8. Am Schreibtisch sitzt ein Fremder

Roman: Das war gestern, Ackermann!

Der Schock

So sehr Dieter die Ruhezeit genossen hatte, nach den vielen Wochen freute er sich auf seine Arbeit. Er fühlte sich den Anforderungen wieder gewachsen, auch sitzen konnte er inzwischen einigermaßen.
Er sah dem Tag, an dem er wieder in die EWV gehen könnte, auch deshalb mit Freuden entgegen, weil er dann nicht mehr Tag für Tag jeden Abend nach Suses Feierabend ihrer Sorge und ihren ständigen Bemühungen ausgesetzt war, es ihm recht zu machen. Zunehmend bereitete ihm seine Beziehung zu Suse mehr Kopfschmerzen als Freude, zumal seine sexuellen Bedürfnisse seit seiner OP fast völlig verschwunden waren. Im Grunde fing das Leben mit Suse an, ihn zu langweilen. Hatte er nicht einmal gedacht, dass eine Frau mehr Außenkontakte, mehr Erlebnisse, mehr Unternehmungen bedeuten würde? Jetzt saßen sie – genau wie vorher er allein – den ganzen Abend über in seiner Wohnung und schauten fern. Und nichts weiter passierte.
Ach was, schlug er sich solche Gedanken aus dem Kopf. Wenn ich wieder arbeite, wird sich das schon regeln. Dann werde ich mich freuen, abends zu Suse heimzukönnen. Aber was zu viel ist, ist zu viel. Und ob diese Beziehung auf Dauer das ist, was ich brauche, darüber werde ich mir den Kopf zerbrechen, wenn mein Leben wieder richtig im Lot ist.

Schon vor einer Weile hatte Dieter damit angefangen, sich über seine Klienten Gedanken zu machen. Sein plötzlicher Ausfall vor Wochen war für manche von ihnen sicher einen schweren Schlag. Hoffentlich waren in der Zwischenzeit keine Katastrophen passiert und hoffentlich hatten sie nicht aufgegeben. Er würde gleich als erstes die Sekretärin fragen, ob Paul Heisinger inzwischen da gewesen war.

Als Dieter das Gelände der EWV betrat, war ihm heimatlich zu Mute. Er öffnete mit Schwung die Eingangstür der Lebensberatungsstelle und ging erst einmal ins Sekretariat.
„Hallo, liebe Leute, da bin ich wieder!“, begrüßte er die Sekretärin, die vor ihrem PC saß und jetzt aufschreckte.
„Herr Ackermann!“ Sie brach ab und starrte ihn verwirrt an.

“Was hat sie denn?”


Was hat sie denn, überlegte Dieter irritiert. Haben wir uns seit der letzten Weihnachtsfeier nicht eigentlich geduzt? Vielleicht glaubt sie auch, ich käme erst nächste Woche zurück. Na, egal. Nun bin ich eben da.

Dieter wartete nicht darauf, dass Frau Springer noch etwas sagte, sondern trat zurück und stapfte mit beschwingten Schritten zu seinem Büro, das nur ein paar Meter weiter den Flur hinunter lag. Die Tür war geschlossen.

Dieter griff nach der Klinke und die Tür gab nach.
Er schaute in einen Büroraum, der seinem verdammt ähnlichsah, doch am Schreibtisch saß ein fremder Mann. Dieter hatte diesen jungen Typen noch nie gesehen.
„Was, wer?“, stotterte er. „Was machen Sie hier in meinem Büro?“ rief er überrascht und wartete darauf, dass irgendwer ihm eine Erklärung für das gab, was er gerade erlebte.

Der junge Mann mit den Turnschuhen und der legeren Anzugjacke über grauen Jeans schien sich ebenfalls erschrocken zu haben. Er war aufgesprungen.
„Sind Sie Dieter Ackermann? Offenbar hat man Sie nicht informiert?“
Dieter starrte ihn an wie eine Erscheinung.
„Mein Name ist Jens Hiltrup. Ich bin jetzt in diesem Büro, ich meine, ich arbeite hier. Genauer gesagt, habe ich Ihre Stelle übernommen. Und Sie sind wirklich nicht informiert worden?“, fragte er, als er Dieters Verstörtheit bemerkte. „Das ist sehr peinlich. Ich habe hier vor zwei Wochen angefangen. Man hat mich eingestellt, um die vakante Stelle zu besetzen. Sie waren viele Wochen nicht im Dienst. Man meinte wohl, dass man die Klienten nicht so lange warten lassen dürfte.“

„Jetzt bin ich aber wieder da!“ Dieter stemmte sich mit beiden Beinen auf den Boden. „Bis wann können Sie den Schreibtisch freigemacht haben?“
„Sie verstehen mich falsch, Herr Ackermann. Ich bin hier fest für diese Aufgabe eingestellt. Das ist jetzt mein Büro. Zu Ihrer Beruhigung kann ich Ihnen mitteilen, dass ich Ihre Fälle übernommen habe und schon vier davon zum Abschluss bringen konnte.“
„Was?“ Dieters Stimme überschlug sich.
„Nun ja, ich arbeite mit Case Management. Mit dieser hervorragenden Methode kommt man eben schneller zur Sache, als wenn man nur lange mit den Leuten herumredet. Hätten Sie auch mal probieren sollen!“

Dieter glotzte den fremden Mann noch immer fassungslos an. „Wer hat Sie hier reingelassen?“, schrie er plötzlich. Er war rot angelaufen. Was er da gerade erlebte, das konnte doch nicht wahr sein!
„Entschuldigen Sie bitte, ich sitze ganz offiziell hier. Sie sollten vielleicht lieber erst mal mit Superintendent Lehnert sprechen, bevor Sie hier den Aufstand proben.“ Jetzt war auch Herr Hiltrup verärgert.
„Herr Ackermann“, hörte Dieter die Stimme seiner Sekretärin hinter sich. „Entschuldigung. Sie sind eben so schnell weggegangen. Ich wollte Ihnen sagen: Herr Lehnert wartet auf Sie. Sie möchten bitte zu ihm kommen.“
In Dieters Kopf drehte sich alles.
Auf diesem Stuhl hatte er nun 25 Jahre lang gesessen. In diesem Raum mit dem vertrauten Blick auf die Straße hatten unendlich viele Gespräche stattgefunden. Hier hatten Menschen ihm ihre Albträume verraten, hier begannen die meisten von ihnen, ihr Leben zu begreifen und es endlich aktiv in die Hand zu nehmen. Hier war er derjenige, von dessen Kunst es abhing, ob die Menschen in ihrem Leben wieder besser zurechtkamen oder nicht. Und auf einmal sollte dieser Raum nicht mehr ihm gehören?
Sein Kopf fühlte sich an wie ein ausgehöhlter Kürbis zu Halloween.

„Herr Lehnert wird Ihnen alles erklären, er erwartet Sie“, hörte er noch einmal die Sekretärin sagen. Es klang für ihn jetzt wie aus weiter Ferne.
Wie ferngesteuert trat er auf das freie Gelände und lief zum Verwaltungsgebäude, nicht schnell, aber auch nicht langsam, einfach Schritt für Schritt. Dort nahm er die Treppe bis zum zweiten Stock und klopfte bei Lehnert an. Der ließ ein paar Sekunden vergehen, bis er „Herein“ rief.

Lehnert saß an seinem überdimensionierten Schreibtisch und blickte auf irgendwelche Papiere, die vor ihm lagen. Erst als Dieter sich räusperte, sah er hoch und setzte ein kaltes Lächeln auf.
„Ach, da sind Sie ja endlich, Ackermann. Ich habe Sie erwartet. Es gibt Einiges zu besprechen. Setzen Sie sich.“
Dieter gehorchte, obwohl er eigentlich lieber stehen geblieben wäre. So hätte er seine innere Wut noch fühlen können. Nun verrauchte das Bedürfnis, diesem Mann an die Kehle zu springen und ihm die Luft abzudrehen. Als er saß, merkte er, wie seine Wut zerfloss und dem Gefühl der Hilf- und Ratlosigkeit Platz machte.

Der Superintendent schaute ein weiteres Mal mit hoch interessiertem Blick auf die Papiere vor ihm, dann riss er sich los und setzte sich Dieter gegenüber auf den Sessel, der höher und breiter war als die drei Sessel für die Besucher. Auf einem davon saß geknickt und ratlos Dieter Ackermann.
„Sie werden sich gewundert haben, dass jemand in Ihrem Büro arbeitet. Das ist unser neuer Kollege Hiltrup. Ein guter Mann, glaube ich, er wird sicher eine gute Figur machen. Er ist übrigens nicht nur Psychologe, sondern hat auch BWL studiert. Solche Leute sind heute unbezahlbar. Er wird ein bisschen frischen Wind in die Lebensberatung bringen. Wissen Sie, Sie alle arbeiten dort schon mehr als 15 Jahre. Der Vorstand war der Meinung, dass es an der Zeit sei, auch jüngere Fachkräfte in diesem Bereich zu beschäftigen, allein schon, weil die Klientel auch immer jünger wird.“
Er lachte und störte sich nicht daran, dass seine wohl witzig gemeinte Aussage bei Dieter keinerlei Regung auslöste.

Der neue Arbeitsplatz

„Kommen wir auf Sie. Für Sie haben wir ganz andere Pläne, Herr Ackermann. Keine Angst, Sie sind uns lieb und teuer und wir wollen weiterhin auf Ihre Fachkompetenz bauen. Nur wird sich Ihr Aufgabenbereich ein wenig verändern. Sie werden sehen. Ein bisschen Veränderung wird Ihnen sicher auch recht sein. So was hält die Gehirnzellen frisch und fördert die Durchblutung.“ Er lachte wieder, laut und selbstzufrieden.
„Was haben Sie mit mir vor?“, hauchte Dieter jetzt. Die Worte von Superintendant Lehnert flößten ihm Angst ein. Er merkte, wie ihm der Schweiß ausbrach.
„Wir werden Sie in einem Feld einsetzen, wo Sie nicht nur für den engeren Bereich der Lebensberatung nützliche Arbeit leisten werden, sondern für den gesamten Betrieb der EWV. Sie werden in der Management- und Planungsabteilung arbeiten als Sachgebietsleiter der Unterabteilung Fördermittel-Akquise. Bisher sind Sie noch der einzige Mitarbeiter, aber wir werden die beiden vakanten Stellen dort spätestens Ende nächsten Jahres besetzt haben. Sie übernehmen dann selbstverständlich die Leitung, Herr Ackermann.“
„Unterabteilung Fördermittel-Akquise?“, fragte Dieter ungläubig. Er wähnte sich im falschen Film. Am liebsten hätte er sich in den Hintern gekniffen, um aus diesem Albtraum aufzuwachen. Aber er ahnte voller Entsetzen, dass das hier kein Traum, sondern die bittere Wirklichkeit war.

„Kommen Sie, ich zeige Ihnen Ihren neuen Arbeitsplatz und Ihren Vorgesetzten, den Leiter der Planungs- und Managementabteilung, Herrn Dr. Tietz. Vielleicht kennen Sie ihn sogar schon?“
Dr. Tietz! Natürlich kannte Dieter diesen strohtrockenen Menschen. Er saß immer ganz am Rande in der Kantine und sah aus, als gehörte er in eine ganz andere Welt.
Sprachlos folgte er Lehnert, der mit raschen Schritten vorauslief.
Die Management- und Planungs-Abteilung war im obersten Stockwerk des Verwaltungsgebäudes untergebracht. Auch Dr. Tietz schien bereits auf ihn gewartet zu haben. Er begrüßte ihn freundlich, aber mit einem abschätzenden Ausdruck in den Augen, als wäre Dieter sein neuer Praktikant.

„So“, sagte Lehnert. Er blieb stehen, während sich Dieter nach Aufforderung seines neuen Vorgesetzten hin an dessen Besuchertisch setzte.
„Das ist Ihr neuer Mitarbeiter. Herr Ackermann hat bei uns viele Jahre hervorragende Beratungsarbeit drüben bei den Lebensberatern geleistet. Ich denke, er wird sich auch hier gut einarbeiten.“ Er wandte sich Dieter zu und schüttelte ihm die Hand. „Ich lasse Sie jetzt mit Herrn Dr. Tietz allein. Er wird Ihnen alles Weitere erklären. Gute Einarbeitung und viel Erfolg!“ Ohne abzuwarten, ob Dieter noch etwas von sich geben würde, drehte er sich um und verließ den Raum.

Dieter hatte bisher den Kopf gesenkt. Jetzt richtete er sich langsam auf und blickte wie ein gefangenes Tier zu Dr. Tietz. Der setzte sich nun zu Dieter und fragte ihn, ob er vielleicht eine Tasse Kaffee haben wollte.
Dieter schüttelte stumm den Kopf.
„Also gut. Ich werde versuchen, Ihnen mit wenigen Worten Ihr Aufgabenfeld zu umreißen. In Ihrem Büro stehen die Aktenordner, die bisher in diesem Bereich angelegt wurden. Das ist sozusagen der Grundstock. Sie sollten sie in Ruhe studieren, um sich ein Bild von Ihrem Aufgabenfeld zu verschaffen. Wenn Sie so weit sind, werde ich Ihnen das Projekt vorstellen, für das Sie die neuen EU-Anträge und womöglich noch weitere Förderanträge entwickeln sollen.“

„Aber so was habe ich noch nie gemacht.“ Dieter stöhnte und kam sich vor wie ein Schüler, der jahrelang die Schule geschwänzt hat und jetzt zur Abschlussprüfung antreten soll. „Aber Sie sind doch ein studierter Mann! Kollege Lehnert hat mir so viel Positives über Sie berichtet. Mit Ihrer Kreativität und Ihrem Einsatz werden Sie sicher auch auf diesem Gebiet erfolgreich arbeiten können. Ich bin gespannt auf Ihre ersten Vorschläge.“

Dieter starrte vor sich hin.
„Wenn Ihnen etwas nicht klar wird, können Sie mich ruhig fragen – oder die anderen Kollegen aus der Abteilung. Wir helfen Ihnen gern. So, und nun zeige ich Ihnen Ihr Büro und lasse Sie erst mal allein. Sicher möchten Sie sich ganz in Ruhe mit der neuen Materie vertraut machen.“

Dieter saß den Rest des Tages reglos in einem vielleicht zehn Quadratmeter großen Büro an einem Schreibtisch, auf dem ein nagelneuer PC thronte und ein Stapel Papierunterlagen lag. Aus den Regalen an den Wänden glotzten ihn Dutzende graue Ordner wie gehässige Kobolde an. Das Fenster gab den Blick auf einen blassgrauen, regenverhangenen Himmel über Mülheim frei.

der neue Arbeitsplatz

Er musste mit jemand reden, mit jemand, der ihm erklären konnte, was da gerade mit ihm passiert war. Einen Moment überlegte er, ob er Hannes anrufen sollte. Vielleicht hätte der einen Moment Zeit, zu ihm hochzukommen. Aber da fiel ihm ein, dass es keinen Hannes mehr gab bei der EWV, den er hätte sprechen können. Auch ihn hatten sie ja fertig gemacht. Noch schlimmer: Rausgeworfen.
 Er kam sich vor, als wäre er gekidnappt worden.

Einen verletzten Mann kann man nicht trösten

Emotional völlig erledigt kam er abends zu Hause an. Er warf sich in seinen Sessel und stierte auf die leere Mattscheibe des Fernsehers. Suse stand vor der Küchentür und sah besorgt zu ihm hin. Erst nach fünf geschlagenen Minuten wagte sie es, etwas zu sagen.
„Dieter, was ist passiert?“ Ihre Stimme zitterte.
„Sie haben mir meine Arbeit weggenommen“, stellte er bitter fest. Er sah sie nicht an, sondern starrte weiter blicklos auf die Glotze.
„Was? Warum denn? Wer hat das gemacht? Aber das kann doch keiner, das geht doch gar nicht …“ Suse verstummte.
„Es geht offenbar doch, Suse. Ich kann es selbst nicht fassen. Ich kann es immer noch nicht fassen.“
Suse lief zum Kühlschrank und holte ihm ein Bier. Dieter winkte ab. Sie blieb zögernd neben ihm stehen. Nach kurzer Zeit griff er doch danach und trank hastig, als könnte ihn das Trinken vor dem Verdursten retten.
Suse hatte sich zu ihm gesetzt und sah ihn besorgt an.

„Nun erzähl doch mal! Ich hab es immer noch nicht verstanden. Du sollst nicht mehr die Leute beraten?“, traute Suse sich jetzt zu fragen.
„Ich kam heute früh nichts ahnend in mein Büro und da saß jemand an meinem Schreibtisch. Sie haben in meiner Abwesenheit einfach meine Stelle neu besetzt.“
„Aber das geht doch nicht! Er kennt doch deine Klienten nicht. Die werden sich beschweren, Dieter. Die werden verlangen, dass du das wieder machst.“ Suse lächelte Dieter tapfer an.
„Ach Suse, das würde die Leute vom Vorstand nicht jucken. Sie haben offenbar andere Pläne mit der EWV und mit mir. Und die ziehen die eiskalt durch, egal was unser einer dazu sagt.“
Suse schwieg betroffen. Dann sah sie resigniert auf und fragte: „Und bist du jetzt arbeitslos?“

„Nein, nein. Sie entlassen mich nicht. Das können sie nicht. Ich bin unkündbar, weil ich schon so lange für die EWV arbeite. Allerdings soll ich jetzt etwas ganz anderes machen und irgendwelche Anträge stellen, damit die EWV Geld bekommt für irgendwelche neuen Projekte, die bisher nur auf dem Papier stehen. “
„Ach“, meinte Suse.
„Aber ich habe das nicht gelernt, Suse!“, rief Dieter jetzt, den ihre resignative Miene störte. „Das ist nicht mein Beruf. Ich bin Lebensberater, Psychotherapeut, Psychologe. Sie hätten den Neuen da hinsetzen können, der hat schließlich BWL studiert. Stattdessen soll der nun meine Arbeit machen. Das sind doch völlig verrückt. Völlig unsinnig!“
„Armer Dieter. Das ist ja schlimm!“ Suse seufzte.
„Noch schlimmer“, bestätigte Dieter mit Nachdruck.

Dann sagte keiner mehr etwas.

Irgendwann deckte Suse den Tisch. Dieter setzte sich wie ein halb Ertrunkener und kaute lustlos an seinen Schinkenbroten.
„Und sonst?“, fragte Suse plötzlich.
„Wie? Was meinst du?“
„Kriegst du das gleiche Geld?“
„Meine Güte, das will ich hoffen. Eigentlich müssten sie mir dafür das Doppelte geben!“
„Aber dann ist es ja nicht ganz so schlimm. Ich dachte erst, du wärst jetzt arbeitslos.“ Suse lächelte erleichtert.

„Doch, es ist schlimm! Vielleicht wäre ich lieber arbeitslos, als das. Da würde ich mich nicht so verarscht fühlen. Jetzt darf ich mich in diese dämlichen Ordner reinwühlen, die mich alle nur ansehen wie böhmische Dörfer. Und meine Klienten und Klientinnen bekommen nicht mehr das, was sie brauchen. Wer weiß, wie viele von ihnen jetzt wieder krank werden oder durchdrehen. Es ist unverantwortlich, sie einfach so hängen zu lassen!“
„Ich dachte, deine Arbeit macht jetzt dieser neue Typ?“
„Suse, wenn du den gesehen hättest! Der macht eher wieder kaputt, was ich mit meinen Klienten bisher erreicht habe. Er hat damit geprahlt, dass er vier meiner Fälle bereits abschließen konnte – erfolgreich, meint er. Ich will gar nicht wissen, wen er meint.“

Einen Moment lang sahen sie beide ratlos vor sich hin.
„Ich könnte mir vorstellen, warum sie dir die Stelle weggenommen haben“, meinte Suse plötzlich.
„Was?“ Dieter sah Suse überrascht an. Er wollte eigentlich nicht hören, was sie da im Kopf hatte. Wieso kam Suse überhaupt auf die Idee, sie könnte etwas dazu sagen? Sie hatte doch wirklich keine Ahnung, worum es ging. Aber dann fragte er doch unwillig: „Was denkst du: Warum denn?“
„Du warst ihnen vielleicht zu langsam. Du hast zu lange beraten. Sie wollen, dass das schneller geht.“
„Wie kommst du darauf?“, fragte Dieter schockiert.
„Ich meine nur, weil du immer erzählt hast, du würdest dir die Zeit nehmen, die du brauchst. Wer kann denn das heute noch?“
Dieter runzelte die Stirn. „Du hast vermutlich recht“, gab er schließlich zu. „Ich war ihnen nicht effizient genug. Ja, das wird es sein. Es hat mich also auch eingeholt. Ich rechne mich nicht, das ist es.“
„Wie?“
„Na, sie denken vermutlich, ich würde zu viel Geld kosten.
„Könntest du denn nicht einfach ein bisschen schneller arbeiten?“, fragte Suse vorsichtig.

„Suse, wie kannst du so was fragen! Ich mache genauso schnell oder so langsam, wie nötig. Natürlich kann man einen Menschen schon nach zwei Sitzungen mit einem guten Ratschlag nach Hause schicken und sich das als Erfolg anschreiben. Was allerdings danach passiert und ob dieser Mensch diesen Rat umsetzen kann, ob er es überhaupt versuchen wird, das weiß man nicht. Hauptsache, ein Fall ist erfolgreich abgehakt, das ist gut für die Statistik. Danach berechnet sich für das nächste Jahr das Budget, das unser Träger aus öffentlichen Mittel beziehen kann. So ist das nämlich!“

Während er sprach, fielen ihm plötzlich Dinge ein, die er völlig vergessen hatte. Vor gut einem Jahr hatte Friedhelm eine Statistik über die Dauer der Fälle bei den einzelnen Mitarbeitern zur Diskussion gestellt. Dieters Fallverläufe waren eindeutig die längsten. Aber keiner hatte daran Anstoß genommen, von niemandem wurde Kritik geäußert. Was aber, wenn Friedhelm ihn auf diese Weise darauf stoßen wollte, dass er sich ein wenig mehr beeilen könnte?

Eine andere Bemerkung kam ihm in Erinnerung, die einmal in der Kantine gefallen war, von einem Mitarbeiter aus der teilstationären Kindergruppe: „Na Dieter, du hast es gut! Kannst mit deinen Leuten einfach solange arbeiten, bis du ein vernünftiges Ziel erreicht hast. Wer kann das denn noch? Du hast wirklich das große Los gezogen.“ Dieter hatte damals gelacht und wieder einmal bei sich gedacht: Was habe ich doch für ein Glück mit meinem Arbeitsplatz! Aber jetzt fragte er sich, woher dieser Mensch eigentlich solche Informationen über ihn und seine Arbeit gehabt hatte. Wurde etwa hinter seinem Rücken über ihn geredet? Seit wann? War er vielleicht allgemein bekannt als der langsame Dieter, oder so was?

Und noch etwas fiel ihm ein, etwas, das Lehnert gesagt hatte, als er ihm die Mitarbeit bei dem Online-Beratungsprojekt anbot. Dieter hatte diesen Satz damals einfach überhört. Jetzt klingelte er ihm in den Ohren.

„Wissen Sie, Herr Ackermann, bei einer Online-Beratung ist es auch anders, was die zeitliche Perspektive betrifft. Bei der analogen Beratung blockiert ein Dauerfall natürlich den Durchlauf und bindet die Kapazitäten der Berater, die somit nicht mehr für andere Klienten zur Verfügung stehen können. Bei der Online-Beratung es nicht so problematisch, wenn ein Fall über einen längeren Zeitraum läuft als – sagen wir – über ein Jahr. Das dürfte Ihnen ja eigentlich besonders entgegenkommen, meinen Sie nicht auch?“

Ein Wink mit dem Zaunpfahl also! Und mit einem Mal wurde Dieter auch klar, dass Friedhelm ihn nicht zufällig zu dieser miesen Fortbildung geschickt hatte. Das Fallmanagement hatte er ihm also ans Herz legen wollen!
Dieter schüttelte den Kopf und versank ins Grübeln. Dass Suse neben ihm saß, hatte er völlig vergessen. Sie wartete ein bisschen, dann zog sie sich mit betrübter Mine in die Küche zurück.

Sklavenschicksal

Wenn er an den folgenden Tagen morgens zur Arbeit kam, bog er meistens automatisch in Richtung Lebensberatungsstelle ein. Er musste sich jedes Mal schmerzhaft bewusst machen, dass das nicht länger der Ort war, an dem er glücklich arbeiten konnte.

Die ersten Arbeitstage waren für Dieter ein Buch mit sieben Siegeln. Er verstand nur Bahnhof. Manchmal blitzte eine Erkenntnis auf, aber er fand den großen Zusammenhang nicht und vergaß sofort wieder, was er eben noch glaubte, begriffen zu haben. Nur allmählich wurde ihm klar, was von ihm verlangt wurde. Und er wusste, dass er genau das niemals können würde.

Missgelaunt saß er im fünften Stock, schaute auf den leeren Himmelsausschnitt und dachte an seine Klienten. Was sie wohl gesagt hatten, als er plötzlich fehlte, als man ihnen dann mitteilte, sie könnten sich jetzt mit ihren Anliegen an einen Herrn Hiltrup wenden? Für einige seiner Leute war das mit Sicherheit eine mittlere Katastrophe, viele werden nicht mehr gekommen sein. Wie und bei wem hatte Hiltrup mit seinen Schnellverfahren das Ende der Beratung eingeleitet? Hoffentlich war nicht Paul Heisinger einer davon. Das wäre für Paul ein großes Unglück.

Als er mittags in der Kantine auf seinen früheren Kollegen Stefan traf und ihn fragte, ob er wusste, wie die Fallübernahme damals gelaufen war, wich Stefan dem Gespräch aus. Er wäre nicht daran beteiligt gewesen, zumal es während Dieters Krankheit viele neue Fälle gegeben hatte. Er und seine Kollegen mussten das alles ja nun ohne Dieter bewältigten.

„Das hört sich an, als hätte ich mir einen faulen Lenz gemacht. Ich hatte eine Bandscheiben-Operation, Stefan. Und was du sagst, das klingt so, als würde ich mich da oben im 5. Stock vor der Arbeit in der Beratungsstelle drücken. Als würde ich nicht für mein Leben gerne neue Fälle übernehmen, wenn man mich nur lassen würde!“, hatte Dieter geantwortet.
Stefan nickte verständnisvoll, aber er sagte nichts. Er begann seinen Teller abzuräumen und wandte sich dabei an seinen anderen Nachbarn und fragte ihn, wann wohl die nächste Betriebsversammlung stattfinden würde. Dieter ließ er einfach links liegen.

Auch in den darauffolgenden Tagen spürte Dieter, dass die alten Kollegen von ihm abrückten und ihn wie einen Fremden behandelten. Wenn er etwas sagte, ging keiner auf ihn ein. Niemand erkundigte sich nach seinem neuen Arbeitsplatz.
Ab dem fünften Tag mied Dieter es, die Kantine zu der Zeit zu betreten, wo er Gefahr lief, die alten Kollegen anzutreffen. Er gehörte nicht mehr dazu, das zeigten sie ihm deutlich.

Es gab Phasen in diesen ersten Wochen am neuen Arbeitsplatz, da versuchte Dieter, pragmatisch an die Probleme heranzugehen. Er gab sich alle Mühe, die finanziellen Fragen und auch die für ihn fremde haushalterische Sichtweise auf die sozialen Problemstellungen wenigstens zu begreifen und sie trotz seiner inneren Abwehr als ernstzunehmende Fragestellungen für sich zu akzeptieren. Das hielt er meist jedoch nur wenige Stunden aus.

Schließlich traf er sich mit Werner. Auch heute hatten sie die Kneipe gewählt, in der sie sich meist trafen, wenn es etwas zu besprechen gab. Jetzt war es an ihm, seinem Freund sein Leid zu klagen. Werner gab sich alle Mühe, seinem verzweifelten Freund beizustehen, aber so ganz verstand er die bodenlose Traurigkeit nicht, die Dieter auf einmal zeigte.
„Gut, das ist nicht das, was du gelernt hast, das verstehe ich ja, Dieter. Aber immerhin bekommst du dasselbe Gehalt weiter, das haben sie dir doch zugesichert, oder?“
„Ich glaube, du verstehst mich nicht“, insistierte Dieter. „Weißt du, es ist ein Unterschied, ob du elektrische Leitungen legst, und dann sagen wir zum Elektroniker umgeschult wirst, oder ob du mit Menschen arbeitest und plötzlich etwas völlig anderes, dir Fremdes machen sollst, was mit dem, was du gelernt hast, nichts zu tun hat. Bei meiner Arbeit ist …“ Er suchte nach dem passenden Begriff und sah Werner dabei an, als hinge sein Leben davon ab, ob ihm das richtige Wort einfallen würde. „Eine Arbeit in der psychosozialen Beratung, die kann man nicht einfach gegen eine Arbeit tauschen, wo man sich nur mit Zahlen, Gesetzen, Geld und der Frage befasst, ob der Antrag geschickt genug gestellt wird, damit die Knete fließt. So kann ich nicht denken, Werner. Sollen es die tun, die es können! Aber ich brauche Gespräche, brauche Menschen, ihr wachsendes Vertrauen, die Spannung, ob sie es schaffen, sich selbst zu helfen. Ich will wissen, ob sie die Kurve kriegen und ob sie meinen, meine Arbeit hätte ihnen geholfen.“

Dieter holte tief Luft und sah Werner voller Verzweiflung an.
Die Bedienung hatten den beiden inzwischen ihr Pils gebracht. Aber Dieter war viel zu erregt, um zu trinken.
„Jetzt stehe ich da wie ein Idiot“, fing er wieder an, als Werner nichts sagte. „All meine Erfahrungen und mein Können scheinen nicht mehr gebraucht zu werden. Dabei bin ich sicher, dass die meisten meiner Klienten sofort wieder zu mir kämen, wenn man ihnen die Gelegenheit böte. Aber die im Vorstand wollen das nicht. Ich glaube, Suse hat recht: Ich sollte ganz bewusst aus der Lebensberatung rausgezogen werden, weil sie meinen, ich wäre zu langsam und deswegen zu teuer. Sie denken vermutlich, ich würde an den Fällen kleben, würde die Klienten von mir abhängig machen, ich könnte einfach nicht loslassen …“
„Und, ist da was dran?“
„Nein, Werner, nein! Ich bin davon überzeugt, dass ich mir genau die Zeit nehme, die es braucht, und nur so viel, wie erforderlich ist. Aber heute ist so was eben Schnee von gestern. Heute geht man nicht mehr so intensiv auf die Klienten ein. Da geht es nur darum, dass sie möglichst schnell wieder funktionieren und keinen Ärger machen. Wenn es sein muss, kriegen sie eben Tabletten. Das ist billiger als viele Beratungsgespräche. Es ist wie bei dir auf Arbeit“, fiel ihm ein. Er sah Werner direkt an: „Erinnerst du dich nicht, wie du mir erzählt hast, was bei euch neuerdings  los ist?“

„Du hast recht, daran dachte ich eben auch. Und wir glaubten damals, bei dir würde so was nie passieren …“, stimmte Werner zu.
„Ich hätte es wissen müssen. Es gab genug Vorwarnungen und Veränderungen in meiner Beratungsstelle. Die anderen haben sie bemerkt und offenbar geschluckt. Aber ich habe mich kein bisschen besser verhalten: Ich habe mich stur gestellt und die Augen zugemacht. So ist das.“

Sie schwiegen. Werner bestellte ein neues Pils, Dieters erstes Glas war noch immer fast voll. Werner seufzte, sah seinen Freund mitleidig an und meinte dann:
„Die Welt wird gerade irgendwie vor die Wand gefahren, findest du nicht? Was kann man denn da machen?“
„Sag mir lieber erst mal, was ich machen kann!“
„Vielleicht kannst du dich beschweren? Vielleicht sprichst du noch mal mit deinem Chef?“
„Du ahnst nicht, wie die auf der Leitungsebene mich plötzlich behandeln. Wie einen kleinen Lehrling, wie einen Idioten.“
„Du könntest kündigen und dir eine andere Stelle suchen, oder?“

„Ich weiß nicht. Wer nähme mich noch mit 59? Ich bin nach Tarif schon viel zu teuer. Und ich frage mich auch ernsthaft, ob meine 20-jährige Erfahrung als Lebensberater heute bei anderen Trägern noch etwas wert ist. Ich habe schon eine Weile von Kollegen aus anderen Städten gehört, dass bei ihnen dieser idiotische Umwandlungsprozess in einen Sozialbetrieb, wie sie es nennen, im vollem Gange ist. Und wenn ich kündige, von meinem Chef würde ich mit Sicherheit ein Zeugnis bekommen, das vor allem meine mangelnde Mitarbeitsbereitschaft bei Innovationen und Überlegungen zur Rationalisierung hervorheben würde. Damit bekäme ich keine Stelle, glaub mir, zumindest nicht bei evangelischen und katholischen Trägern.“

„Vielleicht wären sie sogar froh, wenn du selbst weggehen würdest? Dann bekämst du sicher auch ein besseres Zeugnis.“
„Ich will ein gerechtes Zeugnis, keine milde Gabe, weil man mich loswerden will!“, donnerte Dieter plötzlich los. Er erschrak selbst vor seiner lauten Stimme. Die Leute in der Gaststube sahen sich nach ihm um. Dieter verstummte.
„Ach Dieter, wenn ich nur etwas für dich tun könnte!“ Werner seufzte.
„Danke, es tut schon gut, wenn sich das mal jemand anhört.“

„Sprichst du nicht mit Suse darüber?“
„Doch, sie macht sich deswegen auch viel Sorgen. Aber sie kapiert einfach nicht, was das alles für mich bedeutet. Sie hat einfach keine Ahnung davon.“
„Ich doch auch nicht, Dieter.“
„Stimmt schon, aber du gibst dir wenigstens Mühe, mich zu verstehen.“

Nein, auch Werner kann mir nicht helfen, stellte Dieter auf dem Heimweg von der Eckkneipe fest. Suse schon gar nicht. Ihr reichte es, wenn er das Gleiche verdiente.
„Das ist doch erst mal das Wichtigste“, sagte sie immer wieder.

Kündigen, überlegte Dieter. Nein, und nochmals nein! Er hatte doch eigentlich einen wunderbaren Arbeitsplatz! Warum sollte er da kündigen? Er wollte nicht weg von der EH, er wollte, verdamm noch mal, einfach nur diesen Arbeitsplatz wiederhaben.

Ein Entschluss reifte in ihm.
Als er die Wohnung betrat sah Suse ihn erwartungsvoll an. „Und?“
„Ich werde morgen zum Chef gehen. Das können die nicht mit mir machen!“
Suse nickte zufrieden.

Als Suse später im Bett auf seine Bettseite kroch und versuchte, ihn zu küssen, ließ er sich ein wenig müde darauf ein. Nach kurzer Zeit merkte er jedoch, dass er keinen Steifen bekam. Er erstarrte. Das war ihm mit Suse noch nie passiert! Er wusste nicht, wie er diese Tatsache vor ihr verbergen oder wenigstens erklären und damit als vorübergehend entschuldigen könnte. Er wandte sich von ihr ab. Suses Umarmung ging ins Leere. Suse sagte nichts und zog sich auf ihre Seite zurück. Er konnte lange nicht einschlafen und hörte sie heimlich in ihr Kopfkissen weinen.

Der Herr Superintendent ist nicht mehr zuständig

Am nächsten Morgen saß Lehnert nicht hinter dem Schreibtisch, als Dieter ins Zimmer trat. Der Raum war leer. Während Dieter noch überlegte, was er machen sollte, kam er herein, schüttelte Dieter kräftig und herzlich die Hand und wies auf die Besuchersessel. Dieter atmete erleichtert auf.
„Herr Superintendent, ich muss mit Ihnen sprechen. Ich weiß, Sie haben mit der Versetzung sicher nur Gutes für mich in Sinn gehabt, aber dem ist nicht so. Ich habe es wirklich mit allen Kräften jetzt schon fast fünf Wochen versucht, aber diese Arbeit ist für mich unerträglich. Und ich kann sie nicht, ich begreife sie nicht. Es tut mir leid. Bitte, geben Sie mir meine alte Arbeit zurück oder versetzen Sie mich wenigstens in eine andere Einrichtung, wo ich mit Menschen arbeiten und meine Fähigkeiten anwenden kann. In der Verwaltung gehe ich kaputt.“

Dieter hatte sich im Sessel aufgerichtet. So konnte er besser reden. Er blickte auf seine Hände, während er sprach, aber er meinte zu spüren, dass Lehnert ihn wohlwollend anlächelte. Er fühlte sich gestärkt. Als er geendet hatte, sah er Lehnert hoffnungsvoll an.
Der seufzte jetzt melancholisch, setzte sich in seinem großen Sessel bequemer zurecht und meinte dann: „Lieber Kollege Ackermann. Ich habe es mir schon gedacht, habe es befürchtet – so möchte ich es mal sagen. Es war die Idee des Vorstandes. Ich habe versucht, sie davon abzubringen. Leider ist es so, dass mein Einfluss im Verbund nicht mehr sehr groß ist.“

Überrascht sah Dieter auf. Beinah hätte Dieter sein Bedauern ausgedrückt, so erbarmungswürdig blickte der Superintendant Dieter jetzt an.
„Es wird große Veränderungen geben, Ackermann, nicht nur für Sie. Was da auf die soziale und psychosoziale Arbeit zukommt … Sie können es mir glauben, es gefällt mir so wenig wie Ihnen, aber ich kann nichts daran ändern.“

#

Dieter warf Lehnert einen irritierten Blick zu. Meinte der das, was er da sagte? Woher auf einmal diese Einsicht? Neulich hatte er ihn doch völlig skrupellos nach oben in den 5. Stock geschickt, als sei das das Normalste von der Welt.
„Sie wissen wahrscheinlich noch nicht“ fuhr der Superintendant fort, „dass zum 1.1. ein neuer Geschäftsführer zu uns kommt. Ich werde die EWV nach Weihnachten verlassen. Auf mich warten andere, hoffentlich erfreulichere Aufgaben.“

Dieter war in seinem Sessel zusammengerutscht. Was nutzte ihm das Verständnis von Lehnert, wenn der nichts mehr zu sagen hatte? Missmutig schlurfte er zurück an seinen verfluchten Arbeitsplatz.

„Der Lehnert kann nichts machen. Am 1. kommt schon ein neuer Chef“, erklärte Dieter am Abend beim Abendessen. Mehr erzählte er nicht. Suse gab sich damit zufrieden.

Und Dieter stellte sich voller Widerwillen erneut den ihm zugewiesenen Aufgaben. Inzwischen war es später November geworden. Der Blick aus dem Bürofenster hatte an Freundlichkeit wahrhaftig nicht zugenommen. Dieters Verzweiflung wuchs. Er fraß sie in sich hinein.

Über m.s.

Ich war 18 Jahre Professorin für Soziale Arbeit an der FH Jena (Methoden, Hilfen zur Erziehung, Schulsozialarbeit). Davor war ich 18 Jahre in der Praxis. Studiert habe ich Psychologie in Münster und Soziale Arbeit in Frankfurt a.M. Bücher: Schwarzbuch Soziale Arbeit Engaging Hilfe zur Erziehung zwischen Professionalität und Kindeswohl Das kann ich nicht mehr verantworten Ambulante Hilfe zur Erziehung und Sozialraumorientierung
Dieser Beitrag wurde unter aktuelle Blogbeiträge, Deprofessionalisierung und Standardisierung der Sozialen Arbeit, Lage der Sozialen Arbeit, Romankapitel abgelegt und mit , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert