Träger hat geschmunzelt, mit den Schultern gezuckt und nur gesagt: Der Kontroll-Bogen sei in Absprache mit dem Jugendamt entstanden und es läge nicht in seiner Macht ….“
Die neoliberalisierte Soziale Arbeit führt zu einem veränderten beruflichen Selbstverständnis der SozialarbeiterInnen.
Die ehemalige Mitarbeiterin des Allgemeinen Sozialdienstes im Jugendamt, die zum Jobcenter gewechselt ist, weil sie im Allgemeinen Sozialdienst die Situation nicht mehr ausgehalten hat, meint, die Arbeit im Jobcenter sei ganz schön hart gegenüber den KlientInnen, aber daran könne sie ja nichts ändern. Und sie stellt mit Wohlbehagen die Vorzüge ihres neuen Arbeitsplatzes fest: Zum einen hat sie jetzt endlich einen eigenen PC am Arbeitsplatz und zum anderen „müssen die Klienten jetzt endlich machen, was ich will, und ich muss ihnen nicht hinterherlaufen, bis sie endlich mal in die Gänge kommen“.
Hervorragend analysiert, Frau m.s.! Man spürt förmlich, wie der Neoliberalismus uns alle als Selbstunternehmer mit einem Haufen Pseudofreiheit und ständlicher…
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Sehr geehrte Damen und Herren, ich arbeite als Landesreferentin für die DRK Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe in Magdeburg. In…
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