Bildungsstreik – und wohin wollen wir?

Mit großem Vergnügen verfolge ich den aktuellen Bildungsstreik und stelle fest, dass die Studentenschaft doch nicht so bewegungs-, kritik- und einfallslos ist, wie es in den vergangenen Jahren oft erschien.
Gleichzeitig sehe ich derzeit die große Gefahr, dass der Protest dazu genutzt werden könnte, die neoliberalen Ziele von Bologna nun endlich erst richtig durchzusetzen.

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Seit dem Einstieg in den Bologna-Prozess, d.h. seitdem studiert werden muss im Kontext der neuen, den Bedürfnissen nach Schaffung von mehr, schnell sowie kostengünstig ausgebildetem Humankapitel an unseren Hochschulen, ist der Druck für die Studierenden immer unerträglicher geworden. Verschulung und Reglementierung, Eingespanntsein in ein enges, genau vorgeschriebenes Prozedere von Leistungserbringung und ständigem Zeitdruck macht das Studieren immer schwieriger und oft einfach unmöglich. Die Regelstudienzeiten sind kaum erreichbar,  die Studierenden leiden unter einer unübersichtlichen Fülle an Stoff,  dessen Kenntnis  von ihnen in kleinschrittigen Prüfungen permanent abverlangt wird. Keiner hat mehr Zeit für Seminare, die interessieren, die aber gerade nicht im Plan stehen. Keiner hat mehr Zeit für Projekte und dafür, sich mit Themen eingehend und diskursiv zu befassen. Es wird studiert von der Hand in den Mund, ausschließlich zur Reproduktion für den Schein. Man studiert nur noch, damit man seine Creditpoints abhaken kann usw.
Für viele fehlt nun außerdem die erforderliche Zeit dafür, ihren Unterhalt durch Arbeit zu verdienen. Das Bachelorstudium geht von einem wöchentlichen Zeitaufwand von ca. 60 Stunden aus. Wer kann das? Wie soll das jemand schaffen, der sich seine Brötchen verdienen muss?

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Und wozu das Ganze? Weil eine europäische Vergleichbarkeit und Mobilität für die Studierenden  angestrebt wird? Fakt ist, dass die Auslandsstudienzeiten zurückgegangen sind und die Studienabbrüche deutlich zugenommen haben.

Education is NOT for $AF€ “ ist ein Motto der Studierenden. Sie scheinen allmählich zu begreifen, dass hinter den Hochschulreformen etwas anderes steckt als der Wunsch, mehr Vergleichbarkeit und mehr Internationalität herzustellen. Hier geht es um das alte Lied „billiger aber besser“, „mehr, aber bitte bei gleich bleibenden Kosten“. Es geht darum , soviel Wissen zu generieren, wie unsere Wirtschaft sie verlangt, aber keine überflüssigen Theorien zu thematisieren und schon nicht, kritische und selbständig denkenden Köpfe auszubilden!

Wenn nun den streikenden Studierenden von Seiten der Politik und der Kultusministerkonferenz Zustimmung und Sympathie erklärt wird, so sollten sie genau hinhören:
Seit Tagen höre ich von der politischen Seite den Vorwurf an die Hochschulen, zu der Misere selber beigetragen zu haben, indem sie die Bachelor-Studiengänge mit dem gesamten Inhalt der ehemaligen Diplom-Studiengänge überfrachtet hätten. Und tatsächlich, so ist der Reformprozess verlaufen: Die Hochschulen haben versucht, ihren guten alten Wein in die neuen Schläuche reinzupressen, damit ihr Fach, ihre Wissenschaft nicht in einer verkürzten  Billigvariante gelehrt werden muss. Das hat – genau so auch bei uns – zu einer hoffnungslosen Überfrachtung des Studiums und zu einer Überforderung der Studierenden geführt. Die Hochschulen, die ja klaglos und brav den angeordneten, oder besser verordneten, Reformprozess à la Bologna in die Praxis umgesetzt haben, waren alle bereit, an das vorgepredigte Effizienzcredo  der neoliberalen Gesellschaft „kürzer aber dennoch gut“ zu glauben.
Jetzt kriegen sie dafür eins auf die Finger. Sie haben offenbar nicht kapiert, worum es bei Bologna geht: Wir, d. h. diese Gesellschaft braucht viele und mehr AkademikerInnen, aber es reicht völlig aus, wenn diese auf einem reinen Wissensniveau ausgebildet werden. Menschen, die denken können, die die Grundlagen ihres Handelns und die gesellschaftlichen Bedingungen ihres Handelns kritisch hinterfragen können, sind eher unerwünscht und in größerem Umfang einfach überflüssig. Studierte Menschen sollen  einen  Beruf ausüben können, der qualifizierte Kenntnisse erfordert,  und nicht daran herumdeuteln, ob das, was die Gesellschaft ihnen in diesem Beruf abverlangt, aus ihrer Sicht auch fachlich korrekt sowie ethisch vertretbar ist. Hochschulbildung für jedermann  soll und muss nichts mehr zu tun haben mit Denken, Bildung, Kritik und Selbständigkeit in der Anwendung von wissenschaftlichen Ergebnissen. Eliten soll es natürlich geben. Aber dafür ist nicht jeder geeignet und nicht jeder hat die Knete dafür.eur-studiengebuehren_c_meyhome_pixelio_small.jpg

Wenn wir nicht aufpassen wird der gegenwärtige Studentenprotest auf perfide Weise instrumentalisiert: Wenn die Studenten sich über Überfrachtung, Unstudierbarkeit und Zeitnot beklagen, so kommt das den herrschenden Bildungsvorstellungen vieler Politiker sehr entgegen. Der Protest könnte ihnen den Vorwand bieten, die eigentliche Zielsetzung des Bachelors endlich durchzusetzen nach dem Motto: „Die Entschlackung der Bachelorstudiengänge ist angebracht. Die Studierenden sollen entlastet werden, damit sie wieder studieren können“.
Und was könnte das Fazit sein: Die Billigausgabe der Diplom-Studiengänge wird nun doch durchgesetzt, gegen die Absichten und Hoffnungen der Hochschulen und vielleicht mit dem erschöpften Segen der gebeutelten Studenten.

Entscheidend ist, ob die grundsätzliche Kritik am (Hochschul)-Bildungssystem  sich in der Studentenschaft verankert: Bildung ist mehr als die Abrichtung für die Märkte eines Exportweltmeisters. Bildung ist ein Menschenrecht und die Voraussetzung für eine aufgeklärte, demokratische und selbstkritische Gesellschaft.

Über m.s.

Ich war 18 Jahre Professorin für Soziale Arbeit an der FH Jena (Methoden, Hilfen zur Erziehung, Schulsozialarbeit). Davor war ich 18 Jahre in der Praxis. Studiert habe ich Psychologie in Münster und Soziale Arbeit in Frankfurt a.M. Bücher: Schwarzbuch Soziale Arbeit Engaging Hilfe zur Erziehung zwischen Professionalität und Kindeswohl Das kann ich nicht mehr verantworten Ambulante Hilfe zur Erziehung und Sozialraumorientierung
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