Prof. Dr. Thiersch. Wissenschaftler und engagierter Praxisversteher

AutorInnen, die mich für mein Buch inspiriert haben (Neuerscheinung: Seithe: Soziale Arbeit und Neoliberalismus heute: schwarz auf weiß | SpringerLink)
Teil 5

Prof. Dr. Hans Thiersch,


der den heutigen SozialarbeiterInnen freundlich und verständnisvoll aber ganz klar und unmissverständlich einige Zähne zieht und den grundlegenden Absichten und Vorstellung der neoliberalen Sozialen Arbeit eine deutliche Abfuhr erteilt …

Der Altvater der Lebensweltorientierung hat 2020 seine Konzeption noch einmal vorgestellt und geht dabei auf die aktuellen Entwicklungen sehr präzise ein.

Lebensweltorientierung ist eigentlich hochpolitisch

Ganz im Gegenteil zu immer wieder geäußerten Verlautbarungen, die die Lebensweltorientierung verdächtigen, selbst als Einfallstor für die Neoliberalisierung gedient zu haben, setzt Thiersch sich hier deutlich gegen den Neoliberalismus ab und zeigt die drastischen Folgen der Neoliberalisierung der Profession Soziale Arbeit auf.

Der Kampf der Menschen um eine soziale Gerechtigkeit hat sich laut Thiersch (2020, S. 99) immer wieder gestellt und „stellt sich in der heutigen ökonomisch und ökologisch so dramatisierten Weltsituation in unausweichlicher Schärfe.“ Als Teil des „modernen Projektes Soziale Gerechtigkeit“ sieht Thiersch (2014, S. 331) die Soziale Arbeit in Kampf mit den neoliberalen Herausforderungen. Er erwartet von der Sozialen Arbeit, dass sie Gerechtigkeit „gegen die Thematisierung des Neoliberalismus“ einklagt und deutlich macht, dass Gerechtigkeit „die bestimmende Ordnung gesellschaftlicher Entwicklung“ ist und nicht, wie es der Neoliberalismus sieht, ein „Hemmnis der Konkurrenzgesellschaft“.

Thiersch (2020) warnt heute vor der Gefahr, dass die erweiterte Aufgabenbestimmung eine riskante Konstellation bedeutet, dass nämlich so „die Arbeit in den Zonen der besonderen Belastungen an den Rand rückt – und dies insbesondere in der heutigen Zeit der neoliberalen Verschleierung und Dethematisierung der Probleme und Aufgaben in diesen Zonen“ (ebd., S. 92).

Hilfeverfahren wie etwa die „Sozialpädagogische Familienhilfe“ werden so weit eingeschränkt in ihren Möglichkeiten, dass von ihnen nur noch die „leeren Titel“ bleiben. Solchen aus fachlicher Sicht unsinnigen und kontraproduktiven Entscheidungen steht die Profession machtlos gegenüber.
Thiersch wehrt sich gegen die „neoliberale Forcierung einer vor allem auf die Normalität heutiger Lebensschwierigkeiten bezogenen Arbeit … zum Beispiel in der einseitigen Akzentuierung der frühkindlichen Erziehung zur Förderung der allgemeinen Schulfähigkeit, in der einseitig forcierten Förderung der Jugendkulturarbeit in der Jugendarbeit und vor allem in der Einseitigkeit einer aktivierenden Altenarbeit, die die Arbeit in den Mühen des Alters verdrängt.“ Soziale Arbeit „muss dagegen auch für die Arbeit in den Zonen der besonderen Belastung besondere Ressourcen fordern muss Raum, Zeit und Professionalität nachdrücklich und offensiv einklagen.“

Thiersch (2020, S. 100) moniert: „Die Überlastungen und fehlenden Arbeitsressourcen der Sozialen Arbeit in den Lebenswelten der Armut und der multiethnisch geprägten Zonen, aber auch in den von der Entwicklung abgehängten Regionen sind Indiz einer skandalösen Sozialpolitik, die Probleme schafft, die sie dann lautstark und folgenlos öffentlich beklagt.

Beziehungsarbeit ist unverzichtbar

Thiersch wendet sich gegen jede Abwertung der Beziehungsarbeit mit der Klientel und fordert eine besonders hohen Sensibilität im Umgang gerade mit den nicht-motivierten KlientInnen.

Die Notwendigkeit, die Problemschilderungen und die Lage der KlientInnen ernst zu nehmen und auch darauf einzugehen, wird auch von Thiersch hervorgehoben:

„Gerade Menschen, die in ihren Verhältnissen und den Anstrengungen mit ihnen zu Rande zu kommen, überfordert und oft resigniert und gleichsam verstummt sind, brauchen Hilfen, damit sie sich trauen können, ihre Probleme nicht nur zu artikulieren, sondern Veränderungsmöglichkeiten anzugehen“ (2014, S. 336).

Die Beziehungsarbeit basiert auf einem professionellen Verhältnis von Distanz und Nähe. Für Thiersch (2020) sind im Rahmen der lebensweltorientierten professionellen Arbeit Nähe und Engagement unverzichtbar. Erforderlich sei, so Thiersch weiter „das Grundmuster, dass die AdressatInnen sich sicher sein müssen, dass die PädagogInnen sich für sie interessieren und engagieren, und dass sie darin eine vertrauenserweckende Nähe und zugleich eine klärende abständige Distanz erfahren, die ihnen Freiheit zum Eigenen lässt“ (2020, S. 156).

Er beschreibt, wie es gelingen kann, eine angemessene professionelle Balance zwischen Distanz und Nähe zu verwirklichen: Die SozialarbeiterInnen „brauchen die Fähigkeit und den Willen, sich den Problemen der AdressatInnen auszusetzen, sie brauchen darin das Interesse für den anderen um seiner selbst willen, sie brauchen das Engagement einer professionellen Leidenschaft“ (ebd.) Ihre eigenen persönlichen Erfahrungen und Gefühle müssen dabei „in professioneller Haltung, in professioneller Authentizität aufgehoben sein, in der die PädagogInnen sich und die Situation von außen sehen können und so die eigenen Gefühle und Verhaltensäußerungen bis in die Körpersprache hinein reflektieren und gestalten“. Die „Figur des Arbeitsbündnisses“, so Thiersch weiter, „in dem beide Beteiligte sich auf die Aufgaben und Grenzen ihrer Interaktion festlegen“, schützt dabei vor falscher Nähe und vor unausgesprochenen Erwartungen (ebd.).

Thiersch weist auf einen Aspekt hin, der die Bedeutung der Beziehungsarbeit in der professionellen Sozialen Arbeit besonders hervorhebt:

Beziehungen in der Sozialen Arbeit … erhalten eine besondere Bedeutung angesichts der Schwierigkeiten der AdressatInnen. Wenn sie in ihrer alltäglichen Lebenswelt Desorientierung, Unzuverlässigkeit, Vernachlässigung, Gleichgültigkeit und Verachtung erfahren mussten, suchen sie Vertrauen und Ermutigung. Sie wollen und müssen erfahren, dass es andere Menschen gibt, die sie in ihren Schwierigkeiten verstehen und die sich auf sie einlassen. Sie müssen erleben, dass es Menschen gibt, denen sie nicht gleichgültig sind, die sich für Sie engagieren“ (2020, S. 146).

Das bedeutet, dass gerade für die klassische Klientel der Sozialen Arbeit, also für Menschen die sozial benachteiligt sind und Probleme haben, mit ihrem Leben zurecht zu kommen, eine vertrauensvolle und sie als autonome Menschen akzeptierende Grundhaltung erforderlich ist.

„Aus der Perspektive der Adressaten ergeben sich spezifische Vorbehalte und Verweigerungen der Sozialen Arbeit gegenüber. Viele lassen sich auf die Fremdheit der professionellen Handlungskonzepte nicht ein, sie insistieren darauf, dass sie in ihren alltäglichen Verhältnissen selbst zu Rande kommen und haben darin ihren Stolz. Sie wollen den eigenen Ansprüchen gewachsen sein und diese Ansprüche vor den anderen, für sich selbst einlösen oder sie doch wenigstens mit den Strategien des Stigma-Managements behaupten. Hilfe zu brauchen, sich die eigene Bedürftigkeit zuzugestehen, bedeutet für sie den Verzicht auf eine solche, gleichsam stolze Position, bedeutet auch Kränkung und Beschämung. Sich gegen solche Hilfe zu sträuben ist natürlich. So sind etwa Eltern mit der zugedachten Familienhilfe oft nicht einverstanden und betonen, dass sie gut allein zurechtkämen. Jugendliche in der Straßengruppe wehren sich gegen die PädagogInnen und suchen sie in oft harten Herausforderungen zunächst auf die Probe zu stellen. In spezifischen Konstellationen entwickeln sich Ausweich- und Abwehrstrategien. Menschen entziehen sich dem Anspruch der Angebote, decken sich unter ihnen weg und nutzen sie gleichsam strategisch. Sie fügen sich – etwa im Strafvollzug oder auch in der Suchtarbeit – unauffällig und denken, dass sie die Maßnahmen überstehen werden, um dann weiter machen zu können, wie sie es gewohnt sind. Andere ergeben sich dem neuen Arrangement, lassen, umgangssprachlich formuliert, die HelferInnen machen und richten sich in einer Hilflosigkeit ein, die ihnen nicht nur die Auseinandersetzung mit ihrem Problem erspart, sondern die sich darin auch von sich selbst und ihren Möglichkeiten entfremdet. Andere fühlen sich durch das Angebot von Hilfen in ihrem Alltagsanspruch verstört und gekränkt; sie fühlen sich bedroht und haben Angst davor, mit einer Sozialen Arbeit in Berührung zu kommen, von der man immer wieder Abschreckendes hört oder die einem aus der eigenen Tradition des anderen Kulturkreises ganz fremd ist. Andere wehren sich mit Provokationen und Gegenwehr und verstärken sich in der Aufsässigkeit ihres Verhaltens. Wieder andere ziehen sich in sich selbst zurück und werden stumm und verzweifeln, sie geben sich auf“ (Thiersch 2020, S. 210).

Das Verleugnen der eignen Expertise lässt die KlientInnen im Stich

Thiersch kritisiert die heute verbreitete Tendenz, vor lauter Angst, man könne die Klientel dominieren oder manipulieren, auf jeden professionellen Gebrauch der eigenen Expertise zu verzichten.

Thiersch betont auf der einen Seite, dass Menschen im Prinzip für sich zuständig sind, auch wenn sie in vielen Situationen auf Hilfe angewiesen sind. Und er zeigt Verständnis für die sensible Haltung so mancher SozialarbeiterIn, sich als Expertin quasi auszuschalten, weil „die Berufung auf die Bedürftigkeit der AdressatInnen in der Vergangenheit immer wieder als Vorwand für Disziplinierung, Unterdrückung und Demütigung derer, die Hilfe brauchen“ (2020, S. 109), genutzt wurden.

Die hier von Thiersch angesprochene Haltung findet sich vor allem bei VertreterInnen der Disziplin, die sich vertieft mit der Frage der Machtstrukturen in der Sozialen Arbeit generell und speziell auch in der sozialarbeiterischen Interaktion befassen. Im Wissen um die meist unterschätze Macht des Professionellen neigen sie dazu, alles zu tun, um diese Macht nicht gegen die KlientIn zu missbrauchen oder auch nur zu nutzen und empfehlen eine massive Zurückhaltung.
Thiersch kritisiert diese Haltung trotz ihrer Nachvollziehbarkeit jedoch sehr klar:

Viele suchen sich gegen diese Gefährdungen abzusichern und ein Selbstverständnis zu entwickeln, das den Primat der Eigensinnigkeit der AdressatInnen absolut setzt. Sie verstehen gerade auch das Konzept der lebensweltorientierten Sozialarbeit als Plädoyer für ein unbedingtes Insistieren auf dem Primat des Respektes vor den Gegebenheiten und für den befreienden Verzicht auf die Unterstellung von Hilfsbedürftigkeit. Unter Berufung auf die Selbstzuständigkeit der AdressatInnen konzentrieren sie sich auf die Begleitung und Anerkennung des Gegebenen und lassen sich auf Unzulänglichkeiten, Schwierigkeiten und Bedürftigkeiten der Adressaten nicht ein. Damit aber verkennen sie die Struktur ihrer Arbeit und entziehen sich ihrem Auftrag“ (2020, S. 109f).

Ein solches Vorgehen bedeutet nämlich möglicherweise, die Klientel im Stich, d. h. allein zu lassen. Wer sich nicht auf die Lage und die Bedürfnisse der Klientel einlässt, und sei es aus Angst, manipulativ zu wirken oder den anderen, was seine Lebenswelt betrifft, zu enteignen, wer sich der Bereitschaft, solidarisch zu unterstützen aus Angst oder ideologischen Gründen verweigert, verhält sich letztlich nicht anders, als der neoliberale Kollege, der erwartet, dass der autonome souveräne KlientIn schon weiß, was er braucht und sich das selbst besorgt und besorgen kann“ (Seithe 2025, S. 312).

Thiersch geht klar von einer bestehenden Asymmetrie der Machtverhältnisse zwischen SozialarbeiterIn und KlientIn aus.

Diese Asymmetrie muss ausgehalten und in ihrer strukturellen Problematik gesehen und bewältigt werden.“ (Thiersch 2020, S. 109).

Es geht ihm darum, mit der Machtdifferenz angemessen umzugehen und sie nach Möglichkeit zu verringern. Das bedeutet zum einen, sie offen anzusprechen und zum anderen, die Differenz durch eine dialogische, partizipative Interaktion zu verkleinern und so einen Einstieg in ein vertrauensvolles Miteinander und eine aktive und selbstbewusste Mitarbeit der Klientin zu ermöglichen.
Das diese Haltung in keiner Weise dem Prinzip der Partizipation widerspricht, zeigt folgendes Zitat:

„Unterstützung und Hilfe verstehen sich heute als Verhandlung, als gemeinsame Suche und Entwicklung von weiterführenden Wegen, es geht also nicht – pointiert geredet – darum, dass der eine Probleme hat, die der andere löst, sondern darum, dass die Lösungen des einen, die ungeschickter und weniger hilfreich sind, mit dem anderen zusammen in vielleicht bessere Lösungen transformiert werden“ Thiersch (2014, S. 333).

 

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Über m.s.

Ich war 18 Jahre Professorin für Soziale Arbeit an der FH Jena (Methoden, Hilfen zur Erziehung, Schulsozialarbeit). Davor war ich 18 Jahre in der Praxis. Studiert habe ich Psychologie in Münster und Soziale Arbeit in Frankfurt a.M. Bücher: Schwarzbuch Soziale Arbeit Engaging Hilfe zur Erziehung zwischen Professionalität und Kindeswohl Das kann ich nicht mehr verantworten Ambulante Hilfe zur Erziehung und Sozialraumorientierung
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