Bewältigungsstrategie 2: die schlauen Austrixer

Wie kann man in der Praxis mit den Zumutungen und Anforderungen  der Ökonomisierung umgehen, ohne sie einfach zu schlucken oder sich anzupassen?

Was ist z. B. , wenn das Qualitätsmanagement  unendlich viel kostbare Zeit schluckt, die für die Arbeit mit den Klienten verloren geht. Aber es wird verlangt und braucht dazu noch mehr Zeit, als vorgesehen. Was tun? Manch einer reagiert auf solche Situationen mit Tricks.  Man versucht, das Vorgeschriebene irgendwie schnell zu erledigen, aber dann die Zeit heraus zu arbeiten, die man für das braucht, was man für wichtiger hält. So merkt es keiner und man kann – heimlich – doch gute Arbeit machen.
IMeines Erachtens erweisen diese schlauen AustrixerInnen  ihrer Profession einen  Bärendienst: Sie signalisieren: „Alles in Ordnung!“ und riskieren, dass der Sozialen Arbeit der Hals immer weiter zugedrückt wird.

Hier ein Beispiel aus meinem Schwarzbuch:


Die Migrationsberatungsstelle in der Stadt M. hat zwei feste Mitarbeiterstellen à 30 Stunden. Daneben gibt es noch PraktikantInnen und einige ehrenamtliche BeraterInnen.
Bis vor eineinhalb Jahren hatten die hauptamtlichen Mitarbeiter für ihre Beratungen gerade mal die Zeit, die sie brauchten. Manches ging zwar schnell. Aber bei vielen MigrantInnen war eine langwierige Beratung nötig, weil allein die konkreten Informationen und ersten Hilfestellungen nicht gleich dazu führen konnten, dass die Betroffenen nun besser „funktionierten“. Im Vordergrund standen für die jungen MigrantInnen oft kulturelle Fremdheitsgefühle, unverarbeitete Erlebnisse in ihrer Heimat, Verständnisprobleme für die deutsche Bürokratie und Gesellschaft. Hinzu kamen oft auch einfach ganz persönliche Probleme und Belastungen, denen jeder Jugendliche ausgesetzt ist: Die Ablösung vom Elternhaus, die ersten Beziehungen usf. Die Arbeit in der Migrationsberatungsstelle erforderte sehr häufig, dass diese Probleme mit thematisiert und auch angepackt wurden. Andernfalls war das Ziel der Integration nicht zu erreichen. Dies aber bedeutete oft, mehrere Beratungsgespräche führen zu müssen, bevor mit konkreten Integrationsmaßnahmen und -schritten begonnen werden konnte.

Seit Beginn des Jahres hat der Träger neue verbindliche Rahmenbedingungen gesetzt, innerhalb derer für jeden Klienten nur eine begrenzte Zeit für freie Beratung zur Verfügung steht. Danach werden konkrete Ergebnisse mit der Methode Case Management erwartet, das auf praktische, konkret zu erfüllende Ziele ausgerichtet werden soll.

Was könnten die MitarbeiterInnen tun? Dass diese Begrenzung ihre Arbeit unsinnig einschränkt und die Qualität der Arbeit für viele Betroffene herabsetzen würde, war ihnen klar. Aber niemand hatte sie gefragt und auch niemand wollte sie hören.

Sie überlegten: Entweder, sie würden in Zukunft in jedem Fall darauf bestehen, schnell in das so genannte Fall Management einzusteigen und immer gleich hart und direkt an den konkreten Integrationsvorschlägen zu arbeiten. Dass sie dabei oft an ihren KlientInnen vorbei reden und sich ihre Bemühungen sinnlos im Kreis drehen würden, weil ganz andere Probleme und Themen die Mitwirkung der Betroffenen an den praktischen Lösungen blockieren, müssten sie dann in Kauf nehmen. Eine andere Lösung wäre es, bei nicht so belasteten „Kunden“ Zeit herauszuarbeiten, also noch schneller als vorgesehen mit ihnen fertig zu werden, um so Zeitkontingente für die schwierigen Fälle intern zu sichern.

Ein schlauer Plan, der aber Monate später zu einem bösen Erwachen führte. Ende des Jahres konstatiert der Träger, dass es offenbar zu viele Fälle gegeben habe, bei denen doch eigentlich weniger Zeit nötig gewesen wäre. Deshalb könne man getrost die Rahmenbedingungen noch ein wenig enger fassen. Die zeitlichen Vorgaben werden weiter gekürzt.
Das Korsett wird immer enger. Irgendwann geht den MitarbeiterInnen die Luft aus.

 

Die Botschaft aber, die die MitarbeiterInnen durch ihren „Trick“ an Geldgeber und Verwalter ihrer Arbeit gesendet haben, lautet: ‚Die Zeit, die ihr uns gebt, reicht aus. Alles o. k’. Wenn morgen weiter gekürzt wird, werden die Mitarbeiter ihre Kontingente noch gezielter und überlegter verteilen müssen – dennoch bleibt immer weniger Zeit und die Arbeit verliert auf eine schleichende, nach außen hin kaum erkennbare Weise, an Qualität und Wirkungsmöglichkeiten.

 

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Bewältigungsstrategie 1: „Wir müssen doch unser Brot verdienen können“

Wie bewältigen die PraktikerInnen die Zumutungen prekärer Arbeitsplätze, die unzureichenden Geld- und Zeitressourcen für ihre Arbeit und die Deprofessionalisierung, die sich überall breit macht?
Manche merken überhaupt nichts davon, weil sie es gar nicht anders kennen und einfach davon ausgehen, dass es eben so ist, wie es ist und man doch nichts daran ändern könne. Auch das ist eine Bewältigungsstrategie.

Viele aber sehen sehr wohl, welchen unsinnigen und Klienten feindlichen Einschnitten und Einschränkungen ihre Arbeit unterliegt. Aber sie wehren sich nicht, weil sie wissen, wie schnell sie durch andere MitarbeiterInnen ersetzt werden können. Es ist heute nicht ungefährlich, den Mund aufzumachen. Das ist  nicht von der Hand zu weisen und durchaus verständlich. Aber wo ist die Grenze? Wo ist der Punkt erreicht, wo man das, was einem zugemutet und abverlangt wird, nicht mehr mit seinem Gewissen  vereinbaren kann?

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Der aktivierende Staat deaktiviert

Gedanken zum Bildungsstreik

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Das ist eine These, die sich eine der Arbeitsgruppen überlegt hat, die derzeit im Seminar: „Wie man in sozialpädagogische Schläuche neoliberalen Essig füllt“ an dem Thema „Aktivierender Staat und Jugendarbeit“  sitzt.

Mit Genehmigung der Väter und Mütter dieses Gedankens darf ich hier zu dieser These ein wenig weiterspinnen…
Wie könnte das gemeint sein?
Aktiviert werden sollen Menschen und damit auch die Jugendlichen, sich mit aller Kraft anzustrengen, irgendwie auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen.Für die Jugendlichen, mit denen Soziale Arbeit zu tun hat, ist diese Aufforderung mitunter schon deshalb problematisch, weil die Berufs- und Ausbildungschancen für sie mehr als schlecht sind. Dennoch gilt: Sie müssen sich anstrengen, es ist ihr Ding. Wenn sie es nicht schaffen, sind sie selber Schuld.
Und für die Jugend an den Hochschulen? Wir haben es vor ein paar Tagen auf der Versammlung anlässlich des „StuRa Todes“ gehört: Keiner hat Zeit für so was. Alle sind bis zum Hals belastet mit dem Bachelor-Studium. Und alle müssen sich schrecklich beeilen, um auf die paar Züge aufspringen zu können, die sie nach vorne, nach oben bringen sollen. Sie haben nicht einmal die Zeit, zu schauen, wohin diese Züge eigentlich fahren.

Der aktivierende Staat richtet seine lernende Jugend ab zu Menschen, die nichts anderes mehr im Kopf haben als ihre mehr oder weniger große oder kleine Chance, doch noch den Wurstzipfel zu erreichen. Der Unterschied ist, das unsere Klienten wohl kaum mehr bekommen werden, als eben diesen Zipfel. Unsere Studierenden bekommen vielleicht (und ich wünsche es ihnen) mehr von der Wurst. Aber die Kosten dieses Runs sind auch für sie beträchtlich.

  • Deaktiviert sind sie alle: fast keiner engagiert sich mehr für etwas, was jenseits seiner Nasenspitze und jenseits dieses Wurstzipfels liegt. Warum auch, ist doch jeder für sich und sein Wohl selber verantwortlich und damit auch immer Konkurrent gegenüber allen anderen.
  • Deaktiviert heißt vor allem auch: Der aktivierende Staat entpolitisiert die Menschen: für Politik haben sie keine Zeit mehr, aber auch nicht mehr das Wissen und die Klarheit darüber, dass viele der Probleme, mit denen Menschen sich täglich herumschlagen müssen, von Menschen gemacht sind, Folge politischer Entscheidungen sind und damit auch veränderbar.
  • Deaktiviert heißt auch:  Es bleibt neben dem Run nach der Wurst so vieles am Wege liegen, für das man auch Kraft brauchen würde, für das es sich lohnt, stehen zu bleiben, nachzudenken, hinzuschauen. Die Menschen verarmen, auch unsere Studierenden. Mit Persönlichkeitsentwicklung und humanistischer Bildung hat unser Bachelor-Studiersystem nicht mehr viel zu tun.
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Was können wir tun?

Seit ein paar Jahren sprechen wir

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an unserer Hochschule  in den Seminaren zur Theorie der Sozialen Arbeit über Texte zur Ökonomisierung und zum aktivierenden Staat. Besonders die Studierenden, die bereits berufstätig sind und auch die, die gerade ihr großes Praktikum absolviert haben,sind mit dieser Thematik sehr ansprechbar. Es gibt spannende Diskussionen und die Liste der Geschichten über prekäre Arbeitsplatzbedingungen, über Zeitmangel für Beratungen, über befristete Projektfinanzierungen, mit denen sich Kinderschutzeinrichtungen mühsam über Wasser halten müssen,  hören gar nicht mehr auf. Galuske (2002, 2008)  empfiehlt Reflexivitätals Gegengift für die Zumutungen der Ökonomisierung und des aktivierenden Staates an die Praxis . Dafür tun wir inzwischen einiges. Aber mit Recht fragen die Studierenden immer wieder: Was können wir tun? Gehen wir nicht unter angesichts einer Praxis, die schon lange anders tickt? Müssen wir uns nicht anpassen, weil wir von unserer Arbeit leben müssen?
Dass es vielleicht einen Sinn machen würde, nicht als Einzelne zu kämpfen, spricht sich langsam herum. Es müsste so viel besser gelingen, störrischen Widerstand zu leisten, mit Forderungen nach Fachlichkeit und professionellem Arbeit die Träger und Geldgeber zu nerven und auf Arbeitsbedingungen zu bestehen, die eine gute Soziale Arbeit erst möglich machen. Es ist erstaunlich, wie unorganisiert und unpolitisch unsere Studierenden denken und handeln. Aber jetzt wollen sie mehr wissen und sich umsehen. Was kann man tun? Mit wem kann man sich zusammen tun? Wer unterstützt Soziale Arbeit in der Öffentlichkeit?

Auf eine mail-Anfrage einer Studentin an den DBSH , die wegen Informationsmaterial  angefragt hatte, kam keine Antwort. So was ist nicht gerade ermutigend. Besonders bei Leuten, die noch nicht wissen, wie lang der Atem sein muss, wenn man politisch etwas erreichen will. Da wir als ProfessorInnen der Meinung sind, dass Informationen zu den Möglichkeiten einer gewerkschaftlichen und berufsverbandspolitischen Organisation zum Studium dazu gehören, werden wir versuchen, im kommenden Semester eine Veranstaltung zu organisieren, zu der wir entsprechende VertreterInnen eingeladen werden. Ich bin gespannt, wie dort auf meine Anfragen reagiert wird.

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der Streik der Erzieherinnen geht uns alle an

Erzieherinnnen streiken weiter

Darauf haben wir so lange gewartet! Endlich gehen die Vertreterinnen sozialer Berufe auf die Straße, um für bessere Arbeitsbedingungen und die gesellschaftliche Anerkennung ihrer Arbeit zu kämpfen.

Man kann sie nur unterstützen! Hier der aktuelle Stand:

Aus:

Sozial- und Erziehungsdienst   ver.di

Tarifverhandlungen ergebnislos abgebrochen

19.06.2009

Keine Aufwertung der Sozial- und Erziehungsberufe

Die Tarifverhandlungen für die 220.000 Beschäftigten der Sozial- und Erziehungsdienste sind nach einem fünftägigen Verhandlungsmarathon am Freitagnachmittag ergebnislos abgebrochen worden. Die Arbeitgeber hätten „heute die Verhandlungsgrundlage verlassen“, erklärte der Vorsitzende der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) Frank Bsirske. Dies würden die Beschäftigten mit weiteren Arbeitskampfmaßnahmen beantworten.

Es habe keinerlei Bereitschaft für eine höhere Anerkennung und Aufwertung der Sozial- und Erziehungsberufe gegeben, betonte Bsirske. Die tage- und nächtelangen Verhandlungen hätten bei der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA) lediglich in einem von rund 50 Tätigkeitsfeldern ein Teilangebot hervorgebracht. Dies betreffe aber nur 20 Prozent der Erzieherinnen. Dabei würden Ledige ein Plus von 0,3 Prozent erreichen, während Verheiratete ein Minus von 3,6 Prozent erleiden würden – gegen-über dem Stand von 1990. 80 Prozent der Betroffenen gingen leer aus bzw. hätten Verluste von mehr als 1.000 Euro im Jahr.

Die Verhandlungen zu einem Gesundheitsförderungstarifvertrag seien in der Substanz keinen Schritt voran gekommen, kritisierte die Gewerkschaft. ver.di will einen individuellen Anspruch der Beschäftigten auf eine Gefährdungsanalyse des Arbeitsplatzes durchsetzen. „Die Arbeitgeber wollen sich von der Steinzeit ins Mittelalter bewegen. Aber wir brauchen Regelungen für die Neuzeit“, sagte Bsirske.

Der ver.di-Vorsitzende zeigte sich „enttäuscht von der mangelnden Bereitschaft“ der VKA, zu einem tragfähigen Ergebnis zu kommen: „Dieser Konflikt entscheidet auf Jahre hinaus über die Zukunft der Kinder und damit der Gesellschaft.“

hier weitere Infos

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flexibler Habitus und seine Folgen für die Menschen….

Habitustheorie … Bourdieu, Galuske… für eine Reihe unserer Studierenden ist das zur Zeit ein Prüfungsreizthema.

Dass es für die Menschen derzeit erfahrene und bedrückende Lebensrealität ist, das ist nicht zu übersehen und zu überhören:Z.B. bei Silbermond ..

silbermond.jpg

Irgendwas das bleibt


Sag mir dass dieser Ort hier sicher ist
Und alles Gute steht hier still
Und dass das Wort das du mir heute gibst
Morgen noch genauso gilt

Diese Welt ist schnell und hat verlernt beständig zu sein
Denn Versuchungen setzen ihre Frist
Doch bitte schwör dass wenn ich wiederkomm
Alles noch beim alten ist

Gib mir ein kleines bisschen Sicherheit
In einer Welt in der nichts sicher scheint
Gib mir in dieser schnellen Zeit
Irgendwas das bleibt

Gib mir einfach nur ein bisschen Halt
Und wieg mich einfach nur in Sicherheit
Hol mich aus dieser schellen Zeit
Nimm mir ein bisschen Geschwindigkeit
Gib mir was irgendwas das bleibt

Auch wenn die Welt den Verstand verliert
Das hier bleibt unberührt
Nichts passiert

Gib mir ein kleines bisschen Sicherheit
In einer Welt in der nichts sicher scheint
Gib mir in dieser schnellen Zeit
Irgendwas das bleibt

Gib mir einfach nur ein bisschen Halt
Und wieg mich einfach nur in Sicherheit
Hol mich aus dieser schellen Zeit
Nimm mir ein bisschen Geschwindigkeit
Gib mir was irgendwas das bleibt

 

Das als Beweis, dass unsere Themen brandheiß sind und voll aus dem Leben gegriffen 🙂

Leider kann ich noch keine Tondokumente ins Blog stellen, muss ich noch lernen. Klar. Nichts hält einen so flexibel wie ein PC.

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Nachtrag zu: „Politikabstinenz an unserer Hochschule?“

Da nur wir Professoren diese Post bekommen haben, möchte ich die Antwort von Prof. E. auf das zitierte Schreiben auch ins Netz stellen – ein erfreulicher Beweis der Tatsache, dass bei uns noch nicht alle Hoffnung verloren ist: Es gibt also doch politisch denkende Menschen!

„……… deutlich machen, dass ich es als zentrale akademische Aufgabe und
sogar Verpflichtung ansehe – auch und insbesondere VOR Wahlen – dem
potentiellen Wähler (es wählt zum EU-Parlament ohnehin so gut wie
niemand) Informationen bereitzustellen, die über dümmlich grinsende oder
lasziv lächelnde Köpfe auf Wahlplakaten hinausgehen.
Insofern begrüße ich die Aktion von Kollegen O. und der Studenten
nachdrücklich und auch Ihre Ankündigung als Hochschulveranstaltung.
Demokratie – lieber Herr R. – lebt vom und DURCH den Bürger.
Eine Hochschule ohne Meinungsvielfalt – und Meinungs-ÄUßERUNG ist hierzu
unverzichtbar! – verfehlt ihren Bildungsauftrag und wäre eine armselige
akademische Einrichtung. DENKEN kann jeder selber – zumindest ist dies
an einer Hochschule zu erhoffen.
Gerade eine Hochschule in einer Region, die wesentlich geprägt wurde
durch SCHILLER, NOVALIS oder auch Goethe – und viele mehr – sollte immer
den Diskurs und die argumentative Auseinandersetzung suchen.

Mit freiheitlichen akademischen Grüßen
Prof. Dr. W. E.

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Studentenrat wird zu Grabe getragen

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Eben komme ich von einer “Trauerfeier” auf dem Campus unserer Hochschule: Der bisherige StuRa hatte alle 5000 StudentInnen aufgerufen, mit Ihnen gemeinsam den StuRa zu Grabe zu tragen. Es haben sie für die anstehende Wahl nicht mehr genügend Kandidaten gefunden, die bereit gewesen wären, die Arbeit fortzusetzen. Nun muss die Arbeit eingestellt werden. Die Fachschaftsräte sterben gleich mit. Eine Wiederbelebung ist nicht ausgeschlossen. Aber auch nicht so ohne Weiteres möglich.
Die Hochschulleitung hatte verlauten lassen, dass sie es sehr bedauern würden wenn nur 10 Hanseln kommen sollten , denn dafür hätte sich dann die ganze Mühe doch nicht gelohnt.
Dieses Vorschussmitleid war überflüssig. Es kamen einige Hundert StudentInnen, bei strahlendem Wetter, aber immerhin. Und nach der guten Rede der StuRa-Vorsitzenden gab es auch wirklich eine angeregte Fragerunde zum Thema.
Wer nicht kam, war die Hochschulleitung. Sie waren nicht explizit (ein)geladen worden, aber auch an ihren Türen hatte überall das große, beeindruckende schwarze Plakat mit der Todesanzeige gehangen.
Die Fragen der StudentInnen an den scheidenden StuRa drehten sich vor allem um eins: “Wie soll ich neben meinem vollgepackten Bachalor-Studium eine solche Arbeit bewältigen??”  Und es tauchten die unglaublichsten Vorschläge und Ideen auf, wie angesichts der angespannten Zeitschine eine solche ehrenamtliche Arbeit irgendwie vergütet, aufgewogen, belohnt, entschädigt werden könnte: von der Möglichkeit, dafür einen Schein zu bekommen oder als StuRa-Mitglied nicht nur 3 sondern 4 Möglichkeiten zur Prüfungswiederholung zu haben, über die Idee, StuRa-Mitgliedern wie Studierenden mit Kindern ein Teilzeitstudium zu ermöglichen bis hin zu der Idee: “Wenn wir alle keine Zeit mehr haben, können wir uns nicht jemanden kaufen, der dafür unsere Interessen vertritt?”
Für eine Alt68erin war das alles ganz schön harter Tobak. Aber die Bedingungen sind wirklich völlig anders als zu jenen Zeiten Was deutlich wurde: Das Studium und auch das ganze gegenwärtige und zukünftige Leben unserer Studierenden sind so gestrickt, dass einfach keine Zeit bleibt, keine Zeit, um sich um seine und die Interessen aller zu kümmern, keine Zeit, um die Gelegenheit zu nutzen, sich in demokratischen Gremien zu erproblem und dort Erfahrungen zu sammeln, keine Zeit, um mit anderen zusammen kulturelle oder auch politische Veranstaltungen und Angebote zu organisieren.  Alle sind sie –  genau so, wie unsere feine Gesellschaft sich das neoliberaler Weise so vorstellt –  auf einen Zug aufgesprungen oder laufen gerade noch hinter ihm her, der ihnen droht zu entwischen. Alle haben es furchtbar eilig und wollen so schnell wie möglich so weit wie möglich nach vorne und nach oben kommen.

Es gibt an unserer Hochschule kaum so etwas wie Studentenleben, keine Räume, wo Studierende sich treffen können, keine Kommunikationsmöglichkeiten innerhalb der Fachbereiche oder gar Fachbereich  übergreifend. Dass es überhaupt möglich ist, dass sich 400, 500 Studierende tatsächlich aus solch einem Anlass gemeinsam auf dem Campus versammeln, hat schon verwundert. Da war sogar eine kleine halbe Stunde, in der man für einen winzigen Moment davon träumen konnte, dass es noch einmal soetwas wie Studierende geben könnte, die sich gemeinsam für ihre politischen Interessen einsetzen. Da gab es sogar wirklich ein paar Minuten, wo die kollektive Erkenntnis in der Luft lag, dass es grundsätzlich an der Studierbarkeit in unserer Hochschule fehlt. Von 40% Studienabbrechern bei uns in Sachen Bachelor war die Rede. An dieser Stelle der Verantstaltung hätte vielleicht sogar die Forderung nach einer Studentenvollversammlung gezündet, einer Vollversammlung mit Einladung an die Hochschulleitung und mit dem Hauptthema: “Können wir hier eigentlich noch “studentenwürdig” studieren?” Und wenn nein, was muss sich ändern? Wer kann was dafür tun? Was die Hochschulleitung? Was die Studierenden? ” Aber diese Forderung blieb ungestellt.
Eine kleiner Trupp von Insidern begleitete danach den StuRa-Sarg in die Stadt, der Rest blieb achselzuckend zurück. Was soll man tun. Keine Zeit. Keine Zeit.
Sie haben nicht einmal mehr die Zeit, sich darum zu kümmern , warum sie eigentlich keine Zeit haben.

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Willkommen im aktivierenden Staat …

aus meinem Schwarzbuch (Persönliche Erfahrungen)

Sie nannten sich Wirtschaftjunioren und sie werden es nie verstanden haben, warum ich über ihr soziales Engagement so wenig begeistert war. Sie luden mich zu ihrer Vorstandsitzung ein und eröffneten mir, dass sie den Erlös ihrer diesjährigen Silvestertombola für das Projekt „Sozialpädagogische Familienhilfe“ meiner Abteilung im Jugendamt spenden wollten. Ich konnte nicht „nein“ sagen, obwohl es mir unbehaglich war zwischen diesen modisch gestylten, hoch energetischen und trotzdem so lässigen jungen UnternehmerInnen. Ich war froh, dass das besagte Erziehungshilfeprojekt hinreichend mit Geldern ausgestattet war und ich die notwendige pädagogische Arbeit und auch die erforderlichen kleineren Sachleistungen aus den öffentlichen Geldern decken konnte, die mir im Amt zur Verfügung gestellt waren.  Wir schrieben schließlich erst das Jahr 1996 und in meiner Stadt und meinem Land war der Sparkurs noch nicht losgetreten worden. Auf zusätzliche barmherzige Hilfe und auf Spenden war ich nicht angewiesen und wollte es auch nicht sein. Die Familien hatten einen verdammten Anspruch auf Unterstützung. Sie lebten in massiv benachteiligten Lebenslagen, hatten viel zu wenig Ressourcen und Kompetenzen mitbekommen, lebten in finanzieller Anspannung aber vor allem in einem ständigen psychischen Überforderungsstress. Es war eine selbstverständliche Aufgabe für einen verantwortlichen Staat, hier zu helfen und sei es um der Kinder willen, denen eine solche Aufwachssituation nicht zugemutet werden konnte.

All das sagte ich nicht. Vielleicht hätte ich es tun sollen? Stattdessen wurde ich aufgefordert, von den betroffenen Familien und ihrer alltäglichen Not zu erzählen. Es war schwer, diesem Auftrag nachzukommen, denn ich wollte meine Familien nicht bloßstellen und nicht blamieren, wollte sie nicht der Lächerlichkeit preisgeben und nicht der Sensationslust. Dennoch beeindruckte die Schilderung der Alltagsprobleme meiner vielen „Multiproblemfamilien“ meine Zuhörer sichtlich. Ja, dafür wollten sie gerne etwas spenden! Die Vorsitzende eröffnete mir, sie habe selber einmal mit dem Gedanken gespielt, Sozialarbeiterin zu werden. Mir kamen fast die Tränen. Bevor ich entlassen wurde, eröffnete man mir noch den allerdings entscheidenden Wunsch: Ein Foto für die Zeitung mit dem Scheck der Wirtschaftsjunioren müsse aber dabei herauskommen, am besten zusammen mit einer der Familien darauf.

Viele Jahre später musste ich mir einen Vortrag eines Betriebswirtes in unserer eigenen Fachhochschule anhören, der sich zur Entwicklung der Armut in Deutschland äußerte und vor seinen Zuhörern Ideen abwog, wie diese am besten zu händeln sei. Dass der ausgebildeten Bibliothekarin, die nicht mehr flexibel und fit genug ist, um im Wettbewerb um Stellen zu bestehen, die ehrenamtliche Betreuung einer städtischen Bibliothek neben ihrem Hartz VI Bezug angeboten werden soll, damit sie kein inhaltsleeres Leben führen muss und immerhin etwas tun könne dafür, dass der Staat sie alimentiere, war für mich der erste Schock. Der zweite Schock war die Antwort auf die selbst gestellte Frage, was man denn nun mit alle den Menschen machen solle, die voraussichtlich nie mehr Arbeit finden werden und nicht qualifiziert genug seien, einen Arbeitsplatz auszufüllen. „Verhungern lassen können wir sie nicht, das ist wohl klar.“ Ich verstand nicht, warum das klar sein sollte, wenn alles andere, jeder Anspruch auf ein Leben in Menschenwürde so einfach über Bord geworfen werden konnte.

Die Schocks aber über das, was in der Wirklichkeit des Sozialen inzwischen passiert war, kamen für mich immer wieder und an ungeahnten Orten. Ich hielt in Mainz einen Vortrag über die Bedeutung der Elternarbeit im Zusammenhang mit Kindeswohlgefährdung. Meine ZuhörerInnen waren alle entweder beim Jugendamt oder aber in Kinderschutzeinrichtungen tätig. Meine zentrale These war, dass Eltern im sehr vielen Fällen, auch in Fällen von Vernachlässigung und Gewalt, nicht die eigentlichen, existentiellen Feinde, sondern die – zumindest potentiellen – Freunde ihrer Kinder seien. Ich behauptete, dass zwischen ihnen und uns als Professionellen insofern eine Interessengleichheit bestehe, als sie wie wir vor allem eines wollten, dass es den Kindern gut gehe. Was auch immer in der Realität dazu geführt habe, Kinder zu vernachlässigen, mit Gewalt zu bedrohen oder Gewalt anzuwenden, diese „Lösungen“ seien nicht ihre Wunschlösungen für die Erziehung ihrer Kinder. Sie seien vielmehr aufgrund ihrer schwierigen Lebenssituation – materieller und/oder psychosozialer Art – dazu gekommen, diese gefährlichen „Erziehungsmittel“ zu benutzen und hätten auch in vielen Fällen durchaus selber ein Interesse daran, zu lernen, anders mit ihren Kindern umzugehen und eine positive Beziehung zu ihnen zu entwickeln. Wenn man die Eltern dazu gewinnen könne, bessere Eltern werden zu wollen und zu werden, würde man für die Kinder das Allerbeste erreichen können.
Ich plädierte also für Kooperation mit diesen Eltern, dafür, sie als Partner zu gewinnen, ihnen nicht von vorne herein Böswilligkeit zu unterstellen und vor allem auch die – immer auch vorhandenen – positiven Seiten ihrer bisherigen Elternschaft anzuerkennen und wahrzunehmen.
Noch während ich sprach, spürte ich aus dem großen Zuhörerraum eine Eiseskälte auf mich zu kriechen.
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Politikabstinenz an unserer Hochschule?

An unserer FH findet alljährlich im Sommersemester eine studentische Tagung zu aktuellen sozialpolitischen Themen  statt, bei der auch Experten und Vertreter politischer Gruppierungen und Parteien eingeladen werden, um auf dem Podium zu den Fragen der Studierenden Stellung zu nehmen. Eine gute und wichtige Tradition in einem Studiengang für Soziale Arbeit, finde ich.
Dieses Jahr heißt das Thema: „Armutsfreies Europa – eine Utopie“?  Zu dieser Veranstaltung wurden von unserer Hausverwaltung Einladungen an alle Professoren der FH geschickt, so wie es üblich ist, wenn einer der Fachbereich eine öffentliche Veranstaltung plant.

In meiner Post finde ich eine empörte Stellungnahme eines Kollegen aus den technischen Fachbereichen:
„Ich habe Zweifel bezüglich der Zulässigkeit einer Lehrveranstaltung, die unmittelbar vor der Europawahl mit einer Wahlkampfveranstaltung der Kandidaten verwechselt werden könnte. Dies außerdem in den Rang einerHausmitteilung an alle zu heben, empfinde ich als unpassend und ärgerlich.“

Ich staune. Wenn ich den Kollegen richtig verstehe, ist es sein Anliegen, Lehre und Politik fein säuberlich zu trennen und die Inhalte unserer wissenschaftlichen Kontexte nicht mit so etwas wie dem Wahlkampf zu beschmutzen?
Vielleicht ist ihm nicht bewusst, dass in unserer FH der Fachbereich Sozialwesen – übrigens einer der größten unserer Fachbereiche – Menschen ausbildet, die vor allem und täglich mit den aktuellen sozialen Fragen und deren möglichen Lösungen konfrontiert sind. Soll denn für diese Studierenden eine Trennlinie zwischen Lehre und realen gesellschaftlichen Problemen und Aufgaben gezogen werden? Das ist so, als würden wir hier Ingenieure ausbilden, die sich einen Dreck darum kümmern sollen, welche technischen Fragen heute die Produktion bewegen. Soziale Arbeit hat nun mal vor allem mit diesen sozialpolitischen Fragen zu tun und eine Diskussion dieser Probleme gerade auch durch die Politik gehört für sie sozusagen zum tägliche Brot ihrer Profession.
Und sicher würde es dem einen oder anderen Kollegen oder auch Studenten aus den technischen und betriebswirtschaftlichen Fachbereichen nicht direkt schaden, sich mit solchen Fragen auch einmal auseinander zu setzen. Für unsere Studierenden jedenfalls ist es gerade angesichts der aktuellen Entwicklungen absolut notwendig!

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