Gibt es denn DIE Soziale Arbeit?

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DIE Soziale Arbeit,  die gibt es so doch gar nicht. Es gibt Erziehungshilfe oder Arbeit im Krankenhaus oder Altenhilfe oder Suchtberatung …. ,  das ist doch jedesmal was anderes???

Natürlich, es ist so viel leichter zu erzählen, was man als Altenhelferin, als Jugendarbeiter, als Sozialarbeiter in der Psychiatrie oder als Erziehungshelfer macht. Aber machen die wirklich alles was anderes? Gibt es weder gemeinsame Aufgaben, Wege, Methoden, Ziele, Herangehensweisen? Wenn das so wäre, gäbe es wahrheftig keine Soziale Arbeit mehr.

 Warum ist es so schwer, das Gemeinsame zu definieren?

Alle drei unterstützen Menschen in problematischen oder prekären Lebenslagen bei der Bewältigung ihres Lebens.
Jenny macht genau das für ihre Senioren. Jens versucht das für seine Jugendlichen im Zentrum. Katrin würde das gerne im Krankenhaus leisten für die Menschen, die aufgrund ihrer Krankheit in eine Lebenskrise geraten sind. Wo ist der Unterschied?

  •  Jenny hat schon ganz schön Probleme damit, ihre alten Leutchen dazu zu kriegen, dass sie sich helfen lassen, dass sie bereit sind, etwas in ihrem Leben zu verändern. Das ist weder einfach noch geht es immer glatt oder gar schnell. Hat sie die Geduld oder verfällt sie in alte, fürsorgliche oder autoritäre Strukturen? Und hat sie überhaupt die Zeit dafür?
  • Jens sieht sich mit Erwartungen der Gemeinde konfrontiert, dass seine Jugendlichen auf all die gesellschaftlichen Probleme heftig reagieren, die sie täglich erfahren( Perspektivlosigkeit, Gewalt, Leistungsdruck und Abwertung gegenüber denen, die keine Leistungsträger sind oder werden können…). Und er hat zunehmend mit den Erwartungen zu kämpfen, dass er seine Jugendlichen dazu zu kriegen soll, dass sie sich anpassen, dass sie im aktivierenden Staat die Angebote annehmen und sich dann aber auch brav eingliedern, obwohl an den Problemlagen, auf die sie reagieren, nicht geändert wird. Kann Jens diesen Erwartungen etwas entgegensetzen? Kann er begründen, warum er anders, akzeptierende mit Jugendlichen umgehen will? Oder findet er es vielleicht nicht sogar erleichternd, dass er mit Druck und Sanktionen „endlich erreichen kann, dass sie sich bewegen?“
  • Katrin ist in ihrem Arbeitsplatz so eingeengt, dass sie eigentlich nichts tut als die Betroffenen zu verwalten, sie weiter zu leiten, sie zu verweisen etc. Sie reagiert auf konkrete Aufträge der Klinik, die ihre Betten bald wieder frei haben will und muss all die Gelegenheiten ausschlagen, in denen sie mit Betroffenen reden  und in denen sie sich mit ihren Sorgen und Wünschen, ihren Ängsten und Hoffnungen befassen könnte, weil niemand es von ihr verlangt und auch niemand dafür Zeitkontingente bereitstellt.

Was hat Jenny W., Sozialarbeiterin in der ambulanten Altenhilfe, und Jens P., Sozialarbeiter in einem Jugendberufshilfeprojekt, mit Katrin H., Sozialarbeiterin in der Krankenhaussozialarbeit miteinander zu tun?

Fast könnte man meinen: gemeinsam ist für alle vor allem, dass sie unter Kürzungen, Fremdbestimmung ihrer Aufgaben und ihrer Lösungsweg und unter prekären Arbeitsbedingungen leiden, dass ihnen für eine gute Arbeit zu wenig Zeit fehlt, es sei denn, sie opfern ihre Freizeit. Gemeinsam ist allen, dass sie befristete Arbeitsplätze haben bzw. am Jahresende nicht sicher sein können, ob ihr Arbeitsplatz erhalten wird, gemeinsam ist, dass sie für ihre Klienten nur begrenzt Parteiergreifen können, weil man ihnen Vorgaben macht, was sie tun und wie sie es tun sollen, gemein ist wahrscheinlich allen, dass sie viel mehr könnten, als von ihnen erwartet wird ….

  • Ist es am Ende die Ökonomisierung, die unserer Profession zeigt, was ihre gemeinsamen Aspekte und Merkmale sind?
  • Wir sollten nicht warten, bis uns die gemeinsame professionelle Not verbindet.
  • Wir sollten uns auch nicht auseinander dividieren lassen. Wenn wir gemeinsam etwas erreichen, uns stützen und miteinander etwas verändern wollen,  dann ist es wichtig, dass wir ein Gefühl dafür entwickeln, dass wir alle zu ein und der selben Profession gehören!

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  • Wir sollten die gemeinsame professionelle Aufgabe und Kompetenz herausschälen, uns selber klar machen und laut verkünden (allerdings auch aneignen J):

 Jenny, Jens und Katrin, alle drei unterstützen Menschen in problematischen oder prekären Lebenslagen bei der Bewältigung ihres Lebens, wurde oben gesagt.

Aber wie tun sie das? Wie gehen sie vor? Welches Menschenbild steckt dahinter? Welche Methoden brauchen sie dazu?

Gemeinsam ist allen, wenn sie sich wirklich als lebensweltorientierte Sozialarbeiter verstehen, dass sie diese Unterstützung auf eine Weise zu erreichen suchen, die die Menschenwürde, die Eigenaktivität der Klienten sichert und die die Betroffenen nicht für Probleme schuldig und verantwortlich erklärt, die gesellschaftliche Ursachen haben.

Und so würden eben auch im Detail alle Drei in ihrem Arbeitsfeldern und mit diesen unterschiedlichen Zielgruppen genau das Gleiche(nicht dasselbe) tun, auch wenn es konkret etwas anders aussieht, je nachdem ob ich mit alten Menschen, jungen Berufssuchenden oder erkrankten Menschen arbeite.  

Sie leisten Unterstützung bei der Lebensbewältigung, indem sie  

  • mit den Betroffenen zusammen Lösungen für Probleme suchen,
  • indem sie sich um einen angemessenen Ressourcenausgleich dort bemühen, wo die vorhandenen Ressourcen nicht reichen,
  • indem sie Unterstützungsangebote für die Betroffenen finden und erreichbar machen,
  • indem sie die Betroffenen motivieren, aktiv und selbstverantwortlich ihre Probleme anzugehen,
  • indem sie die Betroffenen ermutigen, ihnen Selbstbewusstsein vermitteln, sie als Menschen behandeln und um ihre Würde kämpfen,
  • indem sie mit dem Betroffenen den Weg erarbeiten, den er gehen kann und gehen will,
  • indem sie den Betroffenen dabei helfen, ihre Kompetenzen zu erweitern und dazuzulernen,
  • indem sie den Betroffenen dabei helfen, mit unveränderbaren Realitäten konstruktiv umzugehen,
  • indem sie ihnen helfen, sich gegen angebliche Realitäten zu wehren und ihre Rechte einzufordern,
  • indem man sie befähigt, sich gegen Ungerechtigkeiten und Unzumutbarkeiten aufzulehnen, sie als solche zu erkennen und mit dem Helfer gemeinsam Wege zu finden, sich nicht anzupassen oder aufzugeben.

 

Natürlich ist es nicht selbstverständlich, dass so Soziale Arbeit praktiziert wird. Es ist leider überhaupt nicht selbstverständlich. Es gibt genug SozialarbeiterInnen, die noch heute das alte fürsorgliche Modell aus der 1. Hälfte des letzten Jahrhunderts praktizieren. Und es gibt genug SozialarbeiterInnen, denen eine lebensweltorientierte Sozialarbeit viel zu anstrengend, viel zu kompliziert und viel zu wenig selbstbestätigend ist. Sie ziehen die alten Konzepte vor. Und genau die sind es dann, die die Herausforderungen von Ökonomisierung und aktivierendem Staat zu einer „Ich weiß, was für dich gut ist-Sozialarbeit“ und zum Einsatz von Fordern, Druck und Sanktionen begrüßen. Sie nehmen diese „neue“ Sozialearbeitskonzeption entspannt an und sind froh, dass diese anstrengenden „Grillen der Lebensweltorientierung“ endlich vergessen werden können.

Eine autoritäre, fordernde Sozialarbeit, die mit Macht und Druck arbeitet, kann allerdings all die oben genannten Ziele nicht erreichen. Will sie wohl auch gar nicht. Ihr würde es reichen, dass die Klienten endlich das machen, was die Helfer oder Verwalter als notwendig und richtig ansehen.

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sonst werde ich krank

heute bekam ich eine bemerkenswerte mail:

Kürzlich habe ich im Rahmen meiner Praxistätigkeit Teamberatungen in einem
Team gestaltet, das die Aufgabe der beruflichen Reintegration von Drogen-
und Suchtabhängigen zur Aufgabe hat. Träger ist ein Sozialunternehmen, der
viele Merkmale der Ökonomisierung aufweist.
Diese Mitarbeiter, gestandene
Sozialarbeiter, Ärzte, Psychologen, waren dermaßen eingeschüchtert durch
eine rigide Leitung des Trägers und der Angst vor Arbeitsplatzverlust, dass
mir die Luft zum Atmen kaum gegeben war, so erstickend und beklemmend war
die Atmosphäre. Als ich langsam und nach und nach im Rahmen von
Fallbesprechungen den Wiederspruch zwischen der abhängigen Haltung der
Mitarbeiter zu ihren Klienten, welches sie aus der Abhängigkeit führen
sollen, ansprach, können Sie sich vorstellen, wie da bei einigen die Tränen
flossen, wie es aus diesen Mitarbeitern heraussprudelte.
Eine Kollegin aus dem Team erzählte mir dann folgendes: ein Klient, der wieder irgendeine
Substanz konsumiert hatte, habe ihr beim Betrachten der Screening-Ergebnisse
gesagt: „Du steckst hier genauso in Abhängigkeit, wie ich. Wenn Du mich bzw.
Ihr uns hier nicht habt, dann könnt Ihr den Laden hier dicht machen. Also
machen wir hier einen Deal. Du verhinderst meine Knasteinweisung und ich
funktioniere hier in meiner Rolle als Kunde. Und ansonsten lass´ mich in
Ruhe.“ Darauf habe die Kollegin tatsächlich nicht reagieren können, weil die
Leitung des Hauses in einem hart umkämpften Markt die Plätze belegt haben
will.

Ich war erschüttert und musste danach sehr viel über Analogien zu
unserem Klientel in der EB nachdenken.
Auch wir gehen immer wieder mit
Klienten in einen Beratungskontext und wissen doch, dass unter den gegebenen
dürftigen Bedingungen eine nachhaltige, konstruktive Hilfe nicht leistbar
ist. Es ist in der Regel nicht mehr als der Löscheversuch kleinerer und
größerer Brände, die immer wieder aufflammen, wenn ich die Eltern bzw.
Familien erst nach vier, fünf oder sechs Wochen wieder einladen kann. Oder
wie formulierte es vor zwei Jahren bei einem Fachaustausch unseres Teams mit
dem Team der ortsansässigen kinder- und jugendpsychiatrischen
Institutsambulanz eine Kollegin dieser Einrichtung: „Wir wissen mittlerweile
von vornherein, dass wir unter den gegebenen Bedingungen unseren Klienten
nicht mehr helfen können. Aber wir brauchen ihre Krankenscheine und wir
verteilen die Termine im Jahr nach ökonomischen Gesichtspunkten über die
Quartale verteilt. Das ist die Maßgabe des Krankenhausträgers. Aber bitte
… das sage ich Ihnen im Vetrauen. Wir müssen ja auch unsere Familien
versorgen und brauchen den Arbeitsplatz.“
Was will ich damit sagen: die
Rolle der Menschen, die wir einst begleiten und unterstützen sollten ist im
Verlauf des Wandels zur Ökonomisierung mutiert. Früher nannten wir sie
Klienten. Dann hießen sie auf einmal Kunden. Inzwischen sind sie in erster
Linie Waren- und Handelsgut für Sozialunternehmen am Markt. Das allerdings
darf keiner formulieren. Ich tue es dennoch, sonst werde ich krank.

Nun habe ich doch wieder so viel geschrieben. Aber dieses Thema lässt mich
nicht in Ruhe, auch weil es ja nur ein Ausschnitt der
gesamtgesellschaftlichen Veränderung ist, die uns Bürgern ja immer näher auf
die Pelle rückt … eine Mischung aus purem Strukturfunktionalismus und
neoliberalem Anarchismus, die wie eine fortschreitende Osteoporose die
Grundstruktur und Ethik einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung
destabilisiert und auflöst.
Was können wir dem entgegenstellen? Unsere Lebendigkeit und unseren Mut. In
Anlehnung an einen alten emanzipatorischen Spruch formuliere ich dann gerne:
Brave Menschen kommen in den Himmel und die Frechen überall hin!

Dem ist nichts hinzuzufügen!

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über die Segnungen des Marktes

Sollte sich doch was bewegen in Deutschland? Allein am heutigen Tage höre ich zufällig im Radio drei aufgebrachte und böse Reportagen  über die Folgen der Vermarktlichung unserer Gesellschaft:

  • In Hollywood werden nur noch solche Filme gedreht, die garantiert Geld einspielen: Verfilmungen von Bestsellern, B-Picture von erfolgreichen Filmen etc.  Ein Risiko für einen Film, der kein großer Kinoerfolg wird, geht man nicht mehr ein. Filmemachen muss sich auszahlen, das vor allem anderen. Entsprechend sind sie. Traurige Perspektiven für Cineasten, sagt der Kommentator.
  • Die Sparkasse hat von ihren Kunden seit Jahren Psychoprofile erstellt, um daraus Strategien abzuleiten, wie man sie für bestimmte Anlagengeschäfte einfangen könnte. Entsetzen bei den Kommentatoren:  Denen geht es ja gar nicht darum, ihre Kunden in deren Interesse zu beraten, die wollen doch nur ihre Sachen verkaufen!
  • Ein Beitrag zu den modernen Söldnern , die als kaufbare Dienstleistung „Gewalt“ in  aller Herren Länder Kriege führen.  Ein Rückfall in frühere Jahrhunderte, eine  Folge der Privatisierungswelle, eine Armee, die, wie der Kommentator pikiert anmerkte, nicht die Bevölkerung schützen wird,  sondern ausschließlich die, die sie bezahlen.

Drei Phänomene, eine Ursache.

Nicht berichtet wurde von  der Aufforderung des Chefs eines Unternehmens, das Jugendberufshilfe anbietet, berufssuchenden Jugendlichen auf Teufel komm raus einen bestimmten Weiterbildungskurs aufzudrängen, egal, ob sie ihn gebrauchen können und ob er sie weiterbringen wird – einfach nur deshalb, weil der Kurs voll werden muss und die Gelder der ARGE nur fließen, wenn am Monatsende die Statistik stimmt.
Das habe ich nicht im Radio aber von einer betroffenen Sozialarbeiterin gehört.
Es hätte gut zu den drei anderen „Marktsegnungen“ gepasst.

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Jeder kämpft für sich allein

Jeder kämpft für sich allein?

Gedanken zur Notwendigkeit der (Wieder)Entdeckung der Solidarität in der Sozialen Arbeit 

veröffentlicht im  Forum Sozial 3/2010 des DBSH.

 

Soziale Arbeit ist bekanntlich einerseits eine
Instanz, die das gesellschaftliche System stabilisieren hilft, aber
gleichzeitig auch eine politische Kraft, die mit Blick auf die
gesellschaftlich induzierten Problemlagen von Menschen im
kapitalistischen Gesellschaftssystem eine kritische Sicht auf die
gesellschaftlichen Verhältnisse entwickelt (vgl. z.B. Böhnisch et al.
2005, S. 103), politisch aktiv werden und die Menschen befähigen kann,
sich gegen das System und seine Zumutungen zur Wehr zu setzten.

Das Verständnis der Sozialen Arbeit als politische
Kraft schlägt sich in ihren ethischen Grundhaltungen und ihrem
Aufgabenverständnis nieder: in der Parteilichkeit (mit der Klientel) und
in der Solidarität (mit Gleichgesinnten). Es verknüpft das berufliche
und (sozial-) politische Handeln auf verschiedenen Ebenen miteinander.

Parteilichkeit für die Klientel der Sozialen Arbeit ist
das Bemühen – trotz des immer auch bestehenden gesellschaftlichen
Auftrages – sich im Sinne des Mandates für die Menschen für deren
Bedürfnisse und Bedarfe einzusetzen und mit ihnen zusammen deren
Interessen zu verteidigen – im Zweifel auch gegen die Interessen des
Systems (vgl. z.B. Thiersch 1993, S. 13). In jüngster Zeit gerät die
Parteilichkeit immer mehr in Verruf und wird als unwissenschaftlich und
nicht mehr zeitgemäß kritisiert.

 

Solidarität bedeutet, sich mit
anderen Menschen zusammen für die gemeinsamen Interessen einzusetzen,
sich dabei gegenseitig zu stützen und gemeinsam gegen die Verhältnisse
zu kämpfen, die diesen Interessen im Wege stehen. Sie kann sich auf
unterschiedlichen Ebenen umgesetzt werden.

  1. Zum einen bedeutet sie das politische Engagement
    für soziale Gerechtigkeit. Hier geht es um die Frage, ob und
    wieweit die Profession an der Gestaltung des Sozialen und an der
    Schaffung von Solidarität mitwirken kann, will und muss (vgl. z. B.
    Lange/Thiersch 2006, S.217).
    Dieses Verständnis von Sozialer Arbeit als einer
    gesellschaftspolitischen Kraft, war zumindest in den 70er Jahren im
    Zuge der Kritik an der damaligen vorherrschenden
    sozialarbeiterischen Praxis durchaus verbreitet. Heute ist ein
    solches Verständnis von Sozialer Arbeit aber fast vergessen.
  2. Im engeren Sinne bedeutet Solidarität für Sozialarbeitende den gemeinsamen Einsatz der Berufsgruppe für berufs- und fachpolitische Interessen
    der Profession, z.B. für eine angemessene Bezahlung oder z.B. für
    die Sicherstellung der für qualifizierte Soziale Arbeit
    erforderlichen Arbeitsbedingungen. Dieser wäre gerade angesichts
    der zunehmenden Deprofessionalisierung und Prekarisierung der
    Sozialen Arbeit bitter notwendig.
    Die Solidarität innerhalb der Berufsgruppe war selbst in den 70er Jahren
    nicht besonders ausgeprägt. Zwar wurden Kooperation, Teamarbeit
    und Vernetzungsarbeit unter sozialen Fachleuten hoch gehalten.
    Gemeinsame Aktivitäten, z.B. um eine bessere tarifliche
    Eingruppierung durchzusetzen, gehörten aber nie zu den zentralen
    Tugenden oder Praktiken der Profession.

 

Im Folgenden soll zunächst in aller Kürze den
Hintergründen für das zunehmende Verschwinden der ethischen
Grundhaltungen in unserer Profession nachgegangen werden. Im Anschluss
möchte ich die Frage aufwerfen, wie es um die heutigen Sozialarbeitenden
bestellt ist: bestehen überhaupt noch Ansätze und Chancen für ein
Verständnis der Sozialen Arbeit, bei dem Parteilichkeit und Solidarität
unverzichtbare Grundhaltungen darstellen?

Der Aspekt der berufs- und fachpolitischen Solidarität innerhalb der Profession Soziale Arbeit wird in den weiteren Überlegungen dabei im Vordergrund stehen.

Parteilichkeit und Solidarität sind keine Nächstenliebe

Der Berufsgruppe der Sozialarbeitenden wird als
Berufsmotivation immer wieder so etwas wie „Nächstenliebe“ unterstellt.
Die Vorstellung von Sozialer Arbeit als selbstloser Nächstenliebe steckt
tatsächlich auch heute noch in vielen Köpfen, auch in denen der
Sozialarbeitenden selber.

Parteilichkeit ist jedoch etwas ganz anderes als
Nächstenliebe. Sie bedeutet das Partei Ergreifen für Schwächere und zwar
aus der ethischen Überzeugung heraus, dass diesen Schwächeren Unrecht
geschehen ist oder geschieht. Ihr Mangel an Ressourcen ist keine
individuelle Eigenschaft und schon gar kein individuelles Versagen,
sondern stellt eine soziale Benachteiligung dar, die nicht zu
akzeptieren ist.

Die Vorstellung, Soziale Arbeit sei letztlich
professionell ausgeübte Nächstenliebe ist aber vor allem auch dafür
mitverantwortlich, dass sich die Sozialarbeitenden seit jeher scheuen,
sich aktiv für ihre eigenen Rechte und Bedarfe einzusetzen. Wer anderen
selbstlos helfen will, so wird offenbar immer wieder gefolgert, der
sollte dabei keine Absichten für sich selber verfolgen.

Die Befreiung der Sozialen Arbeit von der
hartnäckigen Ideologie der selbstlosen Nächstenliebe, die Herleitung der
ethischen Prinzipien Parteilichkeit und Solidarität aus ihrer
sozialpolitischen Tradition und aus den Werten der Aufklärung würden
eine bessere Basis für die Berufsgruppe darstellen, wenn es darum geht,
ihre ethischen Werte gegen die heutigen neoliberalen Forderungen und
Vorstellungen zu verteidigen und abzugrenzen.

 

Der Verlust des professionellen Kerns der Sozialen Arbeit

Ein weiterer wichtiger Hintergrund für die
mangelnde Solidarität innerhalb der Berufsgruppe ist die Tatsache, dass
sich die Einheitlichkeit, das Gemeinsame, das Verbindende in der
Sozialen Arbeit immer mehr aufzulösen scheint in der unübersichtlichen
Fülle verschiedenster Arbeitsfelder, Organisationsformen,
Produktionsformen, Anstellungsträger usf. Bestimmte Methoden und
Techniken, vorgegebene konkrete Zielvorgaben oder Wirkungsmodelle,
Programme und Zielgruppenaufträge stehen im Vordergrund und verweisen
die Profession mit ihren fachlichen Kompetenzen und ethischen Werten in
den Hintergrund.

Der fachlich-ethische Kern der Sozialen Arbeit, ihr
Charakter als kommunikativer, interaktiver Prozess, der Menschen bei
der Bewältigung ihres Alltags unterstützen soll, verschwindet so immer
mehr (vgl. z.B. Galuske 2003). Ein gemeinsames Verständnis Sozialer
Arbeit, das als Grundlage für eine mögliche Berufsidentität dienen kann,
ist für viele nicht mehr nachvollziehbar und greifbar. Sozialarbeitende
in der Praxis haben deshalb große Schwierigkeiten, in der KollegIn, die
vielleicht in der gleichen Stadt aber in einem ganz anderen
Arbeitsfeld, bei einem anderen Träger, in einem völlig anderen
Aufgabenfeld und unter anderen Zielvorgaben tätig ist, die
BerufskollegIn zu erkennen und eine Ziel-, Haltung und
Interessengleichheit mit ihr auszumachen.

Es wäre vor allem die Aufgabe der Hochschulen,
diesen allen sozialarbeiterischen Aufgaben und Tätigkeiten innewohnenden
Kern der Profession wieder verstärkt zu vermitteln, die spezifischen
Kompetenzen der Sozialen Arbeit zu vermitteln und bewusst zu machen
sowie deren Verteidigung gegen nichtprofessionelle Absichten und
Vorstellungen konkret und aktiv zu erarbeiten. Wenn die Soziale Arbeit
sich als Ganzes mit gemeinsamen Interessen wahrnehmen könnte, hätte sie
eine wichtige Voraussetzung geschaffen für ein politisches
Selbstverständnis und auch für die Entstehung und Ausübung von
Solidarität untereinander.

 

Die neoliberale Umkremplung und ihre Folgen für das Verständnis von Parteilichkeit und Solidarität

Inzwischen hat der Neoliberalismus als die derzeit
herrschende und gesellschaftlich verordnete Ideologie die Soziale
Arbeit, wie ja auch die Gesellschaft insgesamt, mehr verändert, als wir
es uns mitunter eingestehen wollen.

Ein Verständnis von Parteilichkeit für Sozial
Benachteiligte und Schwächere liegt dieser Ideologie und diesem Staat
grundsätzlich fern, denn diese setzt die Annahme voraus, dass bestimmte
individuelle Probleme gesellschaftliche Ursachen haben (können) und
somit eine gesellschaftliche Verantwortung für deren Lösung besteht. Die
je individuelle Schuldzuweisung des aktivierende Staates macht
Parteilichkeit nicht nur scheinbar überflüssig, sondern auch
„gefährlich“, weil sie angeblich die Eigeninitiative der einzelnen
schwächt (vgl. z.B. Nolte 2004).

Der „alten Parteilichkeit“ wird zudem der Geruch
von Irrationalität und Unprofessionalität angehängt. Sie ist angeblich
heute der Dienstleistung gewichen (Lutz 2008). Soziale Arbeit wird zudem
zunehmend zu einem technischen, angeblich personenneutralen Verfahren
der Verhaltensänderung.

Die alte Vorstellung von einer Liebestätigkeit
Sozialer Arbeit aber hat der aktivierende Staat von der professionellen
Sozialen Arbeit abgetrennt und der privaten, persönlich motivierten
Barmherzigkeit anempfohlen und überlassen (vgl. Bütow/Chassé/Hirt 2008, S. 231; Spindler 2007, S. 31; Böhnisch et al. 2005, S. 238).

 

Mit der Solidarität macht der Neoliberalismus erst recht kurzen Prozess.

Als allgemeine (sozial-) politische Kraft ist
Solidarität ohnehin unerwünscht. Dort, wo jeder für sich alleine zu
sorgen hat, wo jeder für die Risiken seines Lebens alleine einstehen
muss und wo Versagen und Not allein die Schuld des Einzelnen ist und
bleibt, da sind Solidarität und politisches Engagement geradezu kontra
indiziert.

Nur die heimelige und für den Staat kostenfreie
Wärme des sozialen Nahraumes darf das Gesicht der Menschlichkeit und
Solidarität zeigen. Die Nutzung der Bürgerbewegungen und die Aktivierung
der sozialen Nahräume bedeuten – ähnlich wie die Barmherzigkeit, die
die Parteilichkeit ersetzen soll – das Abschieben der Solidarität ins
Private, Zufällige und vor allem unpolitische (vgl. z.B. Heite 2008, S. 113,114).

Der Solidarität innerhalb der Berufsgruppe
schließlich verabreicht der Neoliberalismus scheinbar den letzten
Dolchstoss: Aus Solidarität wird Konkurrenz und Wettbewerb, aus
Netzwerkarbeit ist längst eine Modernisierungsmethapher für mehr
Effizienz geworden, aus Solidarität unter Gleichen z.B. gegenüber dem
Arbeitgeber wird die Solidarität mit dessen Unternehmen und seinem
wirtschaftlichen Wohlergehen, von dem ja die eigene Existenz abzuhängen
scheint.

Auch unter BerufskollegInnen steht – und so soll es
auch sein – jeder und jede für sich alleine und damit auch gegen alle
anderen.

 

Gewerkschaftliche oder berufspolitische Organisation – wozu soll das gut sein?

Es ist eine bekannte wenn auch angesichts der
konkreten Berufssituation schwer zu begreifende Tatsache, dass
Sozialarbeitende heute mehr denn je berufspolitische oder
gewerkschaftliche Organisierung für sich nicht in Betracht ziehen. Der
durchschnittliche Organisationsgrad der Sozialarbeitenden in Deutschland
bei Gewerkschaften und Berufsverbänden überschreitet nicht einmal die
10% Marke Warum?

Bei unseren Veranstaltungen im Fachbereich im
vergangenen Sommersemester, bei denen Studierende mit Gewerkschaftlern
und DBSH-VertreterInnen über aktuelle Fragen ins Gespräch kamen, zeigte
sich eine unglaubliche Unwissenschat über zentrale Zusammenhänge
solidarischen Handelns.

Die Studierenden waren nicht nur erstaunt über die
ihnen offensichtlich völlig neuen Informationen im Bezug auf
berufspolitische und gewerkschaftliche Organisationen: „Das hatten wir
nicht in der Schule“ (ja warum eigentlich nicht!!??). Sie hatten vor
allem große Schwierigkeiten, den Sinn einer Organisierung zu verstehen:
„Warum sollte ich denn da beitreten? Ich trete doch auch sonst nicht in
jeden Verein ein“.

Solidarität wird offenbar von vielen auch als
unnütz angesehen oder der alten Selbstlosigkeitsideologie verdächtigt:
„Was nutzt mir das dann? Was gehen mich die andern an. Ich muss mich um
mich und meine Familie kümmern!“

Groß aber war immerhin das Staunen darüber, dass
sich z.B. mit dem DBSH jemand wirklich für ihre Interessen einsetzte und
den Wert ihrer Arbeit angemessen einschätzte. Am Abend vorher hatte bei
einer anderen Veranstaltung eine Vertreterin der Arbeitsagentur die im
Osten derzeit üblichen Bruttogehälter von 1500 Euro für
SozialarbeiterInnen verteidigt: „Mehr können sie heute eben nicht
erwarten“. Und hier, beim DBSH, war nun tatsächlich jemand, der diese
unmöglichen Verhältnisse offen und deutlich anprangerte und als
unerträglich geißelte. Das war eine neue, wichtige Erfahrung für viele
Anwesende.

Aber kurz darauf folgte die reichlich blauäugige
Frage „Können Sie denn – gesetzt denn Fall ich trete ein – dafür sorgen,
dass ich an meiner jetzigen Arbeitstelle mehr Geld bekomme?“ Und als
das verneint wurde, kam der enttäuschte Kommentar: „Aber was bringt es
mir denn dann?“ Dass es bei der gewerkschaftlichen oder
berufspolitischen Organisierung nicht darum geht, eine Dienstleistung
zur Durchsetzung der eigenen Interessen zu kaufen, dass es vielmehr
darum geht, selber für die eigenen Rechte einzutreten, schien für die
Studierenden keineswegs keines Wegs klar zu sein.

Ein DBSH Mitglied stellte aber schließlich richtig:

„Ich weiß, dass die Organisation nicht von heute
auf morgen meine Situation verändern kann. Aber wenn man jetzt nicht
anfängt, was dagegen zu tun, wird es doch immer schlimmer. Und mir
persönlich geht es besser, seit dem ich weiß, ich tue was, ich lasse mir
nicht mehr alles gefallen. Und ich weiß jetzt auch, dass ich dabei
nicht alleine bin. Und wenn wir noch mehr werden, dann werden wir auch
irgendwann Veränderungen erreichen!“

Ich bin mir nicht sicher, aber ich hatte den
Eindruck, dass diese Aussagen bei vielen der Anwesenden zwar auf blankes
Staunen, bei einigen aber auf großes Interesse stieß und dort der
Beginn einer neuen Erkenntnis gewesen sein kann.

 

Wie steht es um das aktuelle politische Selbstverständnis der Sozialarbeitenden?

Als ich 1993 an einer ostdeutschen Hochschule meine
Arbeit aufnahm, sagte ein Student, der im Seminar soeben eine
Kommilitonin hemmungslos vor allen anderen bloßgestellt hatte, zu seiner
Verteidigung: „Aber das ist doch jetzt so! Jetzt heißt es doch jeder
gegen alle. Wir leben doch jetzt in einer Ellenbogengesellschaft, oder
etwa nicht?“ Ich war schockiert. Aber er hatte völlig Recht.

Vor einigen Wochen fragte ich eine Studentin, ob
sie sich für eine Prüfung in einer Lerngruppe vorbereitet und ob ihr das
etwas gebracht hätte. Ich erhielt ich zur Antwort: „Eigentlich nicht.
Die anderen haben ja nur versucht, von meinem Wissen zu schmarotzen. Da
habe ich gesagt, Leute lest doch selber die Bücher!“ Und sie hatte der
Gruppe den Rücken zu gekehrt. Es herrscht unter den Studierenden wie
wohl unter den Praktikerinnen der Sozialen Arbeit eine zunehmende
Tendenz zur Entsolidarisierung.

Außerdem herrscht eine große Bereitschaft, sich an unprofessionelle und prekäre Arbeitsbedingungen anzupassen.

Hintergrund hierfür ist zum einen eine große Angst
schon bei unseren StudentInnen, bei Nichtanpassung den eigenen
Arbeitsplatz zu verlieren. In der Praxis sind die Erfahrungen ja auch
entsprechend: Wer den Mund aufmacht, steht in Gefahr, rausgeworfen zu
werden. Es warten immer 2,3,4 andere SozialarbeiterInnen, die gerne den
freiwerdenden Arbeitsplatz eingenehmen würden – ohne jede Aufmüpfigkeit
und zu allem bereit. Der Jugendamtsleiter, der offen sagte, dass er mit
dem zusammengestrichenen Budget nicht in der Lage sei, den rechtlichen
und fachlichen Ansprüchen der Jugendhilfe annähernd gerecht zu werden,
wurde auf der Stelle entlassen.

Ein anderer Hintergrund ist sicherlich auch die
gesamtgesellschaftlich induzierte Bereitschaft zur passiven Hinnahme von
prekären Lagen und die Nichtwahrnehmung und Nichtreflexion der
gesellschaftlichen Ursachen für diese Entwicklungen.

Vor diesem Hintergrund muss es wohl gesehen werden,
dass die in unserer Hochschule gezielt und intensiv geforderte
Auseinandersetzung mit den aktuellen problematischen Entwicklungen in
unserer Profession, von vielen Studierenden zunächst als sehr belastend,
als deprimierend erlebt werden. Sie verstehen oft nicht, warum wir als
HochschullehrerInnen sie in ein solches Dilemma verwickeln wollen: „Wenn
die Praxis doch heute anders tickt, wenn die lebensweltorientierte
Soziale Arbeit gegenwärtig nicht gewünscht und nicht bezahlt wird, wozu
soll man sie dann noch lernen oder gar verteidigen?“

Dennoch ist es uns gelungen, vielen Studierenden
die Augen zu öffnen, sie für die Probleme zu sensibilisieren und den
Wunsch bei ihnen zu wecken, sich den neoliberalen Anforderungen nicht
kampflos zu ergeben. Aber selbst solche Studierende, die verstanden
haben, mit welchen Problemen sie demnächst in der Praxis konfrontiert
werden, die die gesellschaftlichen Hintergründe begriffen haben und die
nicht mehr bereit sind, sich einfach anzupassen, selbst die entwickeln
keine Vorstellungen und Ideen für eine gemeinsame Gegenwehr. Die Idee,
sich zusammen zu tun, liegt auch für die eher Kritischen und
Sensibilisierten in weiter Ferne. Die Vorstellung vom Individuum, das
selber und alleine für sich kämpfen muss, steckt in allen Köpfen und
Poren.

 

Und dennoch bin ich inzwischen davon überzeugt,
dass ein elementares Bedürfnis nach Solidarität sehr wohl vorhanden ist
und rudimentäre, vielleicht auch erst einmal naive Vorstellungen über
mögliche Solidaritätsschritte innerhalb der Berufsgruppe vorhanden sind.
Es gibt nämlich durchaus das Bedürfnis bei Studierenden wie
Praktikerinnen, einen Weg für sich zu finden, der es ihnen ermöglicht,
den beruflichen Zumutungen und neoliberalen Herausforderungen nicht mehr
hilflos ausgeliefert zu sein. Sie suchen nach Möglichkeiten, nicht ganz
alleine zu sein bei ihrem Versuch, der Anpassung im Berufsleben zu
entgehen. Was sie sich denn wünschen würden für die Anfangszeit im
Beruf, in der neuen Stelle, in einer fremden Stadt, habe ich unsere
frisch gebackenen SozialarbeiterInnen gefragt. Die Antwort war
eigentlich viel versprechend: „Wir hoffen, dass wir an unserem neuen
Arbeits- und Lebensort ein paar Leute finden werden, die genau wie wir
diese Probleme sehen. Mit denen möchten wir uns dann zusammensetzen,
austauschen und uns irgendwie gegenseitig unterstützen.“

Solche Vorstellungen sind zweifellos noch weit von
der Idee einer Organisierung und von politischem, gemeinsamem Handeln
entfernt. Aber sie sind ein Anfang. Man sollte sie ernst nehmen. Sie
sind die Chance, die ergriffen und weiterentwickelt werden könnte.

 

Was wäre zu tun? Was könnte das solidarische Bewusstsein in der Berufsgruppe wecken?

Voraussetzungen für eine (Re-) Politisierung und (Re-) Solidarisierung der Sozialarbeiterischen Zunft sind aus meiner Sicht

  1. die Erkenntnis, dass die gegenwärtigen
    Probleme der Klientel sowie die der Profession von Menschen gemacht
    und keine unabwendbaren Naturgewalten sind,
  2. die Bereitschaft, sich zu wehren, für die
    eigenen Interessen und Rechte einzusetzen und sich nicht
    anzupassen, sich nicht treiben zu lassen, sei es aus Pragmatismus,
    aus Faulheit oder aus Angst,
  3. die Bereitschaft und Fähigkeit, sich mit
    Menschen gleicher Interessenlage und gleicher Gesinnung zusammen zu
    tun und gemeinsam gegen die bestehenden Missstände anzugehen.

 

All diese Voraussetzungen sind heute bei den
meisten Studierenden und Praktikerinnen nicht oder nur sehr begrenzt
gegeben. Solche Erkenntnisse, solches Wissen, solche Erfahrungen sind in
unserer gegenwärtigen Gesellschaft offenbar weitgehend verschüttet,
ausgelöscht oder sie werden auch gezielt verheimlicht und verhindert.

Es gilt, sie neu zu schaffen und zu vermitteln.
Dies sind die aktuell anstehenden Aufgaben für die Gewerkschaften, den
Berufsverband und für die Bildungseinrichtungen. Für die Studierenden
liegen eine große Chance und damit auch eine große Verantwortung bei den
Hochschulen.

Dabei geht es um folgende Vermittlungsinhalte:

  • Informationen über Möglichkeiten der Organisierung und über Interessenvertretungen,
  • Sensibilisierung für die aktuellen
    gesellschaftlichen Problemlagen und ihre Hintergründe, Aufklärung
    über und Reflexion der politischen Zusammenhänge,
  • Anregung zur Auseinandersetzung mit der
    Frage, ob man sich diesen Entwicklungen wehrlos unterordnen will
    oder ob man bereit ist, diese Anpassung zu verweigern.

Darüber hinaus aber ist es unbedingt notwendig, den
Betroffenen Erfahrungen mit Solidarität und mit gemeinsamem politischem
Handeln zu ermöglichen. Es sollte versucht werden, an den konkreten
Bedürfnissen nach Solidarität anzusetzen, an dem Wunsch, sich mit
Gleichgesinnten und gleich Betroffenen zusammensetzen und Austauschen
sowie stützen zu können.

Ich denke, viele Studierende wie PraktikerInnen
müssen ganz elementar erst einmal wieder erfahren, was solidarisches
Handeln ist, was ihnen das bringt, wie es geht und funktioniert. Das
kann innerhalb einer (berufs-)politischen Organisation geschehen, solch
eine Gruppe kann aber zunächst auch ganz spontan und persönlich zustande
kommen. Entscheidend ist, dass es für die Sozialarbeitenden einen Ort
gibt, an dem die Probleme ausgesprochen, nach ihren Ursachen hinter
fragt und Strategien für Lösungen entwickelt werden können. Ein Ergebnis
dieser gemeinsamen Überlegungen könnte sicher auch der Entschluss sein,
sich durch den Beitritt zu einer Gewerkschaft oder zum Berufsverband
weitere Ressourcen zu sichern und mehr Schlagkraft und Stärke zu
verschaffen. So verstanden wäre der Beitritt zur Organisation dann nicht
der vermeintliche Einkauf einer Interessenvertretungs-Dienstleistung,
sondern er wäre der Erkenntnis geschuldet, dass so ein Zusammenschluss
die Kräfte bündelt, Ressourcen stärkt und im Sinne einer großen, starken
Selbsthilfegruppe die eigene Durchsetzungskraft um ein Vielfaches
erhöht.

 

 

Literatur:

Böhnisch, L./Schröer, W./Thiersch, H. (2005): Sozialpädagogisches Denken. Wege zu einer Neubestimmung. Weinheim 2005

Bütow, B./Chassé, K.A./Maurer, S. (2006): Soziale
Arbeit zwischen Aufbau und Abbau. Transformationsprozesse im Osten
Deutschlands und die Kinder- und Jugendhilfe. Wiesbaden 2006

Galuske, M. (2008): Fürsorgliche
Aktivierung – Anmerkungen zu Gegenwart und Zukunft Sozialer Arbeit im
aktivierenden Staat. In: Bütow, B./Chassé, K.-A./Hirt, R. (Hrsg.): Soziale
Arbeit nach dem Sozialpädagogischen Jahrhundert. Positionsbestimmungen
Sozialer Arbeit im Post-Wohlfahrtsstaat. Opladen 2008, S. 9ff  

Heite, C. (2008): Soziale Arbeit im Kampf um Anerkennung. Professionstheoretische Perspektiven. Weinheim 2008

Lange, D./Thiersch, H. (2006):
Die Solidarität des Sozialen Staates – Die Solidarität des reformierten
Sozialstaates. In: Böllert, K./Hansbauer, P./Hansenjürgen,
B./Langenohl, S. (Hrsg.): Die Produktivität des Sozialen – den sozialen
Staat aktivieren. Sechster Bundeskongress Soziale Arbeit. Wiesbaden
2006, S. 211ff

Lutz, Roland: Perspektiven der Sozialen Arbeit. In: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) 12-13/2008.

Nolte, P. (2004): Generation Reform. Jenseits der blockierten Republik. Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung. Bonn 2004

Spindler, H. (2007): Sozialarbeit und der Umgang mit der Armut. Eine alte Aufgabe im neuen Gewand. In: Forum Sozial 3/2007, S. 29ff.

Thiersch, H (1993).: Strukturierte Offenheit. In: Th. Rauschenbach u. a. (Hrsg.): Der sozialpädagogische Blick. Weinheim 1993, S. 11ff

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kommt denn da auch noch mal was Positives?

Heute spricht mich eine Studentin auf mein Schwarzbuch an, das sie seit ein paar Tagen liest.
„Also ich muss Ihnen sagen, das ist ein schönes Buch. Aber trotzdem , ich bin jetzt in Kapitel 4 und es wird immer schlimmer, was Sie da schreiben und was ich da entdecke! Sagen Sie, wird es am Ende auch noch mal wieder positiv? Ich meine, wenn ich das lese, dann frage ich mich, warum ich das noch studiere!“

Ich versuche natürlich zu sagen, dass es wichtig sei, dieses „Schreckliche“ nicht einfach hinzunehmen, sondern sich dagegen bewußt aufzulehnen – und natürlich, Wege zu suchen, was man tun kann, um diese Entwicklung zu stoppen.  Dann schon fühlt man sich besser und viel stärker.

Aber so richtig wohl ist mir nicht bei solchen Reaktionen meiner LeserInnen. Ich will ja niemanden deprimieren und auch nicht den Teufel an die Wand malen.
Andererseits: es hat m.E. keinen Sinn, über die gegenwärtigen Tendenzen und Entwicklungen das Mäntelchen das Harmlosen und „nicht so schlimm Gemeinten“ zu hängen. Wenn wir nicht deutlich erkennen, wohin diese Reise geht und gezwungen sind, uns zu der Frage zu stellen, ob wir da mit wollen oder nicht, werden wir nichts bewegen. Alles steht und fällt aber mit der Erkenntnis, dass man sich nicht nur wehren muss, sondern es auch möglich ist. Ohnmächtig ist die Soziale Arbeit nur dann wirklich, wenn sie sich selber so sieht.

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Utopie oder Notwendigkeit?

Immer wieder betonen Studierende, wenn es um die Diskussion der gegenwärtigen Arbeitsbedingungen Sozialer Arbeit geht, dass man eben heute nicht von utopischen Bedingungen ausgehen kann.

Was heißt hier Utopie?

Hier wird als Utopie abgestempelt und damit als unerreichbar erklärt, was in Wirklichkeit notwendig ist.
Wenn z.B. jemand behauptet, die angemessene Ausstattung einer Schule mit Schulsozialarbeit brauche ein Team von mindestens 2 hauptamtlichen SozialpädagogInnen und mehreren zusätzlichen Kräften, damit sie wirklich an dieser Schule das bringen und entwickeln kann, was Schulsozialarbeit zu leisten im Stande ist, dann wird dies lächelnd mit Utopie abgetan und die 30 Stundenkraft darf weiter 3 Schulen gleichzeitig betreuen…

Ein ASD, der zur Kindeswohlschutzpolizei mit eigenen hohem Versäumnisrisiko verdammt wird, kann kaum wirklich mit Familien arbeiten und produziert somit die Krisen selber, auf die er dann hektisch reagieren muss. Als ich Studierenden ein GWA-Projekt des ASD aus Essen zeigte, dass ich mit Studiernden vor immerhin erst 13 Jahren besucht, sufzten sie und sagen, „Wie schön! Da kann man ja wirklich Soziale ARbeit machen. Aber sowas ist heute doch einfach nur eine Utopie.“

Wenn Soziale Arbeit nicht die Bedingungen erhält, die sie fachlich braucht, kann sie weder wirklich Wirkung entfalten noch den Beweis antreten, was sie kann.

Was tun?

1. Sozialarbeitende sollten wissen, was ihre Arbeit, ihr Konzept, ihr Einsatz in einer konkreten Praxissstelle, in einem Arbeitsfeld benötigt, um wirken zu können und

2. müssen sie sich stark machen dafür, diese Notwendigkeiten  unmissverständlich zu einzufordern.

3. Wenn sie nicht gewährt werden, muss man verdeutlichen, was dann – unter den unzureichenden Bedingungen – dann alles nicht geleistet werden kann und damit schlicht ins Wasser fällt.

Auch wir können nicht zaubern und aus Stroh Gold spinnen.
Wenn ein Arzt eine Blinddarmop machen soll, ohne die entsprechende Zeit und die notwendigen Werkzeuge gestellt zu bekommen, wird er auch nicht versuchen, die Sache mit bloßen Händen zu erledigen. Aber Sozialarbeitende zucken die Achseln und sagen: Solche utopischen Bedingungen kann man eben heute nicht mehr erwarten….

Drei mal kann man raten, wer sich über soviel Geduld und Anpassungsbereitschaft ins Fäustchen lacht!

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Warum sind Soziale ArbeiterInnen so wenig selbstbewußt?

In diesem Wintersemester habe ich ein Seminar zum Thema „Soziale Arbeit zwischen Professionalität und Ohnmacht“ angeboten. Die Studierenden kommen haufenweise. Hier liegt ganz offenbar ein großes Problem.

Zur Einstiegsdiskussion habe ich ihnen eine Liste mit 7 Fragen vorgelegt. Die Gruppe sollte abstimmen, in welcher Reihenfolge sie diese Fragen diskutieren möchte.

Folgende Fragen standen zur Debatte:

  1. Warum haben Sozialarbeitende eine so unterentwickelte berufliche Identität und so ein geringes fachliches Selbstbewusstsein?
  1. Welche Anteile haben die Sozialarbeitenden selber am gegenwärtigen Prozess der Deprofessionalisierung?
  1. Was können wir eigentlich, was andere Berufe nicht können? Was sind unsere Alleinstellungsmerkmale?
  1. Werden in der heutigen Praxis überhaupt professionell ausgebildete Soziarbeiter gebraucht?
  2. Wie können wir nach außen unsere Professionalität besser vertreten und deutlich machen?
  3. Wie könnte man sich gegen fachliche Zumutungen wehren?
    Welche Möglichkeiten bestehen, die Professionalität unseres Faches in der Praxis sicher zu stellen?
  4. Wie könnte man am Praxisort Gleichgesinnte finden und sich als kritische SozialarbeiterInnen zusammentun?

 

Und was wollten die StudentInnen diskutieren:

  1. Was können wir, was andere Professionen nicht können? (Alleinstellungsmerkmale)
    (Was können wir im Kontext der anderen Professionen nicht?)
  2.  Warum sind wir nicht selbstbewusst? Welchen Anteil haben wir selber daran, wie man uns sieht und behandelt?
  3. Wie können wir uns anders präsentieren, darstellen, unsere Ansprüche als Profession deutlich machen, uns vor anderen Professionen behaupten?

Die Frage nach dem, was in der Praxis wirklich los ist und ob Fachlichkeit heute gewünscht wird, stieß nur bei Wenigen auf Interesse.
Noch weniger schien der großen Mehrheit die Frage diskussionswürdig, wie man sich in einer solchen Situation wehren kann oder sich gar zusammentun könnte, um sich zu wehren.

Eine erschreckende Bilanz?
Ich weiß nicht, vielleicht  muss man erst mal an dem fehlenden Selbstbewußtsein und dem Professionsverständnis arbeiten, damit die Zumutungen der Praxis überhaupt als solche erlebt werden können?

Geduld ist angezeigt.

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Einladung ins Diskussions Café

Die AG FISCH an der FH Jena hat gestern die Idee entwickelt, mit ihren Beiträgen zur studentischen Veranstaltung Diskussions Café nicht nur im Stud IP des Fachbereiches präsent zu sein sondern für jeden zugänglich. Bei unserer Veranstaltung gestern Abend waren mindestens 5 Leute, die vor kurzem ihren Abschluss gemacht haben und nun schon in der Praxis ihre ersten Erfahrungen als Berüfstätige machen. Ihre Beiträge waren hochinteressant und brachten die Diskussion richtig gut voran.

Wir wollen Kontakt mit ihnen halten und dieses Netz weiter ausbauen. In ein paar Monaten werden alle Mitglieder der AG selber nicht mehr immaatrikuliert sein. Und wir wollen uns nicht verlieren, weder im Djungel des Alltags noch im Djungel neoliberaler Sozialpolitik.

So kamen wir auf die Idee, diese Blog dafür zu nutzen.  Prima Idee finde ich und lade hiermit alle AG FISCHler ein, unter der Kategorie Diskussions Café mitzuschreiben und mein Blog nach Herzens Lust zu nutzen.

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mit 28 wieder bei Null….

Dann stolperte Inges Tochter (28) Katrin zusammen mit ihrem Freund ins Haus um etwas zu holen, und wir kamen ins Gespräch.

Katrin hat nach dem Abi Kommunikationsdesign studiert. Danach hat sie an mehreren Stellen angefangen zu arbeiten. Sie wurde nach der Problezeit wieder entlassen. Darauf hin fing sie an, Praktika zu machen, also  unbezahlt irgendwelche Aufgaben zu übernehmen, alles in der Hoffnung, dass sie vom Arbeitgeber doch irgendwie entdeckt würde. Es folgten mehrere Jahre Arbeitslosigkeit.  Dazwischen immer wieder mal befristete Projekte.

Jetzt hat man ihr geraten, sich zur Medienkommunikationsdisignerin umschulden zu lassen. Das dauert 1,5 Jahre. Sie erhält dann Unterstützung von der Arge. Danach sind die Chancen auch nicht besser. Aber vielleicht hat sie ja doch Glück. Und irgendwas muss sie ja machen.

Katrin möchte so gerne in ihrem Beruf arbeiten. Sie gerät richtig ins schwärmen, als sie anfängt zu erzählen, was sie schon gemacht hat. Sie versucht sich und uns diese neue Weiterbildungals echte Chance zu verkaufen, bemüht sich um Motivation und frische Kraft.

Befragt, ob diese Art Arbeitsleben mit Praktika, befristeten Projekten , arbeitslosen Zeiten, Weiterbildungen etc. für ihre persönliche Lebensplanung nicht problematisch sei. Und sie sagt es klar: Sie kann an eine Familiengründung nicht denken. Ihr Freund ist Zimmermann und jobbt seit Jahren in irgendwelchen fremden Berufen. Auch er hat weder eine Perspektive noch irgendwelche Sicherheiten, was seine Zukunft betrifft. Sie beide fühlen sich jung und flexibel. Man sagt es ihnen so und sie sind stolz darauf. Aber sie würden gerne ein bisschen mehr Sicherheit für ihr Leben haben und endlich irgendwo ankommen.

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„Ihr Beratungskonzept ist nicht qualifiziert, Frau Jörgens*“

Am letzten Urlaubstag besuchte ich in Mainz eine alte Bekannte, die seit gut 20 Jahren als Berufsberaterin arbeitet. (* der Name ist natürlich geändert 🙂 ).
Spätestens bei ihren Erzählungen hat mich die Wirklichkeit eingeholt.

Inge hat zur Zeit ernsthaft Ärger mit ihrer neuen, jungen Chefin. Man wirft ihr vor, nicht qualifiziert zu arbeiten. In einem Mitarbeitergespräch wurde ihr mitgeteilt, sie berate nicht hinreichend effektiv und würde sich zu wenig an der Effektivität orientieren.   Es droht ihr eine Abmahnung, weil sie sich geweigert hat, einen jungen Mann für eine Weiterbildung anzumelden, die ihm bei seiner Lage und seiner gegenwärtigen Motivation absolut nichts brächte.
„Aber Sie wissen doch ganz genau, dass  bis zum Frühjahr unsere Statistik so da stehen muss, wie es die Bundesregierung plant. Melden Sie ihn an! Und wenn er nicht will, dann lassen sie sich was einfallen!“
Nun hat Inge seit 20 Jahren ihren Beraterberuf ausgeübt. Sie hat sich stets darum bemüht, dass ihre Beratung wirklich nützlich ist und den Menschen weiterhilft, die sie beraten soll. Sie hat sich nicht um Statistiken und abstrakte Erfolgsziele gekümmert, sondern Soziale Arbeit gemacht, die Menschen geholfen hat.

Aber das ist nicht mehr gefragt. Man kritisiert ihre Fachlichkeit, die sie über die politischen und ökonomsichen Ziele ihres Arbeitgebers stellt. Und wirft ihr mangelnde Qualität vor.
Inge fühlt sich ohnmächtig. Die Kolleginnen, die alle meinen, dass sie im Recht ist, schweigen, wenn sie gefragt werden und versuchen ihrerseits nicht aufzufallen.
Inge möchte die letzten Jahre ihrerer Berufstätigkeit noch etwas Sinnvolles tun und sie möchte Anerkennung für ihre fachliche Leistungen. Stattdessen sieht sie sich gefangen und eingesperrt in eine hirnrissige, verlogene Erfolgsideologie.

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