Bewältigungsstrategie 2: die schlauen Austrixer

Wie kann man in der Praxis mit den Zumutungen und Anforderungen  der Ökonomisierung umgehen, ohne sie einfach zu schlucken oder sich anzupassen?

Was ist z. B. , wenn das Qualitätsmanagement  unendlich viel kostbare Zeit schluckt, die für die Arbeit mit den Klienten verloren geht. Aber es wird verlangt und braucht dazu noch mehr Zeit, als vorgesehen. Was tun? Manch einer reagiert auf solche Situationen mit Tricks.  Man versucht, das Vorgeschriebene irgendwie schnell zu erledigen, aber dann die Zeit heraus zu arbeiten, die man für das braucht, was man für wichtiger hält. So merkt es keiner und man kann – heimlich – doch gute Arbeit machen.
IMeines Erachtens erweisen diese schlauen AustrixerInnen  ihrer Profession einen  Bärendienst: Sie signalisieren: „Alles in Ordnung!“ und riskieren, dass der Sozialen Arbeit der Hals immer weiter zugedrückt wird.

Hier ein Beispiel aus meinem Schwarzbuch:


Die Migrationsberatungsstelle in der Stadt M. hat zwei feste Mitarbeiterstellen à 30 Stunden. Daneben gibt es noch PraktikantInnen und einige ehrenamtliche BeraterInnen.
Bis vor eineinhalb Jahren hatten die hauptamtlichen Mitarbeiter für ihre Beratungen gerade mal die Zeit, die sie brauchten. Manches ging zwar schnell. Aber bei vielen MigrantInnen war eine langwierige Beratung nötig, weil allein die konkreten Informationen und ersten Hilfestellungen nicht gleich dazu führen konnten, dass die Betroffenen nun besser „funktionierten“. Im Vordergrund standen für die jungen MigrantInnen oft kulturelle Fremdheitsgefühle, unverarbeitete Erlebnisse in ihrer Heimat, Verständnisprobleme für die deutsche Bürokratie und Gesellschaft. Hinzu kamen oft auch einfach ganz persönliche Probleme und Belastungen, denen jeder Jugendliche ausgesetzt ist: Die Ablösung vom Elternhaus, die ersten Beziehungen usf. Die Arbeit in der Migrationsberatungsstelle erforderte sehr häufig, dass diese Probleme mit thematisiert und auch angepackt wurden. Andernfalls war das Ziel der Integration nicht zu erreichen. Dies aber bedeutete oft, mehrere Beratungsgespräche führen zu müssen, bevor mit konkreten Integrationsmaßnahmen und -schritten begonnen werden konnte.

Seit Beginn des Jahres hat der Träger neue verbindliche Rahmenbedingungen gesetzt, innerhalb derer für jeden Klienten nur eine begrenzte Zeit für freie Beratung zur Verfügung steht. Danach werden konkrete Ergebnisse mit der Methode Case Management erwartet, das auf praktische, konkret zu erfüllende Ziele ausgerichtet werden soll.

Was könnten die MitarbeiterInnen tun? Dass diese Begrenzung ihre Arbeit unsinnig einschränkt und die Qualität der Arbeit für viele Betroffene herabsetzen würde, war ihnen klar. Aber niemand hatte sie gefragt und auch niemand wollte sie hören.

Sie überlegten: Entweder, sie würden in Zukunft in jedem Fall darauf bestehen, schnell in das so genannte Fall Management einzusteigen und immer gleich hart und direkt an den konkreten Integrationsvorschlägen zu arbeiten. Dass sie dabei oft an ihren KlientInnen vorbei reden und sich ihre Bemühungen sinnlos im Kreis drehen würden, weil ganz andere Probleme und Themen die Mitwirkung der Betroffenen an den praktischen Lösungen blockieren, müssten sie dann in Kauf nehmen. Eine andere Lösung wäre es, bei nicht so belasteten „Kunden“ Zeit herauszuarbeiten, also noch schneller als vorgesehen mit ihnen fertig zu werden, um so Zeitkontingente für die schwierigen Fälle intern zu sichern.

Ein schlauer Plan, der aber Monate später zu einem bösen Erwachen führte. Ende des Jahres konstatiert der Träger, dass es offenbar zu viele Fälle gegeben habe, bei denen doch eigentlich weniger Zeit nötig gewesen wäre. Deshalb könne man getrost die Rahmenbedingungen noch ein wenig enger fassen. Die zeitlichen Vorgaben werden weiter gekürzt.
Das Korsett wird immer enger. Irgendwann geht den MitarbeiterInnen die Luft aus.

 

Die Botschaft aber, die die MitarbeiterInnen durch ihren „Trick“ an Geldgeber und Verwalter ihrer Arbeit gesendet haben, lautet: ‚Die Zeit, die ihr uns gebt, reicht aus. Alles o. k’. Wenn morgen weiter gekürzt wird, werden die Mitarbeiter ihre Kontingente noch gezielter und überlegter verteilen müssen – dennoch bleibt immer weniger Zeit und die Arbeit verliert auf eine schleichende, nach außen hin kaum erkennbare Weise, an Qualität und Wirkungsmöglichkeiten.

 

Über m.s.

Ich war 18 Jahre Professorin für Soziale Arbeit an der FH Jena (Methoden, Hilfen zur Erziehung, Schulsozialarbeit). Davor war ich 18 Jahre in der Praxis. Studiert habe ich Psychologie in Münster und Soziale Arbeit in Frankfurt a.M. Bücher: Schwarzbuch Soziale Arbeit Engaging Hilfe zur Erziehung zwischen Professionalität und Kindeswohl Das kann ich nicht mehr verantworten Ambulante Hilfe zur Erziehung und Sozialraumorientierung
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2 Antworten zu Bewältigungsstrategie 2: die schlauen Austrixer

  1. m.s. sagt:

    Hallo pils, noch mal. Ein wunderbares, besser gesagt ein wirklich trauriges Beispiel! Ich habe für mein geplantes Schwarzbuch ja Beispiele gesammelt. Das Buch mache ich jetzt gerade für den Verlag fertig. Aber ich sehe, man sollte weiter sammeln für ein Schwarzbuch II mit weiteren Praxisbeispielen. Wenn ich so ein Thema bei mir im Seminar anspreche, kommen auch immer gleich neue konkrete Fälle zur Sprache.

  2. pils sagt:

    Diese Situationen kenne ich nur zu gut aus der alltäglichen praxis ! ein beispiel. In einer kleinstadt in nrw betreibt ein kirchlicher träger seit den siebziger jahren eine schuldenberatung. über viele jahre wurde ein konzept entwickelt in dem der mensch im mittelpunkt der intervention stand. die schulden wurden als ausdruck von tempärer, mangelnder bewältigungskompetenz gesehen. über viele jahre wurde in dieser einrichtung gute und efolgreiche arbeit geleistet ( auch die mitarbeiter waren zufrieden, es gab praktisch keine fluktuation). die refinanzierung stand durch langfritige verträge nie zur diskussion. bis ende der 90 er jahre ! es fing an das die refinanzierung nur noch für jeweils 1 jahr genehemigt wurde. es fogte die forderung nach „qualitätsmanagement“, vorlage der fallzahlen usw. viel zeit (wie auch oben berichtet)musste fortan für das berichtsweisen, für die beantragung der finanzierung usw. aufgewendet werden. anfang der 2000 er jahre spitze sich die situation weiter zu. die refinanzierung der schuldenberatung wurde zum teil von der arge übernommen ( ein gefühlter erfolg im kampf um die refinanzierung, erstmal). es zeigte sich allerdings das nun auch die erwartungen und rahmenbedingungen einer ökonomisierten, dienstleistungsorientierten, arbeitskraftherrstellenden, humankapitalischtischen ARGE auf die schuldenberatung übertragen wurden. nunmehr dürfen nur noch alg 2 hilfebezieher die schuldenberatung in anspruch nehmen. sie müssen die „leistung“ bei der arge beantragen. bei nicht einhalten der termine werden sanktionen (kürzungen in 30% schritten) verhängt. die beratung wird auf grund der fehlenden ressourcen, auch der wie oben beschriebenen zeitbudges und der steigenden „fallzahlen“ in grossgruppen durchgeführt.
    ja und ?
    1. es ist nichts mehr zu finden von einem ganzheitliche über jahre gewachsenen konzept für die beratung von menschen mit schulden.
    2. der zugang zu der hilfe ist hochschwellig und muss sich über einen langen zeitraum und über verschiedene institutionen erarbeitet (verdient) werden.
    3. sanktionen schrecken die adressaten ab, die hilfe in anspruch zu nehmen.
    4. viele der adressaten brauchen individuelle beziehungen im hilfeprozess.
    5. der druck auf die mitarbeiter steigt, frust macht sich breit. die motivation sinkt, wenn nicht auch eigene konzeptionelle Vorstellungen umgestzt werden können.
    6. soziale arbeit wird instrumentalisiert, im sinne einer repruduktionsinstanz für humankapital: hat der mensch keine schulden mehr ( oder ist relativ befreit von den sorgen diesbezüglich) so lässt ersich bestimmt besser in arbeit vermitteln !?!?

    noch zwei punkte:
    1. der träger hat die verantwortung für die mitarbeiter der schuldenberatung. natürlich fällt es schwer diese zu entlassen, nur weil die refinazierung einem zum pakt mit der ökonomie zwingt.
    2.das fehlende profil und standing sowie die mangelnde gesellschaftliche positionierung der sozialen arbeit, erlaubt es natürlich auch sie in den „dienstleistungs schwitzkasten“ zu nehmen und sie zum instrument einer ökonomisierten sozialpolitik, im aktivierende sozialstaat zu machen.

    es grüßt
    pils

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