Was könnte man tun? – Fall 3 inkompetenter Träger

Fortsetzung zum Thema „Das kann ich nicht mehr verantworten!“  – Kommentierung der Texte – Was tun? (3)

 Text:„Das kann nicht gut ausgehen!“ Der Träger, der das günstigste Angebot macht, bekommt den Leistungsvertrag – egal, wie er diese Leistung erbringt (Seithe/Wiesner-Rau 2013, S. 42)
Heute habe ich wieder mal ziemlich Bauschmerzen gehabt. Der Fall Lydia D. ist vom Träger „Rückenwind“ übernommen worden. Das hat das Hilfe-Konstrukt-Team so bestimmt. Ich war dagegen, aber sie haben mich überstimmt und es gab kein Entrinnen: dort war Kapazität frei und die gewünschte Hilfe wird von diesem Träger am weitaus kostengünstigsten angeboten. Was sollte ich dagegen sagen? Es stimmt ja, sie sind nun mal die Billigsten, die Sozialpädagogische Familienhilfe bei uns anbieten.
Aber ich kann das kaum ertragen: Ich weiß so ziemlich genau, wie schlecht da gearbeitet wird. Mit vier Stunden pro Woche inklusive Vor- und Nachbereitung kann das nicht anders sein. Und die Zeit zur Reflexion und Verbesserung der eigenen Arbeit werden die eingesetzten Kräfte wohl gar nicht für sich in Anspruch nehmen, fürchte ich. Es sind unausgebildete Kräfte, zwei sind Erzieherinnen, es gibt keine Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter. Sie alle werden allerdings von einem Sozialarbeiter angeleitet und das muss reichen. Offenbar reicht es auch unserem Jugendamt.
Und was macht eine nicht sozialpädagogisch ausgebildete Kraft in diesen Familien? Ich fürchte, sie predigt dort, wie es sein müsste, stellt Forderungen an die Familie, gibt Anweisungen, prangert die Missstände an. Bei solchen Rahmenbedingungen kann man kaum Professionalität erwarten. Aber um die Familien und um die Qualität der Sozialen Arbeit geht es im Jugendamt schon lange nicht mehr, es müssen vielmehr die KLR-Zahlen stimmen. Wie ich diesen Begriff hasse: Kostenleistungsrechnung! Und dann wird gefragt: „Wozu brauchen wir überhaupt ausgebildete Sozialarbeiter? Es klappt doch!“ Wie perfide das alles ist!
Ich habe nach dem Hilfe-Konstrukt-Team noch mal mit unserer Chefin gesprochen. Ich konnte das alles einfach nicht hinnehmen. Da läuft man mit offenen Augen in eine Situation, die die Lage in der Familie verschärfen wird und dazu führen wird, dass Lydia in Zukunft noch weniger Vertrauen in uns Helfer hat. Meine Chefin hat nur die Augen verdreht und gesagt: „Du machst dir einfach zu viele Sorgen.“ Außerdem hätte „Rückenwind“ nun mal den Leistungsvertrag mit dem Stadtrat abgeschlossen und damit sei nach außen hin alles paletti. Punkt. Trotzdem, ich habe es weiter versucht, habe ihr noch einmal all meine Bedenken genannt, auch, dass die Mitarbeiter bei „Rückenwind“ extrem defizitorientiert sind und mit den Familien in einer Art Hauruck-Verfahren umgehen. „Aber das ist doch bei acht Familien pro Vollzeitkraft auch kein Wunder“, hat die Chefin geantwortet.
‚Stimmt‘, dachte ich. ‚Das ist ja das Absurde!‘
„Wie kannst du das so gelassen sagen?“, platzte es aus mir heraus. „Da ist doch null Beziehungsarbeit möglich. Das ist alles Wahnsinn und du weißt so gut wie ich, dass Lydias Familie bei so was nicht mitziehen wird.“
Wir müssten einfach mal abwarten, meinte die Chefin nur. Träger würden nun mal vom Stadtrat beauftragt und was sie und wie sie dann konkret arbeiten, das interessiere nicht wirklich: Hauptsache billig.
Sie wusste es also ganz genau, aber sie zuckte die Achseln. Ich sah sie ungläubig an. Ich konnte mir das Wort „Scheiße“ nicht verkneifen. Sie ließ mich einfach stehen.
Meine Güte, wir vom Allgemeinen Sozialen Dienst haben so viel Verantwortung für die Familien. Aber wir müssen immer öfter zusehen, dass die Arbeit mit unseren Klientinnen und Klienten von Leuten gemacht wird, denen wir fachlich nicht trauen können und die von irgendeinem geldgierigen Geschäftsführer, der außerdem oft sogar null Ahnung hat von Sozialer Arbeit, mit minimalem Aufwand und fachlich unerträglichen Methoden durch diese Aufgabe hindurchgehetzt werden.
Was soll ich dazu bloß Lydias Mutter sagen, wenn sie morgen kommt? Ich hatte ihr die Chancen einer Sozialpädagogischen Familienhilfe positiv geschildert. Und ich sehe das auch wirklich so. Aber eben nicht bei „Rückenwind“, da wirklich nicht. Und alle wissen das im Amt so gut wie ich. Lydias Mutter wird sich nun auch von mir verarscht fühlen. Höchstens zwei Kontakte pro Woche, und was für Kontakte – und ich habe was von „in Ruhe besprechen, vorsichtig versuchen, Schritt für Schritt an den Problemen arbeiten“ gesagt, davon, dass sie erst mal Vertrauen gewinnen müsse. Das wird sie jetzt ganz und gar anders erfahren. Aber ich werde da nicht tatenlos zusehen.

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Fachliche Kritik

  • Es wird im Team nicht nach den Vorgaben entschieden, die die federführende Fachkraft entwickelt hat, sondern über sie hinweg nach den Kriterien: welche Kapazitäten sind frei und welches ist das günstigste Angebot.
  • Die Hilfe wird diesem Träger übergeben, obwohl bekannt ist, dass hier Nicht-Fachkräfte mit den Familien arbeiten und diese keine sozialpädagogische Familienhilfe leisten, sondern eher eine ersetzende und bevormundende Hilfe praktizieren.
  • Folge ist mit hoher Wahrscheinlichkeit, dass die Bemühungen der Hilfe ins Gegenteil umschlagen.
  • Das aufgebaute Vertrauen wird so gefährdet und geht mit hoher Wahrscheinlichkeit verloren, da die Erwartungen der KlientInnen nicht erfüllt werden können. Die bisher geleistete Arbeit wird nicht anerkannt und an ihr wird nicht angeknüpft.
  • Die zur Verfügung gestellte Stundenzahl ist nach Einschätzung der Fachkraft ebenfalls nicht ausreichend, um die zu bearbeitenden Probleme im Sinne einer gemeinsamen Bearbeitung mit den Betroffenen zu bewältigen.

 Gesellschaftswissenschaftliche und politische Hintergründe

  • Der Träger, die Verantwortlichen und das Team fühlen sich an einen Vertrag gebunden, den dieser Träger mit dem Stadtrat abgeschlossen hat.
  • Sein Angebot wurde dort als ausreichend und besonders kostengünstig gewertet, ohne dass inhaltliche Kriterien dabei eine wirkliche Rolle gespielt hätten und ohne die Erfahrungen der PraktikerInnen einzubeziehen.
  • Diesem Vorgehen liegt die Absicht zugrunde, die SpFH so kostengünstig zu bekommen, wie eben möglich, damit die Kosten-Leistungs-Rechnung stimmt.
  • Hier wird der Effizienzgedanke eindeutig über die Frage von Fachlichkeit und auch über die Vorschriften des KJHG gestellt, das von dem individuellen, passgenauen Zuschnitt einer Hilfe zur Erziehung ausgeht.
  • Wir haben es mit einer Jugendhilfepraxis zu tun, die sich von den Fragen der Fachlichkeit verabschiedet hat und die MitarbeiterInnen per Dienstanweisung zwingt, fachlich Inakzeptables hinzunehmen und sogar selbst einzuleiten.
  • Das Vorgehen ist also gesetz widerig und unfachlich. Dennoch wird es als unumstößlich angesehen und auch von denen hingenommen, die sich über die Folgen im Klaren sind.

Einschätzung der Lage und der Reaktion der betroffenen SozialarbeiterIn

  • Die Mitarbeiterin, die diese Geschichte erzählt, ist empört und entsetzt. Sie ärgert sich darüber, dass ihre Arbeit derartig mit Füßen getreten wird.
  • Die MitarbeiterIn hat das Gefühl, dass sie den KlientInnen gegenüber diese Fehlentscheidung von Amt und Politik austragen muss und für etwas verantwortlich zeichnen soll, dass sie selbst für falsch hält.
  • Sie gibt sich nicht einfach mit diesem Beschluss zufrieden und wendet sich noch einmal empört an ihre Vorgesetzte. Diese aber weiß um das Problem, meint aber auch nichts tun zu können und lässt ihre Mitarbeiterin mit dem Problem alleine.
  • Die ist noch immer nicht einverstanden und würde gerne weiter kämpfen. Ob sie eine Idee hat, was sie tun könnte, bleibt offen.

Mögliche Handlungsperspektiven und Strategien der Gegenwehr

Was  hätte sie noch tun können an ihrem Arbeitsplatz?

Weitere Gespräche, etwa mit dem Geschäftsführer, der Amtsleitung wären – wenn sie gelingen – vielleicht hilfreich. Die Herrschaften wissen in der Regel nicht wirklich, was an der Basis los ist. Hier könnte Information etwas bringen. Voraussetzung ist hier, dass man inhaltlich und fachlich gut vorbereitet ist und seine Argumente sachlich vortragen kann. Vielleicht kommt doch Unterstützung von diesen Seiten. Zu befürchten ist allerdings, dass sie auch hier abblitzen wird, vielleicht sogar mit dem Hinweis, sie solle sich um ihre Sachen kümmern.
Grundsätzlich wäre der KollegIn zu empfehlen, dass sie z.B. Fakten über unhaltbare Zustände bei Trägern sammelt und dokumentiert. Wenn es darauf ankommt, muss man Behauptungen und Befürchtungen nicht nur theoretisch begründen, sondern auch konkrete Fakten und Beispiele nennen können.

Eine weitere Möglichkeit bestände darin, die TeamkollegInnen noch einmal anzusprechen und um Unterstützung zu bitten. Gemeinsam kann ein Team durchaus mehr erreichen, als jeder Einzelne. Aber auch hier gelingt es nicht immer, KollegInnen von der Notwendigkeit von Gegenwehr zu überzeugen. Viele lehnen es ganz ab, sich damit zu befassen. Nicht selten geben sie den kritischen KollegInnen eigentlich Recht, haben aber Angst selbst aktiv zu werden oder ihre Meinung öffentlich zu machen. Das ist für die Betroffenen eine bittere Enttäuschung.
Es wäre in solchen Fällen jedoch angeraten, weiter geduldig langfristig zu versuchen, mit den KollegInnen zu sprechen, z.B. darüber, warum es möglich sein kann, dass sie alle solchen fachlichen Unsinn hinnehmen müssen, den man eigentlich nicht verantworten kann. Wichtig ist, KollegInnen, die sich zunächst verweigern, nicht einfach links liegen zu lassen oder sie gar abzuurteilen. Wir sollten zum einen deutlich machen, dass nicht sie selbst schuld sind an Misserfolgen und an der Wirkungslosigkeit ihrer Arbeit, sondern dass es Gründe gibt, die gesellschaftlicher Natur und die nicht naturgegeben und unveränderlich sind. Nicht die KollegInnen sind schuld daran, wenn ihre Mühen ohne Wirkung bleiben sondern diejenigen, die es verantworten, einfach willkürlich die Rahmenbedingungen für die Arbeit herunterzuschrauben.
Es gelingt am besten, solche KollegInnen aufzuschließen, wenn man mit „verstehender Konfrontation“ vorgeht, also sehr wohl mit der Problematik konfrontiert, dabei aber sowohl die Gründe für ihre Untätigkeit als auch die Befürchtungen zu verstehen versucht, die diese Konfrontation auslöst.

Hilfereich ist es auch, sich selbst und den KollegInnen klar zu machen, dass wir angesichts der kritischen Lage sehr wohl ein Recht auf Unbehagen haben und wir unser Unbehagen und unsere Kritik nicht als Jammern abwerten lassen. Wir haben ein Recht darauf, nicht einverstanden zu sein und auch ein Recht darauf, es laut zu sagen.

Voraussetzung für alle Gespräche und Versuche, zu überzeugen, ist, dass die KollegIn gute, stichhaltige und fachlich begründete Argumente parat hat, z.B. warum eine Hilfe mit so wenig Stunden und mit einem nicht sozialpädagogischen Konzept nicht nur nicht greifen wird, sondern möglicher weise die Lage der Familie verschlechtern kann.

Will die Mitarbeiterin des Sozialen Dienstes, die diese Geschichte erzählt hat, mehr tun und solche Praktiken offen anprangern und offen legen, sollte sie sich mit anderen KollegInnen zusammen tun und sich Wege ausdenken, wie man dabei vorgehen könnte, ohne gleich den eigenen Arbeitsplatz zu gefährden.
Zum Beispiel wäre es denkbar, dass man „als aufmerksame Bürger und Nachbarn von Betroffenen“ einen Leserbrief schreibt, in dem man darauf aufmerksam macht, dass die öffentliche Jugendhilfe – um zu sparen – Fehlentscheidungen trifft, deren Folgen im Endeffekt viel mehr kosten werden. Wenn man einen solchen Brief als Gruppe „kritische Soziale Arbeit“ oder als Mitglieder des Berufsverbandes unterschreibt, bleibt der Einzelne unangreifbar und anonym.

Als KollegInnengruppe stehen viele Möglichkeiten der Gegenwehr zur Verfügung: die Planung und Durchführung kleiner, kreativer Protestaktionen, das Setzen von Zeichen, die die kritische Haltung deutlich machen (beisp. bestimmte Buttons oder die weißen Fahnen an den Fenstern der Berliner Jugendämter), Verteilung von Flugblättern, Aufklebern, gezielte Streikaktionen, kollektive Krankschreibung, kollektive Überlastungsanzeigen usw.

Das heißt aber auch, dass es von großer Wichtigkeit wäre, für sich eine unterstützende, solidarische Gruppe zu finden oder ggf. auch erst aufzubauen. Hier sollte man sich erst einmal folgende Fragen stellen:

  • Wie stehen meine KollegInnen zur Lage? Könnte ich mit Ihnen reden? Wäre es möglich, gemeinsame Strategien zu entwickeln?
  • Haben wir einen Personal- oder Betriebsrat? Warum eigentlich nicht? Und wenn doch: Wie könnten wir den dazu bringen, sich ein wenig mehr aus dem Fenster zu lehnen als bisher?
  • Gibt es in meiner Stadt oder Region eine Gruppe, in denen kritische SozialarbeiterInnen aktiv sind und mit denen ich zusammenarbeiten könnte? Wie könnte ich sie finden? Könnte man ggf. so eine Gruppe gründen?

Der grundsätzliche Widerstand gegen die Ökonomisierung

Die Ökonomisierung dominiert unsere Profession. Es wird nicht leicht sein und nicht schnell gehen, sie wieder loszuwerden. Schließlich handelt es sich dabei um ein gesamtgesellschaftliches Problem. Der Kampf gegen die Ökonomisierung, mit der die gegenwärtige neoliberale Politik die Sozialen Arbeit, ebenso wie den Gesundheits- oder auch das Bildungswesen vereinnahmt hat und die uns zwingt, Menschen nach ihrer Nützlichkeit und Effizienz zu bewerten und sie wie Ware zu behandeln, diesen Kampf wird man nicht alleine und auch nicht nur am Arbeitsplatz führen können. Hier findet man aber in den großen politischen und berufspolitischen Verbänden und Organisationen MitkämpferInnen und Bündnispartner.

Um unsere Arbeit unter diesen Bedingungen ertragen zu können, um Wege zu finden, auch unter solchen Bedingungen noch parteilich und im Interesse der Betroffenen arbeiten zu können, ist die Unterstützung von Gleichgesinnten lebensnotwendig, und das sowohl im ganz konkreten, praktischen Sinne als auch im Sinne der eigenen Psychohygiene.

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Was könnte man tun? – Fall 2: Allgemeiner Sozialer Dienst

Fortsetzung zum Thema „Das kann ich nicht mehr verantworten!“  – Kommentierung der Texte – Was tun? (2)

Text:  „So können wir unsere wichtigen Aufgaben nicht erfüllen!“– Hilferufe aus dem Allgemeinen Sozialen Dienst (Seithe/Wiesner-Rau 2013, S. 92)
Ich arbeite seit über 15 Jahren als Bezirkssozialarbeiterin in einer deutschen Millionenstadt, immer in belasteten Stadtteilen. In dieser Zeit wurde die Arbeit immer mehr, immer schwieriger und immer belastender. Die Bürokratie ist unglaublich angestiegen, die Hürden, um eine Hilfe zu erschließen, sind riesig (oft sind über 20 verschiedene Schritte, Unterschriften zur Genehmigung etc. erforderlich), die Ressourcen werden immer knapper.
Statt „rauszugehen“ in den Stadtteil, Hausbesuche durchzuführen usw. verbringen wir immer mehr Zeit am Schreibtisch, um Anträge auszufüllen, Berichte zu schreiben und „Diagnosen“ zu erstellen. Viele Betroffene und Kooperationspartner melden sich enttäuscht und wütend und verstehen die Vorgehensweisen und Entscheidungen unserer Behörde, die Wartezeiten etc. nicht mehr. Ich bin oft unter großem Rechtfertigungsdruck für Entscheidungen, die ich gar nicht zu verantworten habe.Die Multiproblemfamilien werden immer mehr, jeden Tag haben wir mit psychisch kranken, suchtmittelabhängigen oder vernachlässigenden und misshandelnden Eltern, entwicklungsverzögerten, kaum geförderten oder gefährdeten Kindern und Jugendlichen, verwahrlosten Wohnungen, Arbeitslosen, verwirrten Alten, gewaltbereiten Migranten, drohendem Wohnungsverlust und vielem anderen mehr zu tun. Sehr häufig sind wir die Einzigen, die diese Menschen noch aufsuchen, sich kümmern und zu helfen versuchen.
Viele meiner Kolleginnen und Kollegen bewältigen die Arbeit nicht mehr und gehen weg, ständig sind mehrere Stellen unbesetzt, auch auf der Leitungsebene, sodass zusätzlich noch viel vertreten werden muss.
Ich fühle mich oft überfordert und an der Grenze meiner Belastbarkeit. Wenn ich mit mehr als drei oder vier schwierigen Fällen in der Kinder- und Jugendhilfe gleichzeitig zu tun habe (was meist der Fall ist), kann ich auch in meiner Freizeit nicht mehr „abschalten“ und mache mir zu Hause noch Gedanken, die mich sehr belasten.
Ich schäme mich für unsere Gesellschaft, dass ihr diese unsere Arbeit nicht mehr wert ist, mehr Anerkennung, mehr Ausstattung und mehr Gehalt. Ich bin teilzeitbeschäftigt und verdiene unter 1000,- Euro, das ist für die Verantwortung, die ich trage, absurd wenig.

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Fachliche Kritik der beschriebenen Arbeit und Arbeitssituation

Die Kollegin schildert die Arbeitsplatzsituation im Allgemeinen Sozialen Dienst sehr deutlich.
Es besteht eine zunehmend hohe Arbeitsverdichtung. Die KollegInnen tragen eine enorme Verantwortung für Menschen, um die sich sonst keiner mehr kümmern würde. Die Multiproblemfamilien nehmen ständig zu. Trotzdem wird von politischer und von der Verwaltungsseite her nicht auf diese immer größer werdenden Belastungen und Herausforderungen reagiert. Es bleibt den SozialarbeiterInnen überlassen, wie sie damit fertig werden. Statt das Personal zu erweitern, bleiben viele Stellen, auch Leitungsstellen unbesetzt, sodass für die meisten neben ihrer eigenen Stelle auch noch eine Vertretung hinzukommt.
Neben dem zeitlichen Stress und der Personalknappheit wird ihnen dazu ein Höchstmaß an Bürokratie verordnet, das viel Zeit schluckt und dazu führt, dass sie fast mehr am PC sitzen, als Kontakte zu ihrer Klientel aufzunehmen. Diese Bürokratie dient mitnichten der Qualität der Arbeit, sondern eigentlich nur dem Schutz der Behörde, die sich nichts zu schulde kommen lassen will. Es geht darum, sich immer wieder abzusichern. Danach, was gut ist für die Klientel, wird dabei nicht gefragt.
Die MitarbeiterInnen sind durch das Jugendamt ständig einem Rechtfertigungsdruck ausgesetzt. Gleichzeitig müssen Sie sich nach außen und gegenüber ihrer Klientel laufend für Entscheidungen oder Prozessabläufe verteidigen, die sie selbst eigentlich gar nicht zu verantworten haben.
Unter diesen Bedingungen kann man keine gute und verantwortliche Arbeit im Allgemeinen Sozialen Dienst leisten.

Bei den meisten KollegInnen ist die Grenze ihrer Belastbarkeit erreicht. Viele steigen aus oder werden krank. So wie die Erzählerin können etliche KollegInnen in ihrer Freizeit nicht mehr abschalten und sind somit von Burnout bedroht.
Hinzu kommen der Ärger und die Kränkung, dass diese schwierige und belastende Arbeit nicht anerkannt und wertgeschätzt wird. Dies zeigt sich für die MitarbeiterInnen immer wieder am schmerzhaftesten in der zu geringen Bezahlung, die in keinem Verhältnis steht zu der Verantwortung die sie tragen.

Anmerkung: Die Bezahlung ist bei öffentlichen Trägern im Vergleich zu dem, was freie Träger zahlen, oft noch erträglich. Auch die prekären Stellen und Verträge sind eher bei freien Trägern zu finden. Dennoch steht auch der geltende Tarifvertrag TVöD im Vergleich zu den Eingruppierungen von Fachhochschul-AbgängerInnen mit anderen Ausbildungsrichtungen (z.B. Ingenieur) in keinem angemessenen Verhältnis.

 Gesellschaftswissenschaftliche und politische Analyse Hintergründe

Was hat dazu geführt, dass der ASD heute nur noch ein Zerrspiegelbild dessen ist, was er in der Zeit vor der Neuen Steuerung, also vor 1990 war?
Durch die neue Finanzierungsform, die neue Rolle des öffentlichen Trägers als Arbeitgeber und Kontrolleur gegenüber den Leistungserbringern hat sich das Aufgabenfeld des Allgemeinen Sozialen Dienstes fatal verändert.
Von den MitarbeiterInnen wird kaum noch erwartet, dass sie selbst sozialpädagogisch tätig sind. Bei der gleichzeitigen zeitlichen und inhaltlichen Überforderung ist es dann kein Wunder, wenn im ASD keine wirkliche Diagnose mehr stattfindet, wenn ambulante Hilfe eingesetzt werden, um diagnostische Fragen zu beantworten, wenn das Verhältnis zwischen ASD und freien Trägern nicht mehr von Kooperation und Gleichberechtigung getragen ist sondern sich wie ein Herrschaftsverhältnis ansieht. Kein Wunder auch, dass der Allgemeine Soziale Dienst gezwungen ist, die Schwelle für die Hilfe zur Erziehung in Abweichung von den Vorgaben nach § 27 KJHG so hoch zu ziehen, dass fast nur noch in Fällen massiver Kindeswohlgefährdung Hilfe zur Verfügung gestellt werden kann. Kein Wunder auch, dass der eigentlich regionalisierte und auf Sozialräume hin orientierte Allgemeine Soziale Dienst immer mehr den Blick für die Lebenswelt der Klientel verloren hat.

All das sind die Folgen der veränderten Aufgabenzuschreibung und des veränderten Verständnisse der Kinder- und Jugendhilfe durch die Neue Steuerung, mit der die Ökonomisierung in die Soziale Arbeit Einlass fand. Im Rahmen der Verbetriebswirtschaftlichung und Privatisierung der Kinder- und Jugendhilfe hat sich der Blick für die Verantwortung für die Minderjährigen und jungen Erwachsenen in Richtung eines Effizienzdenkens verschoben, dass auch die Kinder- und Jugendhilfe wie einen Wirtschaftszweig auffasst, der sich zu rechnen hat und der Produkte herstellt.

Gleichzeitig mit der Abgabe der sozialen Verantwortung des Staates an die Wirtschaft und die Menschen selbst sowie ihre sozialen Nahräume, hat der Staat seine Kontroll- und Sanktionsvorstellungen gegenüber dem Teil der Bevölkerung verstärkt, die nicht von sich aus bereit ist, effizient zu sein, sich um gesellschaftliche Nützlichkeit zu bemühen und für mögliche Hilfen auch immer die von ihnen verlangten Gegenleistungen zu erbringen. Zu diesem Personenkreis gehört (neben den Menschen, die von Hartz IV leben, neben Flüchtlingen, Wohnungslosen, Randgruppen etc.) auch ein großer Teil der Klientel der Kinder- und Jugendhilfe. Eine zunehmende Nähe der Kinder- und Jugendhilfe zur Ordnungspolitik (u.a. durch die hohe Dokumentationspflicht für die MitarbeiterInnen) ist nicht zu übersehen. So wird aus dem Kinderschutz, als einem Bemühen, Kinder zu schützen und ihr Wohl zu sichern, jetzt das Bemühen, möglichst früh zu erkennen, wer in Zukunft womöglich das Wohl seiner Kinder gefährden könnte. Dieser Personenkreis wird aber nicht als Gruppe verstanden, die besondere Unterstützung benötigt. Vielmehr wird sie verstärkt kontrolliert und ggf. sanktioniert.

Was steckt hinter der Neuen Steuerung und all den Wiederauflagen der Neuen Steuerung, die wir Jahr ein Jahr aus erleben?
Die sogenannte „Neue Steuerung“ (1990) war der Einbruch der neoliberalen Politik in das Soziale und damit auch in die Kinder- und Jugendhilfe und die Hilfen zur Erziehung. Nach Galuske (Galuske 2002, 144) handelt es sich bei der Neoliberalisierung um einen gesamtgesellschaftlichen Vorgang, der keineswegs nur in Bezug auf die ehemaligen „Non-Profit“ Bereiche von Bedeutung ist. „Im Jahr 2000 beschlossen die europäischen Staats- und Regierungschefs in Portugal, die EU bis zum Jahr 2010 zur ‚wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Region der Welt“ (Dahme /Wohlfahrt 2005, 12) zu machen. „Das Aktivierungsparadigma wurde damit zum gesamteuropäischen Projekt erklärt und ist heute längst in allen westlich orientierten Wohlfahrtsstaaten akzeptiert“ (ebenda). Die allgegenwärtige Marktlogik macht nicht vor dem Alltag der Menschen halt und hat für die alltägliche Lebensführung vielfältige Konsequenzen, denn sie führt zu einer Ökonomisierung lebensweltlicher Beziehungen. Ziel der Ökonomisierung ist es, z.B. auch die Soziale Arbeit in ein Marktgeschehen umzugestalten, bei dem es grundsätzlich um Produktion von Waren, um Gewinne, um Unternehmen und um Marktfähigkeit geht. Menschliche Probleme und Bedürfnisse bzw. die ausgegrenzten oder von gesellschaftlicher Ausgrenzung bedrohten Menschen werden damit zur Ware.

Einschätzung der Reaktion der betroffenen SozialarbeiterIn

Die Erzählerin schildert ihre massive Belastung und deren Auswirkungen auf ihr Leben und ihre Gesundheit. Sie schämt sich für unsere Gesellschaft, die die Arbeit der SozialarbeiterInnen im ASD nicht wertschätzen, fühlt sich also gesellschaftlich missachtet und ungerecht behandelt.
Es ist immerhin etwas, wenn sie die Situation so deutlich und kritisch schildern kann und die Folgen nicht sich, sondern der Gesellschaft anlastet. In ihrer Erzählung kommen trotzdem nur zwei Arten von Bewältigungsversuchen vor: Das Krank-Werden und das Weggehen.

Grundsätzlich mögliche Handlungsperspektiven und Strategien der Gegenwehr im beschriebenen Beispiel

Es gibt zum einen Möglichkeiten, sich am Arbeitsplatz zu wehren bzw. Position zu beziehen:

So lange es sich um den Versuch handelt, etwas an dem eigenen Arbeitsplatz und an den Arbeitsbedingungen zu ändern, unter denen man arbeiten soll, stehen der Kollegin und steht allen SozialarbeiterInnen in ähnlicher Lage die Möglichkeiten zur Verfügung, die sie als Mitarbeiterin hat:

  • Sie kann z. B. konkrete Gehaltsforderungen stellen, Geld für Überstunden, für Wochenendarbeit verlangen, sie kann einen besseren Arbeitsvertrag fordern und bessere Arbeitsbedingungen einklagen.
  • Das ist in der Regel nicht so leicht und wird kaum einfach im Gespräch mit den Vorgesetzten zu regeln sein. Was man auf dieser Ebene erreichen kann, ist ohne Zweifel begrenzt. Vorgesetzte, die einem vielleicht in der kritischen Einschätzung zustimmen, werden die Schultern zucken, weil auch sie sich gezwungen fühlen, die Aufgaben zu erfüllen, die ihnen offiziell zugedacht sind. Und auf Politik haben sie auch keinen Einfluss.
  • Hier hilft es ungemein, wenn innerhalb des Teams Einigkeit und Solidarität besteht und man gemeinsam begründete Forderungen stellt und dabei Phantasie, Ausdauer und die notwendige Sturheit entwickelt.
  • Personalräte bzw. Betriebsräte können hier hilfreich sein, müssen aber meist von den KollegInnen entsprechend gefordert werden.
  • Wird es ernst und steht man mit seinem Arbeitsgeber vor Gericht, so kann man die Unterstützung seiner Gewerkschaft oder des Berufsverbandes DBSH bekommen.

Das Sich-Organisieren hat aber nicht nur den Zweck konkreter Unterstützung bei Tariffragen u.ä. Es ist vor allem wichtig, damit man nicht alleine ist, damit man sich austauschen kann, gemeinsame Strategien entwickeln und sich gegenseitig stärken kann.
Im Rahmen einer Organisation ist es auch möglich, Mittel und Wege zu finden, Missstände und prekäre Situationen in der eigenen Arbeit anzuprangern und öffentlich zu machen, ohne dass man als Person dabei in Gefahr gerät.
Und mit einer Organisation im Rücken wären dann durchaus Aktionen und Schritte von Widerstand möglich: Vom Sit-in vor der Tür des Geschäftsführers oder des Sozialdezerneten bis zur Einreichung schriftlicher Forderungen, die gleichzeitig – mit ein paar fachlichen Informationen über die gegenwärtige Lage angereichert – in der Zeitung stehen (denn Forderungen sind keine Dienstgeheimnisse) usw.
Es muss darauf hingewiesen werden, dass man auch als Mitglied einer solchen Organisation nicht erwarten kann, dass hier die Initiative von der Organisation ausgeht. Jede Organisation ist so gut wie ihre Mitglieder aktiv sind. Es gilt also, die Unterstützung für solche Initiativen gezielt und hartnäckig einzufordern, möglichst gemeinsam mit anderen Mitgliedern.

Zum anderen:

Die Ursachen für die fatalen Entwicklungen z.B. im Allgemeinen Sozialen Dienst sind im Wesentlichen politischer und gesellschaftlicher Natur. Die problematischen Strukturen und Zielsetzungen betreffen keineswegs nur die Soziale Arbeit. Davon sind z.B. ebenso das Gesundheitswesen, die Pflege, aber auch das Bildungssystem betroffen. Im Grund betrifft die Neoliberalisierung unserer Gesellschaft alle Lebensbereiche, zwingt uns alle in einen atemlosen Rhythmus, indem wir unser Leben lang beweisen müssen, dass wir für die Gesellschaft nützlich sind und wo wir uns wie Unternehmer unserer selbst ständig um Wachstum bemühen müssen, während andere Lebensbereiche belastet und z.T. ernsthaft beschädigt werden. Diese Ideologie und die durch diese Ideologie gestützte Wirtschaft im heutigen entfesselten Kapitalismus rechtfertigt außerdem die Zunahme der Schere zwischen Arm und Reich, grenzt Menschen aus als Überflüssige und „legitimiert“ Kriegseinsätze, die Ausbeutung anderer Völker und die Zerstörung unserer Umwelt.
Wer das verstanden hat, wird neben einer politischen Haltung in Sachen Soziale Arbeit bemüht sein, auch auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene politisch aktiv zu werden und Widerstand zu leisten. Es gibt unendlich viele Gruppen und Initiativen, die solche Ziele verfolgen.

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Was könnte man tun? – Fall 1 „Menschen in Wohnungsnot gibt es immer mehr“

Fortsetzung zum Thema „Das kann ich nicht mehr verantworten!“  – Kommentierung der Texte – Was tun?

In den nächsten Monaten werde ich versuchen, die Geschichten aus unserem Buch jede für sich und ganz in Ruhe näher zu betrachten und zu kommentieren. Es könnte auf diese Weise ein Teil II „Aber was soll und was kann ich tun?“ zum Buch entstehen. Und jeder LeserIn steht es frei, daran per Kommentar mitzuwirken.

Dabei geht es mir jeweils um folgende Aspekte:

  • Fachliche Kritik der beschriebenen Arbeit und Arbeitssituation
  • Gesellschaftswissenschaftliche und politische Analyse Hintergründe
  • Einschätzung der Reaktion der betroffenen SozialarbeiterIn
  • Grundsätzlich mögliche Handlungsperspektiven und Strategien der Gegenwehr im beschriebenen Beispiel

Da die Situationen zwar unterschiedlich sind, aber doch viele Gemeinsamkeiten aufweisen, auch was die möglichen Gegenstrategien betrifft, werde ich nicht auf alle Aspekte jedesmal ausführlich eingehen, sondern auf die, auf die ich schon einmal ausführlich eingegangen bin, nur noch hinweisen.

 Es geht los mit folgender Geschichte (Seithe/Wiesner-Rau, S. 145)

 „Was können wir schon für diese Menschen erreichen?“
Menschen in Wohnungsnot gibt es immer mehr
Ich bin studierte Sozialpädagogin. Seit 17 Jahren arbeite ich nun schon in der Beratungsstelle für wohnungslose Menschen und Menschen in Wohnungsnot. Ich habe schon viel gesehen und auch einen Wandel im Klientel mitverfolgen können, doch langsam wird es wirklich immer erschreckender. In unserer Stadt wird die Beratung immer schwieriger, weil immer mehr Mittel fehlen und Kolleginnen und Kollegen weggekürzt werden. Auch Sprachbarrieren stellen mich mittlerweile vor einige Schwierigkeiten und dazu kommt, dass immer mehr Kinder involviert sind. Und ich will gar nicht von dem schlechten Wohnungsmarkt in unserer großen Stadt anfangen. Und letztlich, was können wir schon für die Menschen erreichen?
Zwei Beispiele von gestern:
Gestern früh kam eine Frau mit drei Kindern zu mir. Das jüngste davon war gerade erst acht Monate alt. Die vier kamen aus der Türkei. Aufgrund schwieriger Familienverhältnisse und ihres gewalttätigen Mannes dort, der sich von ihr getrennt hatte, war die Frau durch das Rote Kreuz nach Deutschland ausgeflogen worden und landete ohne alles in Berlin.
Zu mir kam sie nun, nachdem sie einige Tage auf der Straße und dann in einem Frauenhaus geschlafen hatte. Unvorstellbar für mich der Gedanke, mit einem acht Monate alten Kind auf der Straße zu übernachten.
Immerhin konnte ich die Klientin an die Soziale Wohnhilfevermitteln, sodass sie zunächst erst einmal einen Raum mit fließend Wasser, Betten, Heizung und einer Möglichkeit zum Kochen hat. Da ihre Kinder noch so jung sind, müsste hier eigentlich das Jugendamt zuständig werden und helfen, doch die Mühlen der Bürokratie mahlen langsam und ich bin froh, wenigstens etwas für sie getan zu haben.
Trotzdem tut es mir leid, weil ich weiß, wie lang der Weg noch sein wird, bevor all die Ungewissheit verschwunden ist und die Kinder endlich ein geregeltes Leben und ein stabiles Umfeld haben werden.
Es ist einfach schwer zu ertragen, wie immer mehr Menschen mit kleinen Kindern auf solche Weise oder auch aus gerade geräumten Wohnungen vor dem Nichts stehend zu uns kommen.
Und eine zweite Frau kam dann auch noch zu mir. Sie stammte aus Rumänien und wollte in Deutschland einen Neuanfang wagen. Aus dem alten Elend ins neue Elend. Sie hatte sich offensichtlich ihre besten Kleider angezogen, kam mit Laptop und Jobbewerbungen. Sie war gelernte Chemielaborantin und hatte sich seit einigen Wochen hier aufgehalten. Sie hatte in Hostels gelebt und Bewerbungen abgeschickt, vielleicht sogar ein oder zwei Bewerbungstermine wahrgenommen. Sie hatte sich so große Mühe gegeben, doch nun war ihr Geld für Hostels aufgebraucht und sie hatte weiterhin keinen Job. Ich konnte sie in die Notübernachtung vermitteln, doch ich denke, ihr bleibt nur der Weg zurück nach Rumänien. Mehr kann ich nicht für sie tun.
Es müssten ganz andere Sachen passieren, um dieses Elend wirklich zu beenden, mit dem ich täglich konfrontiert werde: Die Stadt müsste mehr bezahlbaren Wohnraum schaffen und so die sozialen Verhältnisse verbessern.

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Fachliche Kritik der geleisteten Arbeit 

Die Wohnungslosenhilfe ist hier nicht viel mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein.

  • Wohnungslosenhilfe hätte die Aufgabe, Menschen, die in eine solche Notsituation geraten sind, angemessen zu beraten, ihnen bei der Bewältigung des Problems zu helfen und ihnen durch Information und persönliche Ermutigung zu helfen, diese Lage zu überwinden. Das funktioniert aber nur, wenn genug Lösungsmöglichkeiten für Betroffene zur Verfügung stehen und wenn die personellen Ressourcen in der Wohnungslosenhilfe mehr als eine bloße verwaltungsmäßige Bearbeitung der Fälle zulassen. Was die Kollegin von ihrer Arbeit beschreibt, lässt darauf schließen, dass sie oft nur oberflächlich helfen kann und ihre Arbeit wie einen Tropfen auf den heißen Stein empfindet.
  • Gleichzeitig ist im Hintergrund eine Wohnungspolitik erforderlich, die die Wohnungslosigkeit erst gar nicht  hochkochen lässt und die z.B. verhindert, dass Eigentümer Menschen aus Wohnungen herausklagen oder -ekeln, die dort über lange Zeit gelebt haben. Wenn aber stattdessen gesetzliche Regelungen geschaffen werden (etwa bei Hartz IV), die die Gefahr der Wohnungslosigkeit vervielfachen, darf man sich nicht über den Anstieg dieses Problems wundern. Hier erfüllt eine Wohnungslosenhilfe nur die Funktion, die Not zu verwalten.

Gesellschaftswissenschaftliche und politische Analyse

  • Wohnungslosenhilfe, die über viel zu geringe Mittel verfügt, um den Betroffenen zu helfen, ist in sich eine Farce. Die Mitarbeiterin ist gezwungen, der zunehmenden Verschärfung der Problematik ohnmächtig zuzusehen. Immer mehr kommen Problemlagen auf sie zu, die mit den geringen Hilferessourcen, über die sie verfügen kann, kaum bewältigen kann.
  • Ihre fachlichen Mittel der sozialpädagogischen Beratung und Information sind hier – am Ende der Fahnenstange – eigentlich nur ein Trostpflaster bzw. dazu da, die schlimmsten Kollateralschäden zu lindern und zu managen. Sie können die gesellschaftlichen Versäumnisse, die hinter den steigenden Problemlagen stecken, nicht kompensieren oder auffangen. Zunehmend mehr wird hier Sozialpädagogik zur Befriedung und zur Beruhigung und als Alibi eingesetzt.
  • Der Trend zu immer mehr Wohnungslosigkeit, der auch neue gesellschaftliche Schichten betrifft und z.B. vor Familien keinen Halt macht, muss gesellschaftspolitisch umgedreht werden!

Einschätzung der Lage und der Reaktion der betroffenen SozialarbeiterIn

Die Mitarbeiterin der Wohnungslosenhilfe leidet unter dem Schicksal der Menschen, denen sie nicht wirklich helfen kann und an der allgemeinen Verschlechterung der Lage. Sie leidet an der offensichtlichen Sinnlosigkeit ihrer Arbeit, die nichts an den Ursachen verändern kann und offensichtlich auch nicht soll.

Sie leidet auch an den konkreten Bedingungen, unter denen sie selbst diese Arbeit erledigen muss, obwohl dieser Punkt für sie offensichtlich nicht im Vordergrund steht.
Sie sieht sehr wohl, dass hier die Probleme gesellschaftlich verursacht werden und stetig zunehmen und wirft der Politik Verantwortungslosigkeit vor. Sie stellt für sich Forderungen an die Gesellschaft auf.

Die Frage bleibt, wie lange sie diese Situation aushalten wird, ohne krank zu werden oder die Arbeit aufzugeben.

Mögliche Handlungsperspektiven und Strategien der Gegenwehr

Einen ersten Schritt zum Widerstand, hat die Kollegin bereits gemacht: Sie reflektiert die Situation, ihre Lage darin und erkennt die Hintergründe für die gesamte Misere. Das alleine ist bereits der Beginn einer widerständigen Haltung, auch wenn man noch nicht weiß, was man dagegen machen könnte.

Was könnte sie noch tun? 

Die eigentlichen Probleme, die einer guten und sinnvollen Arbeit in der Wohnungslosenhilfe im Wege stehen, nämlich die gesellschaftlich inakzeptablen politischen und sozialen Rahmenbedingungen, die die Wohnungslosigkeit heute zu einem häufigen und kaum  lösbaren Problem machen, die werden SozialarbeiterInnen nicht am eigenen Arbeitsplatz lösen können.

Allerdings wäre wichtig, diese nicht einfach frustriert oder geduldig als Fakt hinzunehmen. Es ist angezeigt, dass man offen  mit den KollegInnen, den KlientInnen und auch den Vorgesetzten darüber spricht, was die Zunahme der Wohnungslosigkeit verursacht . Es ist nicht unsere Aufgabe, die Lügen zu unterstützen, die den Menschen einreden, sie seien selbst an diesem Schicksal schuld. Aufklärung ist hier ein wichtiger Schritt zur Gegenwehr.

Um hier mehr  zu erreichen, bedarf es politischer Aktivitäten über den eigenen Arbeitsplatz hinaus. Das Einmischen  in die Wohnungspolitik und in andere relevante Bereiche der Politik steht für Sozialarbeitende sozusagen auf der Tagesordnung. Zu fordern wären z.B.
o   genug  bezahlbarer Wohnraum
o   die Verbesserung der sozialen Verhältnisse der Menschen
o   die Korrektur von Gesetzen, die die Wohnungslosigkeit forcieren
o   Verstärkung der Rechte von Mietern
o   bessere personelle Ausstattung der Wohnungslosenhilfe
und manches mehr.

Für solche Aktionen und Strategien braucht man allerdings Gleichgesinnte und eine möglichst starke Organisation im Rücken. Gewerkschaften und vor allem auch der Berufsverband sind hier mögliche Partner. Darüber hinaus gibt es überall politisch engagierte, kritische Gruppen von SozialarbeiterInnen, die es sich zum Ziel gesetzt haben, diese Auseinandersetzung zu führen.
Wer nicht einfach nur in Ruhe seinen Job machen will, egal, ob die Arbeit noch einen Sinn macht oder ob die Politik Soziale Arbeit nur noch dazu benutzt, Probleme zu verdecken und Menschen zu beruhigen, wer also erwartet, dass Soziale Arbeit wirklich auch im Interesse der Menschen ausgeübt werden kann, der kann und müsste mehr tun. Er sollte das politische Mandat seiner Profession aufgreifen und sich mit anderen zusammen für eine Sozialpolitik und Gesellschaft einsetzen, innerhalb der Soziale Arbeit mehr sein darf, als ein Ausfallbürge für die politische Verantwortung der Gesellschaft.

Natürlich kann man eine solche politische Arbeit nicht in seiner Arbeitszeit machen. Man muss sich entscheiden, die politische Arbeit als etwas zu betrachten, was im ureigensten Interesse liegt und von daher auch wert ist, in der vorhandenen Freizeit seinen Platz zu finden.

Darüber hinaus gibt es  – unabhängig von unserer Profession – in vielen Städten Wohnungslosen-Initiativen, also politische Initiativen vor allem Betroffener, die unsere Solidarität und unsere Parteilichkeit brauchen. Uns hier zu beteiligen, unser Wissen und unsere Beratung anzubieten, wäre ebenfalls ein Akt politische Gegenwehr, den wir als Professionelle dann leisten sollten, wenn wir uns nicht als Erfüllungsgehilfen dieses Staates verstehen wollen.

Im Rahmen einer solchen politischen Arbeit jenseits des eigenen Arbeitsplatzes sind leider keine schnellen Erfolge und Veränderungen zu erwarten, denn die gegenwärtige Lage ist sehr festgefahren und scheint in jeder Hinsicht im Sinne der neoliberalen Vorstellungen unserer gegenwärtigen Politik zu funktionieren. Aber nur wer sich wehrt, gibt sich und seine Profession nicht auf. Parteilichkeit ist eine der ethischen Grundpfeiler der professionellen Sozialen Arbeit.
Das freilich sieht die neoliberal gewendete Soziale Arbeit völlig anders. Und wir müssen uns entscheiden.

Die Kommentierung der nächsten Geschichte folgt 

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Warum sollten wir Widerstand leisten?

Fortsetzung vom 7.8.14

Aber da hat mir jemand eine andere Frage gestellt:

„Warum schwiegen die Fürsorgerinnen im Faschismus? Und würden die SozialarbeiterInnen  heute genauso schweigen?“

Ich weiß die Antwort nicht. Ich hoffe, es wäre anders als damals… Aber ich bin von dieser Frage sehr betroffen:

Klar wir haben keinen Faschismus. Manche sagen, „noch nicht“ (und ich muss gestehen: ich muss auch darüber nachdenken).
Aber ich frage mich, wenn schon heute kein Widerstand passiert, wenn heute die SozA schon hinnehmen, was von ihnen erwartet wird und was im Widerspruch steht zu den Werten und ethischen Verpflichtungen, die die Profession SozA verlangt – was soll dann passieren, wenn es noch schlimmer kommt?
Müssten wir nicht heute üben, zu widerstehen, damit wir morgen oder übermorgen nicht wieder so hoffnungslos versagen und Mittäterinnen werden an unseren Mitmenschen?

Also muss ich die Frage nach der fehlenden Widerständigkeit der Profession und ihrer Vertreterinnen doch weiter aufnehmen. Also kann ich nicht sagen, „o.k. es kommen auch wieder andere Zeiten!“ Denn ich weiß nicht, welche Zeiten kommen und ich fürchte, sie werden nicht unbedingt besser, humanistischer, menschlicher sein.

Also werde ich weiter solche Bücher schreiben müssen und weiter versuchen, zu politisieren.

Und deswegen mache ich mich jetzt daran, das oben angeführte und besprochene Buch für diejenigen, die es als unbefriedigend, belastend oder bedrückend erlebt haben, sozusagen weiter zu schreiben, damit es sein Ziel noch erreichten kann:

  1. Ich werde versuchen, die Geschichten zu erläutern, die Hintergründe zu analysieren und zu erklären, damit man deutlich sieht, was hinter dem persönlichen „Jammern“ eigentlich steht.
  2. Ich werde bei  jeder Geschichte Überlegungen anstellen, was die Betroffenen in dieser Lage hätten tun können, welche Spielräume sie gehabt hätten, welche Handlungsmöglichkeiten in einer solchen Situation bestehen und wie hier Widerstand und Gegenwehr aussehen könnte.

Diese Überlegungen werden nicht vollständig und abschließend sein und sollen es auch nicht. Denn es geht darum, dass die Leserinnen sind nun mehr daran machen, selbst neue Ideen und Möglichkeiten zu entwickeln.

Es geht also weiter.

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„Jammern“ oder die „Wahrheit sagen“? – Anmerkungen zur Rezeption unseres Buches

Im letzten Herbst habe ich zusammen mit Corinna Wiesner-Rau das Buch „Das kann ich nicht mehr verantworten – Stimmen zur Lage der Sozialen Arbeit“ veröffentlicht.

Es sollte ein Beitrag dazu sein, dass die Stimme der Praxis endlich gehört wird und sich die Profession ermutigt fühlt, über die hoch problematischen Verhältnisse in der Praxis der Sozialen Arbeit offen zu informieren.
Nach fast einem Jahr Erfahrung mit dieser Veröffentlichung, möchte ich dazu einige Gedanken äußern, die uns gekommen sind durch die Reaktionen unserer LeserInnen.

zum   Buch:                                                              Seithe-Cover

SozialarbeiterInnen erzählen aus ihrem Alltag. Es werden dabei Arbeitsbedingungen deutlich, die unglaublich sind. Es wird dabei deutlich, dass es in der Sozialen Arbeit heute gar nicht mehr um die Menschen selbst geht. Es wird deutlich, dass nicht die Fachlichkeit, sondern die Wirtschaftlichkeit regiert. Es wird deutlich, dass die Lage der Sozialarbeitenden heute mehr als problematisch ist und für die Klientel nicht mehr viel zu bieten hat.
Das sind Wahrheiten, die meist keiner hören will, die die Träger und Fachverbände verschweigen, die das Ministerium und die Sachverständigen des 14. Kinder- und Jugendberichtes nicht zur Kenntnis nehmen. Und keiner fragt die Betroffenen. Alle scheinen zufrieden zu sein.
Und hier waren 58 KollegInnen bereit, die Wahrheit ins Tageslicht zu rücken – freilich nur anonym.
Dieses Buch sollte Tabus brechen und für die KollegInnen ein starkes Werkzeug werden im Bemühen um eine andere Soziale Arbeit:

o   Es sollte die Betroffenen ermutigen und sie stärken im Wissen, dass andere mit den gleichen Problemen zu kämpfen haben und also die Ursachen nicht bei ihnen selst liegen.

o   Es könnte an die „richtigen“ Leute weitergeben werden: die Vorgesetzen, die GeschäftsführerInnen, die Politikerinnen, um ihnen endlich reinen Wein einzuschenken.

o   Es könnte genutzt werden zu Tagungen, Seminaren aber auch zu politischen Versammlungen, Aktionen, um die Sprachlosigkeit der Profession zu durchbrechen.

o   Es könnte anregen zu ähnlichen Aktionen: Was wird hier verschwiegen und was sollte die Öffentlichkeit wissen?

o   Man könnte anhand der Geschichten die Ursachen und Hintergründe der vorhandenen Problemlagen analysieren.

o   Und schließlich könnte es auch als Arbeitsinstrument genutzt werden, um die eigene Widerstandspraxis zu entwickeln und zu verbessern.

Bei etlichen LeserInnen ist es auch genauso angekommen.


Aber viele haben uns eine ganz andere Rückmeldung gegeben: Sie empfanden das Buch nicht nur als belastend sondern als deprimierend und als reines Jammern, das sie als wenig hilfreich empfunden haben. z.B. folgende Rezension:

Oh Zeiten, oh Klagen… – das ist die Kurzfassung dieses Werkes. Stimmen zur Lage der sozialen Arbeit, heißt es im Untertitel – es handelt sich um eine Sammlung anonymer Aufsätze sämtlicher sozialer Arbeitsfelder, die mehr oder weniger alle dasselbe aussagen. Schlechte, unzureichende Arbeitsbedingungen, zu wenig Geld, zu wenig Zeit, keine Chance auf eine gute, Ergebnis orientierte Arbeit – keine brauchbare Zusammenarbeit zwischen Ämtern und Professionellen, die die Arbeit tun, keine Möglichkeit für die Betroffenen, denen die Arbeit gelten soll, wirklich nachhaltig davon zu profitieren.
Der Leser möge sich davon überzeugen, es liest sich flüssig, authentisch. Inwieweit es sich wirklich verallgemeinern lässt ist die andere Frage – aus meinem persönlichem Umfeld sind ist mir – auch – anderes bekannt – eingeschlossen ich selber,  die ich gelegentlich und nachhaltig auch hilfreiche Hilfe aus dem Hilfesystem in Anspruch nehme. Da klappte auch nicht immer alles auf Anhieb, aber inzwischen haben wir gemeinsam gelernt und ich bin froh und dankbar, dass es so etwas gibt.
„Das kann ich nicht mehr verantworten“ malt nur schwarz und zeigt absolut keine Lösungen auf. (Talke)

Das lässt uns grübeln:

  • Wieso kommt es als Jammern an, wenn Sozialarbeitende endlich sagen, was los ist?
  • Warum erscheint es als Jammern, wenn SozArbeiter  selbst keine Lösung haben?
  • Warum regt das nicht vielmehr an, über Lösungen nachzudenken und zu diskutieren?
  • Wieso macht man uns  den Vorwurf, die Sozialarbeitenden mit diesem Buch im Regen stehen zu lassen, weil wir ihnen ihre Ohnmacht vorführen aber nicht sagen, was sie tun könnten?
  • Warum ist das Jammern, wenn man Tabus bricht? Warum ist das Wehleidigkeit und Selbstmitleid,  wenn man sagt, was oberfaul ist?
  • Warum ist es verachtenswert, unzufrieden zu sein?

Solche LeserInnen reagieren auf die Geschichten, als sei das Verhalten der ErzählerInnen einfach  undankbar, destruktiv,  herunterziehend, lähmend, als mache es alles noch schlimmer, als hindere es die KollegInnen daran,  trotzdem irgendwie klar zu kommen? Ja man gewinnt bei manchen Reaktionen den Eindruck, dass sich SozA für diese Geschichten schämen, als hätte man sie gar nicht erzählen dürfen.

Und warum erinnert mich diese Reaktion an Beispiele aus der Geschichte, wo die erschlagen wurden, die den Unterdrückten die Wahrheit sagten?

Zunächst war ich – zugegebenermaßen ein wenig sauer und dachte, man könnte solche Reaktionen auch anders sehen, etwa nach dem Motto:

  • Wer nicht glaubt, dass etwas änderbar ist und anders sein könnte, für den ist das Aufzeigen der Katastrophen eine sinnlose Quälerei
  • Natürlich sind die ungehalten, die in ihrer Anpassungsruhe gestört werden.
  • Natürlich sind die sauer, die gezwungen werden, genau hinzusehen und danach größere Schwierigkeiten haben, sich anzupassen bzw. größere Probleme damit, dass sie sich anpassen.

Aber es war absolut nicht unsere Absicht, KollegInnen anzugreifen oder bloß zu stellen!

Wir haben darüber nachgedacht, welchen Anteil wir selber haben an solchen Reaktionen. Und wir haben festgestellt: Unser Buch ist eben doch nicht ganz so, wie wir es uns vorgestellt hatten.

Ganz offensichtlich ist dieses Projekt nichts aus dem Herzen der Betroffenen selbst erwachsen. Und wahrhaftig: Wir musste ihnen die Wahrheit auch ziemlich aus der Nase ziehen. Sie sprachen nur ungern darüber, wie es wirklich um ihre Arbeit stand. Sie haben schließlich doch so einiges „blicken lassen“. Aber es erleichterte sie nicht wirklich, darüber zu reden.
Auch der Titel „Das kann ich nicht mehr verantworten“,  ist letztlich eine Illusion. Tatsächlich sind die Geschichten zu 80% keine Widerstandsgeschichten und zu 50 % nicht mal Texte, in denen die ErzählerInnen die eigentlichen Ursachen erkennen und benennen. Diesen Spruch: „Das kann ich nicht mehr verantworten“ hat eine Einzige so gesagt. „Schluss mit Schweigen“ wäre eher als Titel geeignet gewesen. Am ehrlichsten hätte es heißen müssen: „Wir reden nur sehr ungern darüber“. Wir haben in diese Geschichten eine Widerständigkeit hinein geträumt, die es leider nicht gab.
Nur elend fühlten sich beinahe alle, die ihre Geschichten preisgaben. Aber allein das zu hören, macht vielen offenbar keinen Mut. Die Erzählungen kommen vielleicht auch deshalb an wie Jammergeschichten, weil eben doch nur anonym geredet wurde. Und das ist noch keine Heldentat, kein wirkliches Whistleblowing. Und es nur auszusprechen ändert schließlich auch nichts?

Wozu dann also das ganze „Widerstandsgetue?“

Was aber sagt uns das? Das es eben doch keinen Widerstand gibt, dass die meisten eben doch lieber schweigen und mitmachen? Dass es einfach verlorene Mühe ist, die KollegInnen aufzurütteln und ihnen vor die Augen zu halten, an was sie sich da anpassen?Angesichts dieser Reaktionen, angesichts der Ohnmacht, angesichts der schon gewonnen Siege der anderen Seite, angesichts der bestehenden Machtverhältnisse müsste man und könnte man doch eigentlich sagen: „gut, aus, vorbei, so läuft es jetzt eben. Die alte SozA ist Vergangenheit. Vielleicht kommen auch wieder andere Zeiten“?

Ich ich ganz persönlich frage mich, warum also quäle ich mich und die Kolleginnen mit der Aufforderung, etwas gegen diese Entwicklungen zu tun?
Schließlich ist das gar nicht mehr mein Ding. Ich habe 36 Jahre Soziale Arbeit gemacht, 18 Jahre in einer Praxis, in der es meist Spaß machte Soziale Arbeit umzusetzen und 18 Jahre in der Hochschule, wo ich den „Umkremplungsprozess“ der Sozialen Arbeit zu einem reinen Marktgeschehen mit etwas Distanz aber sehr deutlich beobachten konnte – Schritt für Schritt. Sollen doch die Jungen sich mit den neuen Zeiten herumschlagen! Es ist nicht meine Schuld, wenn sie kapitulieren, aber nichts dabei finden.
So dachte ich manchmal , wenn ich diese Reaktionen las.

Aber jetzt hat mir jemand eine ganz andere Frage gestellt…

Fortsetzung folgt

 

 

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Widerständiges Handeln am Arbeitsplatz – warum – wie – mit wem

Im Zwiespalt zwischen neoliberalen Zumutungen und sozialarbeiterischer Fachlichkeit  

Prof. Dr. Mechthild Seithe: Vortrag gehalten auf der DGSA Tagung in Köln 25.4.2014  

Vorbemerkungen: 

Neulich habe ich einen Vortrag gehört über den Widerstand der Profession Soziale Arbeit zwischen 1933 und 1945. Es waren nicht viele KollegInnen, die Widerstand geleistet haben, aber es gab gute und beeindruckende Beispiele.

Es ist sicher wichtig, den Blick auf die zu richten, die Widerstand leisten und geleistet haben. Aber wir wissen, dass die meisten FürsorgerInnen während der Zeit des Faschismus und meistens auch noch danach geschwiegen haben, aus Angst, aus Gleichgültigkeit oder weil sie einverstanden waren mit diesem Menschen feindlichen System. Fakt ist: im Faschismus hat die Masse der KollegInnen geschwiegen, sich angepasst, weggesehen und mitgemacht.
Und selbst Jahre nach Ende des Faschismus haben viele nicht begriffen und eingesehen, dass sie dadurch mitschuldig geworden sind.

Am 15. Mai 1951, 6 Jahre nach dem Ende des Faschismus, wurde z.B. Frau Heinrich (Name geändert) von einer Sozialforscherin befragt, wie sie heute zu den Vorwürfen stehe, durch ihr Schweigen zu Mord und Rassismus beitragen zu haben. 
Frau Heinrich reagierte empört:
‚Was wollen die eigentlich von mir? Ich wusste ja von nichts. Ich habe nichts davon gesehen. Keiner hat uns gesagt, was genau mit den Unterlagen passieren würde, die wir für das Bezirksamt vorbereitet haben. Für uns Fürsorgerinnen spielte das alles doch gar keine Rolle. Wir haben uns einfach nur für unsere Leute eingesetzt, ja wir sind für unsere Klientinnen betteln gegangen. Und jetzt kommen die und sagen uns, wir hätten nicht schweigen dürfen. Wieso machen sie uns unsere Arbeit schlecht? Man kann uns doch nichts vorwerfen. Politik, die haben andere gemacht. Mit Politik hatte ich nie was zu tun! Selbst in die Partei bin ich erst gegangen, als es nicht mehr anders ging. Wir sind alle zusammen eingetreten. Wir wollten einfach nur unsere Arbeit weitermachen dürfen. Und das ist jetzt der Dank?‘

Es ist sicher wichtig, die Widerständigen zu feiern und hervorzuheben. Aber angesichts der Reaktionen der Mehrheit in dieser Zeit würde es  – vor allem mit Blick auf die heutige Situation – interessant und von großer Bedeutung sein, wenn man  die Frage stellen würde: Wie kam es dazu, das Menschen Widerstand leisten konnten und wollten? Daraus könnte man lernen. Denn das Reden über die schreckliche und unmenschliche Zeit des Faschismus darf nicht dazu führen, dass man sich innerlich zurücklehnt und denkt, dass so etwas ja bei uns überhaupt nicht denkbar sei.

Nun stellen Sie sich vor, Sie würden eingeladen zu einem Zeitsprung ins Jahr 2038 und säßen hier genau wie heute bei einer Tagung und es ginge in dem Workshop um die Frage, ob es denn nicht doch auch in der Phase der Neoliberalisierung von Gesellschaft und Sozialer Arbeit  zwischen 1990 und , sagen wir, 2035 Widerstand gegeben  habe – wobei uns dann insbesondere der mögliche Widerstand in den Reihen der Sozialen Arbeit interessieren würde…. Ob wird da viele Beispiele finden könnten? Was meinen Sie?

Diese Phase der Gesellschaft, in der wir heute leben und auf die Sie 2038 vielleicht zurückblicken können, wird durch eine dominierende Vermarktlichung  gesteuert und ist von einem Menschenbild geprägt, das Menschen als Waren betrachtet und sie nach ihrer jeweiligen Nützlichkeit für die herrschende Wirtschaft als wertvoll oder weniger wertvoll einschätzt. Diese menschenverachtende, darwinistische Ideologie bestimmt alle Teile der Gesellschaft, auch die Soziale Arbeit. Und sie wird uns von der herrschenden Politik und den ihr dienenden Medien als alternativlos, selbstverständlich, natürlich und modern und deshalb unhinterfragbar verkauft und so von den  meisten Menschen auch hingenommen. Auch heute wäre sehr wohl Widerstand notwendig. Und es reichen nicht einzelne Helden. Vielmehr stellt sich für uns die Frage: Wie könnte man hier und heute Widerständigkeit  bei möglichst vielen KollegInnen gegen das entwickeln, was unsere Profession tagtäglich zur Farce macht?

hier der gesamte Vortrag:Widerständiges Handeln am Arbeitsplatz – warum -wie – mit wem pdf

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„Sozialraumorientierung“ und was daraus wird, wenn die Politik zugreift

Stellungnahme zum:

Modellprojekt „Erziehungshilfe, Soziale Prävention und Quartiersentwicklung“ (ESPQ) in Bremen. Wissenschaftliche Begleitung Prof. Olk (Halle)

Fazit:

Abschließend muss man aus fachlicher Sicht folgende Aussagen treffen:

1. Die kritiklose Akzeptanz des Wunsches der Politik, egal wie, Kosten im Bereich ambulanter Hilfen  zur Erziehung zu sparen, müsste deutlich zurückgenommen werden.
Es kann nicht sein, dass es in unserer Gesellschaft Problemlagen innerhalb der Jugend gibt, die dringend einer intensiven Unterstützung und Lösung bedürfen und die trotzdem negiert werden und für die man sich nicht zuständig fühlt.
Es müsste zudem von Seiten unserer Disziplin deutlich darauf hingewiesen werden, dass die Ersparungen an der Hilfe zur Erziehung, die vielleicht möglich sind, wenn man den ASD wirklich wieder in seine eigentlichen sozialpädagogischen Aufgaben einweist und damit die „falschen“ Hilfen zur Erziehung aussetzen kann, nur die eine Seite sind.
Eine, wie hier geforderte, fachliche Umsetzung einer wirklich qualifizierten und für die komplexen Problemlagen von Familien ausgewiesenen ambulanten Hilfe dort, wo diese notwendig ist, würde zweifellos auch Geld kosten, denn die derzeitige Ausstattung ist größtenteils völlig unzureichend. Hier wäre Klarheit und Ehrlichkeit angesagt.

Wer aber unbedingt  in diesem Bereich Kosten reduzieren will – den fachlichen, sozialpolitischen und ethische Notwendigkeiten zum Trotz – der  wird dies nicht gerne hören.
Olk wählt hier einen pragmatischen Weg, von dem er vielleicht hofft, auf diese Weise und wenn er mit möglichen Sparoptionen winkt, dringend erforderliche fachliche Selbstverständlichkeiten wieder re-installieren zu können. Aber er muss damit rechnen, dass diese Absicht das nach hinten losgeht, wenn nicht die Forderung nach mehr, und zwar deutlich mehr Personal im ASD eingelöst wird..

 

2. Die massive Verstärkung der ASD-Teams in den einzelnen Stadtbezirken wäre für eine flächendeckende Umsetzung ein absolutes Muss.
Olk betont immer wieder, dass die von seinem Modellprojekt erzielten Effekte (von Kostenreduktion  wie von besserer Fachlichkeit) eine direkte Folge der personellen Ausweitung darstellt.
2012 hat die Politik diese Aussage offenbar akzeptiert, vielleicht aber nur für die Modellphase.
Die als „Sozialraumorientierung“  vor gestellte neue Fachlichkeit des ASD kann ohne diese personelle Erweiterung (und zwar im konkreten Fall des Projektes um 6 volle Stellen) nicht geleistet werden. Würde sie dies heute nicht mehr beherzigen wollen, wäre die Folge, dass die MitarbeiterInnen noch stärker unter Druck gerieten und die Scheinheiligkeit in den Ämtern zum Himmel stänke.

 

3. Ohne eine fachliche Rekonstruktion der ambulanten, familienbezogenen Erziehungshilfen, eine fachliche Klärung ihrer Möglichkeiten und ihrer Aufgaben, wird die Wiedereinsetzung des sozialpädagogischen Fachkonzeptes für den Allgemeinen Sozialen Dienst nicht wirklich funktionieren, weil dann ungelöste Probleme im Raum stehen bleiben. Ihre Bagatellisierung, Vertröstung, Verschiebung dürfte sich in absehbarer Zeit rächen.
Da wo massive, komplexe auch psychosoziale  Problemlagen in Familien und in der Sozialisationssituation von Minderjährigen bestehen, muss die Kinder- und Jugendhilfe über Handlungsmöglichkeiten verfügen und hier tätig zu werden. Wenn sie sich aus der Verantwortung stiehlt, wird es zum einen gewaltige Folgekosten geben, wenn solche verschleppten Probleme entweder Heimerziehung unabdingbar machen oder vermehrt zu Kindeswohl gefährdenden Situationen führen.
Zum zweiten  würde die Jugendhilfe auf diese Weise  zur Verschärfung der Problemlagen vieler Minderjähriger beitragen und die Zunahme von Selbsttötungen, psychosomatischen Erkrankungen und Gewalteskalation selber aktiv vorantreiben

 

Anlass für die Stellungnahme

Das Bremer Bündnis für Soziale Arbeit hat um Unterstützung gebeten bei der Einschätzung der Vorgänge in der Jugendhilfe Bremen. Nach 4 jähriger Projektdauer des Projektes „Erziehungshilfe, Soziale Prävention und Quartiersentwicklung“ (ESPQ) (Wissenschaftliche Begleitung Prof. Olk  u.a. ,Halle), das in nur einem Bremer Stadtteil durchgeführt wurde, steht jetzt offenbar die Verallgemeinerung der Modellergebnisse und deren Folgerungen ins Haus.

Es gibt Widerstand von den Wohlfahrtsverbänden und den Personalräten im Jugendamt. Letztere sowie das Bremer Bündnis befürchten  einen neuen „Staatsstreich“ im Sinne der Ökonomisierung: „Neue Aufgaben aber kein zeitlicher und personeller Ausgleich“. Die vergangenen Erfahrungen in der Kinder- und Jugendhilfe legen solche Befürchtungen mehr als nah.

 

Als Informationen liegen zur Bewertung zu Grunde:

  • Der Zwischenbericht der Wissenschaftlichen Begleitung von 2012
  • Die Vorlage für die 06. Sitzung des Jugendhilfeausschusses am 29. Juni 2012
  • Die Vorlage für die Sitzung der städtischen Deputation für Soziales, Kinder und Jugend am 5. Juli 2012
  • Das Protestschreiben der Wohlfahrtsverbände von 2013

 

Stellungnahme

Anhand der vorliegenden Papiere soll versucht werden, das Modellprojekt selbst und seine derzeit geplante generelle Umsetzung einzuschätzen und entsprechende Kritikpunkte zu benennen. Außerdem werden wir konkrete Forderungen (am Ende dieses Textes)  aufstellen, die aus fachlicher Sicht zu erfüllen sind.

1.      Politische Einschätzung

Zunächst und vor jeder anderen Betrachtung und Argumentation muss Folgendes festgehalten werden:

Die pragmatische Übernahme der Auftragsstellung ‚Kostensenkung der ambulanten Hilfen zur Erziehung‘, die geschieht,  ohne sie wenigstens fachlich zurechtzurücken oder zu kommentieren,  diskreditiert die gesamte Konzeption und den Ansatz des Modellprojektes.

Wobei es nicht darum geht, dass die Fragestellung: „Müssen wir so viel Geld ausgeben und geben wir das Geld für das Richtige aus?“ etwa nicht legitim wäre.
Die Vermeidung von Opportunitätskosten oder von Kosten, die durch Unfachlichkeit entstehen, ist eine Einsparmöglichkeit, die durchaus sinnvoll und im Grund erforderlich ist.

Bei der oben genannten Grundsatzkritik an diesem Modell  geht es vielmehr  darum, dass hier der Wille der Politik zum unbedingten Kostensparen im Rahmen von Kinder- und Jugendhilfe von Vertreterinnen der Disziplin ohne Bedenken  akzeptiert und mitgetragen wird.

Damit aber wird von Olk et. al die Haltung der politischen Kräfte akzeptiert, die es für legitim halten, im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe willkürliche Kostenbegrenzungen zu setzen, egal welche Anforderungen von der Sache her im Raum stehen. (Eine Haltung, die z.B. der Berliner Flughafen oder die Bankenrettungen nie erfahren haben.)

In Folge dieser Eingangseinstellung der WissenschaftlerInnen  verbietet sich im Anschluss für das Projekt wie für seine Wissenschaftliche Begleitung logischerweise manche Überlegung von vorneherein. Z.B. gibt es keinerlei fachliche Reflexion der Bedeutung  von Intensität und Dauer von Hilfen. Diese werden ausschließlich als Kostenfaktoren, nicht als Variablen im Kontext von sozialpädagogischer Wirksamkeit betrachtet. Und es folgt vor allem zwangsläufig eine Tabuisierung der ambulanten  Hilfen zur Erziehung, und zwar speziell der beiden familienbezogenen Hilfen (mehr dazu weiter unten).

Bevor  konkrete Hilfeformen als zu teuer und als deshalb möglichst zu vermeiden stigmatisiert werden, wäre es aus fachlicher und wissenschaftlicher Sicht notwendig gewesen, zunächst einmal zu fragen:
1. Was könnten und sollten sozialpädagogische Familienhilfe bzw. Erziehungsbeistandschaft leisten, was über eine (auch über eine wieder sozialpädagogisch orientierte; s.u.) Beratung durch den ASD hinausgeht?
2. Bei welchen Problemlagen sind sie die notwendigen und geeigneten Hilfen?
3. Welche Bedingungen bräuchten sie, damit sie das leisten können.

Bemerkenswert ist zum Weiteren, dass im Rahmen des Projektes an die Frage niemals gerührt wird, wie es überhaupt zu der derzeitigen Deformation von ASD-Praxis, die sich heute meist nur noch auf Verwalten und Kontrollieren beschränkt, kommen konnte und ebenso, was die besagten ambulanten Hilfen derartig inflationär und „zahnlos“ gemacht hat.
So entsteht automatisch der Eindruck, als handele es sich beim gegenwärtigen desolaten Zustand (diese Einschätzung teile ich durchaus; s. u.) der Arbeit im ASD und in vielen ambulanten Hilfen um fachliches Versagen der Profession. Damit diskreditiert Olk die Profession und speziell die Hilfen zur Erziehung , spricht aber den Staat von jeder Schuld z.B. für die Anwendung der Neuen Steuerung im Sozialbereich frei . Er negiert dessen Verantwortung  für eine fachlich inakzeptable Entwicklung von ASD-Arbeit und ambulanten Erziehungshilfen, wie sie in den letzten 20 Jahren stattgefunden hat. Der „Sozialraum- Ansatz“ scheint nun  der Retter in der fachlichen Not und alles was er vertritt, ist angeblich Neuland und unglaublich  bemerkenswert.

Olk ignoriert so die massiven Folgen, die die Neue Steuerung und die Ökonomisierung der Fachlichkeit systematisch angetan haben.
Damit aber bleibt leider auch die Frage im Raum stehen:
Wird Olk sich z.B. wehren, wenn aus seinem fachlichen Projekt später  in der Praxis  etwas anderes wird? Politik pflegt  von den Ergebnissen eines Modellprojektes meist nur das herauszulesen, was in ihren Augen nützlich ist. Und sie vernachlässigt dann nicht selten andere fachliche Notwendigkeiten, die im Modellprojekt eine entscheidende Rolle gespielt haben, auch dann, wenn von wissenschaftlicher Seite dies immer wieder betont wurde. Sie hat ihre Gründe dafür, Kostengründe.
Diese Erfahrungen macht die Praxis seit vielen Jahren überall da, wo „Sozialraumorientierung“  als politisches Steuerungsmodell der Verwaltung Realität geworden ist.

Befürchtet werden muss z.B., dass die Bremer Jugendhilfeverwaltung in Zukunft die von Olk eingeführte „neue“ Fachlichkeit vom ASD verlangt, ohne aber die personelle Aufstockung in allen Stadtteilen der der Größenordnung zu vollziehen, wie dies im Modellprojekt geschah- obwohl diese immer wieder als unabdingbare Voraussetzung eines Gelingens genannt wurde.  Offenbar gibt es jetzt, im Jahre 2014, wo die flächendeckende Umsetzung ansteht, Befürchtungen, dass genau das passieren könnte – mit dem Ergebnis,

  • dass die ASD Mitarbeiter noch mehr unter Druck geraten und trotzdem keine sozialpädagogische Arbeit leisten können,
  • dass die Hilfen zur Erziehung aber halbiert, diskreditiert und tabuisiert werden und niemand mehr dafür sorgen kann, dass KlientInnen bei einem entsprechenden Bedarf – bevor es zur Kindeswohlgefährdung kommt – persönliche und intensive Hilfe erfahren,
  • dass Bremen dann nicht nur 500 000 Euro pro Bezirk in den ambulanten Hilfen einspart, sondern auch noch die 200 000, die nach Olk für die personelle Mehrbesetzung des ASD  je Stadtteil (mit zusätzlich etwa 6 Stellen) ausgegeben werden müssten.

Warum aber, so fragt man sich angesichts der Ignoranz von Olk gegenüber den Folgen der Neuen Steuerung,  sollte er in diesem Falle zu einer solchen Entwicklung nicht auch schweigen?
Wenn im Folgenden in dieser Stellungnahme  immer wieder gesagt werden muss, dass es offen bleibt, was die Politik schließlich aus den  zum Teil guten Vorschlägen dieses Modellprojektes machen wird, dann speist sich diese Unsicherheit und dieses Misstrauen genau hieraus: Da Olk die Gefahren und bisherigen Folgen der Neuen Steuerung, der Ökonomisierung, der Verbetriebswirtschaftlichung, der Vermarktlichung nicht sieht, beziehungsweise sie tabuisiert, muss auch jetzt damit gerechnet werden, dass er einer Instrumentalisierung seines Ansatzes einfach neutral zuschauen wird.
Ähnliches machen Hinte und Budde, wenn sie die fachfremden und kontraindizierten Entwicklungen ihrer „Sozialraumorientierung“  in der Praxis zu Kinderkrankheiten erklären und gelassen abwarten, dass und ob sie sich geben.

 

Was hier zur Stellungnahme und Kritik vorliegt, ist ein wissenschaftlich geleitetes Modell, nicht das, was jetzt schon oder später von der Politik daraus gemacht wird. Das sei der fachlichen  Einschätzung vorausgeschickt und unter diesen Vorzeichen sind die Aspekte zu sehen, die im Folgenden – durchaus auch  mit positivem Akzent, festgehalten werden.

 

2.       Fachliche Einschätzung des Modellprojektes

Der  kritischen Einschätzung der fachlichen Seite des Modellprojektes soll zum besseren Verständnis zunächst folgende Einschätzung der gegenwärtigen Lage von ASD und ambulanter Hilfe vorausgeschickt werden:

2.1 Faktisch ist ja Folgendes in den letzten Jahrzehnten geschehen:

Der ASD hat gegenwärtig keinerlei Zeit und Möglichkeiten mehr, sich als sozialpädagogische Instanz zu bewähren. Längst werden kontinuierliche, persönliche, motivierende, diagnostisch orientierte sozialpädagogische Kontakte mit KlientInnen nur noch selten geführt. Man schiebt stattdessen diese Arbeit den ambulanten Hilfen zu, die man damit zum einen überfordert, zum zweiten falsch einsetzt. Hier werden Aufgaben der federführenden sozialpädagogischen Kraft einfach aus der Verantwortung des öffentlichen Trägers weggegeben.  Hier hat eine ungute Aufgabenverschiebung stattgefunden, die fachlich überhaupt keinen Sinn macht

Man schiebt also die ASD Aufgaben  an die ambulanten ErziehungshelferInnen. Gleichzeitig wurden deren Arbeitsbedingungen so sehr zusammengestrichen, dass sie für ihre Familien selbst nur noch so wenig Zeit haben, dass sie faktisch auch nichts  anderes tun können, als sporadische Gespräche zu führen.  Sie haben heute in der Regel für ihre Familien kaum mehr Zeit, als es der ASD sie hätte,  wenn er – wie im Modell – durch personelle Aufstockung wieder fachlich-sozialpädagogisch arbeiten dürfte. Dass heute manche Jugendämter meinen, nicht  nur sie sondern auch die FamilienhelferInnen z.B. machten Fallmanagement, zeigt deutlich, dass man zusammen mit dieser Verschiebung die Notwendigkeit für das, was eine Hilfe zur Erziehung leisten könnte, völlig aus den Augen verloren hat.

Hier setzen Olk et al. mit ihrer Konzeption an:

 

2.2 Im Folgenden sollen die fachlichen Konzepte und Vorstellung in ihren durchaus positiven Aspekten und hinsichtlich ihres Grundfehlers bewertet werden:

Es gibt durchaus Aspekte der Vorstellungen und praktischen Umsetzungen im Modellprojekt, die man aus fachlicher Sicht begrüßen muss.

  • Wieder fachliche, sozialpädagogische ASD-Arbeit
    Das, was Olk als neue Fachlichkeit des Allgemeinen Sozialen Dienstes forciert, implementiert und umzusetzen versucht (durch Fortbildung und organisatorische Strukturen), das ist weitgehend genau das, was eine lebensweltorientierte Soziale Einzelfallarbeit seit Jahrzehnten fordert. Z.B.

    • Olk stellt es zu Recht als selbstverständlich dar, dass der ASD, soll er denn wieder sozialpädagogische Aufgaben wie Diagnose und Beratung übernehmen, personell massiv verstärkt werden muss. Er stellt fest, dass die MitarbeiterInnen Freiräume brauchen für eine gute, durchdachte Arbeit, für fachlichen Austausch untereinander, für das „genaue Schauen“.
    • Der erste Hilfeplan muss laut Olk und wie im Gesetz vorgesehen vor Maßnahmebeginn erstellt werden.
    • Der ASD macht wieder Diagnose und Beratung, reicht die Fälle nicht einfach nur an ausführende Träger weiter, die dann ihrerseits bei  Null anfangen müssen.
    • HzE –Maßnahmen werden neu geschaffen (§27 a), das heißt, man distanziert sich vom Schubladendenken des „Hilfekanons“, der eher ein Missverständnis der Verwaltung als dass er fachlichem Denken entspringt. Dass heißt, man setzt die Aufforderung des KJHG um, kreativ, individuell und sozialraumorientiert und vor allem individuell passende,  auch neue Hilfen zu kreieren, die nicht schon im Katalog enthalten sind.
    • Olk will damit ermöglichen, dass sich die ASD-MitarbeiterInnen mehr mit den Lebenslagen und der Lebenswelt der AdressatInnen auseinandersetzen.
    • Dadurch werden passgenauere Hilfen erst möglich.
    • Adressatenwille, Subjektorientierung, Aushandlung werden von Olk et al. bewusst herausgestellt. Es soll nicht am oder für den Klienten gearbeitet werden sondern mit ihm.

 

  • Mehr Fachlichkeit des ASD
    • Man kann nicht feststellen, dass im Konzept des Modellprojektes von  mehr Kontrolle, von Disziplinierung oder auch von mehr Dokumentation oder mehr Bürokratie die Rede ist.  Was Olk möchte ist mehr Fachlichkeit des ASD, keine Frage.
      Was später daraus gemacht wird, ist ein anderes Problem, denn die Kontrollbedürfnisse des Staates sind ja da und z.B. bietet die favorisierte  Methode CM dafür gute Voraussetzungen.
    • Die Bedeutung einer personalen Verstärkung des ASD wird als wichtigste Voraussetzung genannt und nicht etwa versteckt. Tatsächlich werden die Personalkosten des ASD mit den eingesparten Mitteln verrechnet. Auch die Politik nimmt diese Personalausstattungsnotwendigkeit zumindest 2012  in den Mund und scheint sie zu akzeptieren.
    • Olk weist dem ASD als ganz klar (wieder) sozialpädagogische Aufgaben zu.
      Wieweit hier wirklich pädagogische Arbeit gemeint ist, bleibt allerdings fraglich. Von ihm gewählte Begrifflichkeiten für die Arbeit des ASD wie  CM, Beobachtung etc. lassen befürchten,  dass letztlich doch nur Fallmanagement geleistet wird.
      Auf alle Fälle aber wird im Konzept des Modellprojektes nicht versucht, die angespannte Lage im ASD  durch eine Abschiebung der Problematik zur Schule und eine Abschiebung zu sozialräumlichen Angeboten zu lösen. Zumindest wird dazwischen eine sozialpädagogisch gedachte  Beratungsphase des ASD  geschaltet, die mehr als 3 Gespräche umfasst  und bis zu 10 Monate dauern kann. In diesem Rahmen  wäre auch aus unserer Sicht  eine sinnvolle Kooperation mit Stadtteil und Schule möglich.
      (Aber Achtung: Die Politik betont  an erster Stelle – im Unterschied zum Konzept von Olk et al. –  schon 2012 vor allem Prävention und Schulkooperation –obwohl das nicht so im Zwischenbericht  des Modellprojektes steht)
    • Olk geht von der Einteilung: Grauzone, Leistungsbereich und Gefährdungsbereich aus. Er  weist den Leistungsbereich nicht grundsätzlich ab, wie es heute nicht selten Praxis in Jugendämtern ist, sieht für ihn aber vor allem den Einsatz von ASD Beratung und Stadtteilressourcen vor (hier setzt unsere Kritik an, s. u.)
    • Interessant und durchaus aber positiv ist: Olk löst sich von der Fixierung auf KiWoGe (Interessant hier die Reaktion der freien Träger)
    • Er betont die Erforderlichkeit einer guten Diagnose und eines genauen Schauens
      (Frage ist, wie wird diagnostiziert???) .
    • Auf alle Fälle soll auch mit der Klientel zusammen diagnostiziert werden.
    • Er will die Ermöglichung passgenauer Hilfen durchsetzen (Eine selbstverständliche Forderung, finde ich. Was um Gottes Willen ist in diesem Punkt denn bisher gelaufen???)
    • Er sieht auch die Notwendigkeit, den ASD MitarbeiterInnen mehr Sicherheit und   Luft und Freiraum zum Nachdenken zu verschaffen.

 

  • Die „Sozialraumorientierung“ , wie sie im Rahmen des Modellprojektes vertreten und vermittelt wird,  wird hier deutlicher fassbar und erscheint nicht nur als Floskel

 

  • Die fachliche Darstellung und Konkretisierung der „Sozialraumorientierung“  von Einzelfallarbeit des ASD unterscheidet sich von oft  den eher plumpen und fachlich Vorstellungen einer  „Sozialraumorientierung“
  • „Sozialraumorientierung“  ist so, wie Olk sie einführt , nicht als Synonym für Ökonomisierung  gemeint.
  • Die Möglichkeiten der fallspezifischen Beachtung der „Sozialraumorientierung“  werden fachlich sehr angemessen und praktikabel vorgestellt.
  • Die Sozialraum-Analyse des betreffenden Stadtteils ist solide und ihre Bedeutung für die Einzelfallarbeit wird durchaus offenkundig.
  • Die „Integration sozialräumlicher Methoden in den Arbeitsalltag“ wirkt überzeugend, realistisch und unspektakulär.

 

  • Durch die Heranziehung des ASD zu fachlichen, sozialpädagogischen Aufgaben übernimmt der Staat wieder Verantwortung.
    • Die Verantwortung wird nicht länger auf freie Träger (und damit auch auf Unternehmen) abgeschoben. Das ist positiv zu sehen.
    • Dass der ASD, der schließlich federführend ist, die Aufgabe hat, mit der Klientel zu arbeiten und es nicht seine Hauptaufgabe ist, HzE zu vermitteln, ist fachlich völlig korrekt. Ein ASD, der wieder fachlich arbeitet ist seit langem notwendig!
      Fraglich ist allerdings auch hier, was das dann bedeutet:
      – Arbeitet der ASD dann wirklich fachlich sachlich, oder aber ist er auf kostensparende Strategien festgelegt, auch dann, wenn sie nicht ausreichend und nicht sinnvoll sind?
      – Auch hier stellt sich die Frage, was er damit machen wird. Nutzt er sie zur Kontrolle, zur Kostendämpfung, zur Bürokratisierung?
      Olk äußert sich dazu nicht, so wie er auch keine Beschreibung dessen liefert, was Gegenstand z.B. einer Beratung seiner Case ManagerInnen ist. Das bleibt unbeschrieben und kann somit  sicher nicht nur fachlich, sondern auch mit den üblichen betriebswirtschaftlich orientierten Inhalten ausgefüllt werden.

 

  • Als positiv ist schließlich auch zu vermerken: Der Bericht strahlt eine relative Ehrlichkeit aus.
    • Die pragmatische Absicht wird nicht verschleiert (Kostensenkung allerdings auch nicht reflektiert oder infrage gestellt). Woei diese Ehrlichkeit die Sache selbst nicht besser macht!
    • Die Voraussetzungen für eine Veränderung, auch wenn sie mehr Geld kosten, werden genannt ohne sie zu verstecken (Personal)
    • Das Ergebnis ist sonnenklar und wenig spektakulär:
      *Fallzahlen bleiben konstant (also wird der Bedarf nicht künstlich geschaffen).
      *Inobhutnahme-Notwendigkeiten nehmen sogar ein wenig zu.
      *Es gibt sogar mehr Fremdplatzierungen.
      *Und es gibt auch mehr Einzelfallhilfenach §34 und viele neue Hilfen nach §27 a.
      *Es gibt eine deutliche Zunahme von Beratung
      und gleichzeitig
      * gibt es eine deutliche (gesteuerte) Abnahme der Inanspruchnahme von SpFH und  Erziehungsbeistandschaften (50% weniger)
      *Und es gibt eine deutliche Abnahme der Kosten.

Kurz gesagt:
Mehr Beratung durch den  ASD bedeutet: weniger familienzentrierte ambulante Hilfen.
Olk nennt offen sein Ziel und hält es hier für erreicht:  Es geht also um eine  einfache Verschiebung: mehr ASD Aktivität und weniger ambulante Hilfen.

Nun ist festzustellen: Die heutige Praxis einer unreflektierten Verschiebung aller Fälle Richtung HzE ist tatsächlich höchst problematisch, weil hier die angemessene Vorbereitung, Motivierung, Diagnose, Indikationsstellung fehlen und damit Hilfen weder individuell passend noch strukturiert laufen werden. Wir halten es sehr wohl auch für wahrscheinlich, dass viele ambulante Hilfen  zur Zeit falsch liegen: weil sie vielleicht nur noch ein Alibi sind und Geld sparen sollen, weil sie zu hoch aufgehängt sind und durchaus weniger Aufwand möglich gewesen wäre, der ASD aber keine Zeit fand und die Sache untergebracht wissen wollte oder weil eigentlich hier nur Kontrolle gewollt ist usw. Hier wird tatsächlich Geld umsonst, an der falschen Stelle ausgegeben. Die hier einzusparenden Kosten fallen unter die Art von Kosten, die Folge einer unzureichenden oder fehlenden Fachlichkeit sind. Ein Jammern freier Träger, die durchaus in der Vergangenheit von dieser  unreflektierten Schwemme profitiert haben, halte ich hier wahrhaftig nicht für relevant.

Hinzu kommt allerdings: Dass viele HzE nicht greifen können, weil die notwendigen zeitlichen und sonstigen Ressourcen fehlen. Hier wäre dagegen möglicher Weise mehr Geld notwendig, damit das Geld auch richtig eingesetzt ist.

 

2.c Aber, und damit komme ich zu den entscheidenden Kritikpunkten und Versäumnissen des Modellprojektes:

 

  • Es kann  nicht  die Konsequenz dieser Rückverschiebung des Falleinstiegs in den ASD selbst (s.o.) sein, ambulante Hilfen zur Erziehung dann am besten gar nicht mehr leisten zu wollen.Denn dort, wo sie nötig sind und wo sie richtig sind (auch eine Frage einer guten Diagnostik) dort müssen sie geleistet werden,  und sie müssen so ausgestattet sein, dass sie ihre Aufgabe dann erfüllen können.
    Solche Gedanken und Planungen finden sich im Modellprojekt aber  an keiner Stelle. Der Baum der Hilfe zur Erziehung wird neu aufgebaut: Die Rolle des ASD wird wieder richtig definiert. Aber der eine Teil des Baumes wird dann systematisch vernachlässigt und soll langsam vertrocknen. Dann kann man ihn getrost ganz entfernen. Und somit ist die gesamte Argumentation und der gesamte „Neuaufbau“ fragwürdig.

Es soll nicht bestritten werden, dass es einen Sinn macht, auf den Einsatz von  ambulanten Hilfen dann zu verzichten, wenn hier die Maßnahme Familienhilfe eingesetzt wurden für Aufgaben, die weder gut vorbereitet noch gezielt überlegt worden waren und die vor allem Inhalte  beinhalteten, die durch gute ASD Beratung und möglicherweise auch durch die aktive Nutzung vorhandener Ressourcen in der Lebenswelt der KlientInnen vielleicht sogar besser hätten bearbeitet werden können. Bis hierhin stimme ich den fachlichen Vorstellungen von Olk et a. zu.
Aber das ist nur die eine Seite.

Denn wenn jetzt zu Recht gefordert wird, dass der ASD endlich wieder als sozialpädagogische Fachkraft tätig werden soll, glaubt man ganz offenbar, damit die Hilfen zur Erziehung überflüssig machen zu können. Und das ist ein vorschneller, wissenschaftlich und fachlich nicht zu vertretender Schluss, der den gezielten Vorabplanungen der Einsparung dieser Hilfen geschuldet ist.

Folge dieser  Umorientierung müsste vielmehr auch  sein, dass man jetzt endlich die ambulanten Hilfen wieder für die Arbeit einsetzt – und sie fachlich mit der Klientel im ASD gut vorbereitet-  für die sie eigentlich vom Gesetz vorgesehen sind und für die sie qualifiziert sind. Es gibt viele  Problemlagen bei unserer Klientel, die nicht allein durch eine verbesserte ASD-Arbeit oder auch durch Gruppenangebote und Gruppen spezifische Angebote nach §27a angemessen bearbeitet werden können. Zwischen der „Kindeswohlgefährdung“ und dem von Olk et al. genannten Bedarf an „Hilfe im Alltag“ gibt es Problemlagen, die sehr wohl intensive Hilfe erfordern. Hier aber sind die KlientInnen angewiesen auf intensive, nicht eng befristete Hilfen, die eine gute Vertrauensbasis voraussetzen und als Beziehungsarbeit in der Lage sind, Veränderungen auch im psychosozialen Bereich – z.B. innerhalb von Familienbeziehungen – im und mit der Klientel anzustoßen und zu begleiten.

 

  • Die ambulanten Hilfen spFH und Erziehungsbestand werden tabuisiert und negiert:

Diese Tabuisierung  wird natürlich zunächst gesteuert durch die Auflage der Politik, ein kostensenkendes Konzept zu erstellen und die willkürliche Botschaft, ambulante Hilfen seien zu teuer und würden das Geld nicht wert sein, das sie Kosten.

Davon abgeleitet ergibt sich eine fachlich unangemessene  und unerklärte Distanz zu diesen Hilfen: Sie werden weder inhaltlich vorgestellt, noch wird ein Vorschlag entwickelt, wie sie sich verbessern könnten. Man reflektiert nicht ansatzweise  ihre potentielle Leistungsfähigkeit, ihre Besonderheiten und ihre Alleinstellungsmerkmale gegenüber den anderen Möglichkeiten der Hilfe.

Bei der festgestellten Zunahme der Hilfen nach §27a und der Zunahme der intensiven Einzelbetreuung nach § 34 kommt man zur Interpretation, dies sei Folge der Tatsache, dass die ASD-MitarbeiterInen nun mehr ihren Blick auf die Lebenswelt der AdressatInnen gerichtet hätten als bisher.  Ambulante HzE und die Gründe für ihre Wahl werden inhaltlich nicht diskutiert. Was der Unterschied zu den neuen Hilfen nach §27a ist, wird nicht aufgezeigt.
Ein Zusammenhang der SpFH und der Lebenswelt wird einfach geleugnet. So steht die Behauptung, die  Wahl einer spFH oder einer Erziehungsbeistandschaft sei per se eine falsche, nicht durchdachte Wahl. Damit werden diese beiden Hilfen systematisch diskreditiert.

Ein solches Vorgehen ist nicht nur fachlich unangemessen, es ist auch schlicht unwissenschaftlich.

  • Entwertung intensiver Elternarbeit

Die Negierung und Tabuisierung gerader dieser beiden Hilfen zur Erziehung legt zudem den Eindruck nahe, dass es auch um eine Diskreditierung von Familienarbeit als solcher geht. (Es gibt zwar keine  Aussagen gegen den Sinn von Familienarbeit. Der ASD arbeitet ja schließlich auch mit den Familien.) Man ist versucht, hier die Tendenz zu erkennen,  Eltern, besonders benachteiligte und sogenannte bildungsferne Eltern, im Zweifel einfach auszuhebeln und quasi kalt zu stellen, ihnen die Verantwortung im Zweifel einfach aus der Hand zu nehmen und  stattdessen verstärkt am Kind anzusetzen. Auf diese Weise würde man die Verantwortung der Eltern nur als deren Bringschuld  interpretieren, nicht als ihr Recht. Denn schließlich leisten sie eine gesellschaftlich wichtige Aufgabe, zu deren Bewältigung sie einen Anspruch  auf Unterstützung haben.

 

  • Diskreditiert und negiert wird jede  beziehungsbezogene  Arbeit der SozialpädagogInnen

Olk geht von einer Zweiteilung der Anlässe für Hilfe aus: Auf der einen Seite steht die Kindeswohlgefährdung. Hier hält er die Fremdplatzierung offenbar für die einzige angemessene Lösung.
Zum zweiten gibt es als Anlass noch die erforderliche  „Hilfe im Alltag“. Und da reichen laut Olk in der Regel die Beratung des ASD und die Integration in Stadtteilangebote und der Ausbau von Ressourcen im Stadtteil und der Familie aus. Diese verkürzte Sicht entspricht übrigens genau auch den Vorstellungen von Hinte und anderen Vertreterinnen der „Sozialraumorientierung“ .

Hier macht auch Olk es sich zu einfach:

  • Negiert werden zum einen die massiven Problematiken von Minderjährigen und ihren Familien, die nicht oder noch nicht zu einer Kindeswohlgefährdung führen, dennoch aber einer intensiven und intimen Bearbeitung bedürfen.
  • Negiert werden außerdem  Situation von  Kindeswohlgefährdung, die aber ambulant bearbeitet werden können oder sogar müssen.
  • Negiert werden notwendige Prozessbegleitungen z.B. bei einer Rückführung.
  • Negiert wird überhaupt die Notwendigkeit, intensiv und persönlich mit Klienten zu arbeiten und bei ihnen Entwicklungsprozesse und Veränderungsprozesse  anzuregen.

Was soll mit solchen Problemen in Zukunft passieren? Bemüht man  dann lieber auch hier um eine Fremdplatzierung oder hofft man, dass der Kostenträger Krankenkasse hier Psychotherapien bezahlt. Oder  spekuliert man in solchen Fällen mit einer Entlastung durch die Psychiatrie?

Es geht nicht um eine prinzipielle Ausweitung ambulanter, familienbezogener Hilfen zur Erziehung und auch nicht  um eine Erhaltung des Status Quo in der ambulanten Hilfe per se. Es geht darum, dass Soziale Arbeit und hier Kinder- und Jugendhilfe sehr wohl für psychosoziale Problemlagen ihrer Klientel zuständig ist. Wo sie vorliegen und eine Lebensbewältigung verhindern, müssen sie angemessen bearbeitet werden.

Oder glaubt jemand, unsere Klientel hätte solche Problemlagen nicht, würde Leid und Angst nicht kennen, hätte keine Konflikte und Beziehungsschieflagen in ihren Familien? Solche Vorstellungen passen ja wohl eher in die arrogante Sicht der Unterschichtschelte.

Eine Kinder- und Jugendhilfekonzeption, die dieses Thema wie einen blinden Fleck behandelt, vernachlässigt ihre Klientel systematisch. Da, wo Hilfen zur Erziehung im Sinne von familienorientierten und intensiven psychosozialen  aber natürlich auch ganzheitlichen und sozialraumorientierten Angeboten erforderlich sind, sind sie zu leisten und zwar so ausgestattet, dass sie diese Anforderung auch wirklich bewältigen können.
Und das gilt nicht nur für die ambulanten Hilfen selbst, das gilt genauso auch für den ASD. Wenn der Allgemeine Soziale Dienst sich – auch dann noch, wenn er wirklich ausgebaut sein würde weiterhin  auf Management und Steuerung, auf Ratschläge und Tipps beschränken würde und nicht bereit und in der Lage wäre, auf individuelle Problemlagen und Belastungen einzugehen, dann bedeutet die Ausweitung des ASD letztlich auch keine Verbesserung.

 

  • Problematisch ist auch, dass Olk an vielen Stellen Inhalte offen lässt, so dass man befürchten muss, dass sie auch beliebig gefüllt werden könnten.
    • Was Inhalt der Beratungssequenzen des ASD ist, bleibt ungesagt. Findet auch hier 10 Monate lang immer nur so etwas wie Fallmanagement statt?
      Oder arbeitet hier auch der ASD sozialpädagogisch und setzt z.B. auch sozialpädagogische Beratung, Beziehungsarbeit, Begleitung von Lernprozessen etc. als Arbeitsmethoden ein? An einer Stelle des Modellberichtes ist davon die Rede, dass die ASD MitarbeiterInnen auf diese Weise selbst schon Hilfe zur Erziehung leisten. Auch dagegen wäre nichts zu sagen. Voraussetzung allerdings wäre, auch die ASD-MitarbeiterInnen  arbeiten entsprechend subjektorientiert und z.B. auch ergebnisoffen.  Wobei diese Formulierung nicht dazu missbraucht werden darf, dass  damit die Notwendigkeit einer anderen, intensivere Form von Hilfe zu Erziehung geleugnet werden.
    • Für Olk allerdings sind die MitarbeiterInnen im Allgemeinen Sozialen Dienst immer und auch weiterhin Case ManagerInnen. Nun gibt es auch Ansätze eines subjektorientierten, am Klienten ausgerichteten Case Managements. Vielleicht ist das hier gemeint? Vielleicht auch nicht. Die Aussagen der politischen Vertreterinnen sprechen interessanter Weise nicht mehr von Case ManagerInnen, sondern schon von FallmanagerInnen, was dann doch klar macht, dass hier vom ASD aus der politischen Ecke weniger Sozialpädagogik erwartet wird als Steuerung.
    • Olk benutzt Begrifflichkeiten, die er nicht definiert und inhaltlich nicht untersetzt: Aber gerade hier stellt sich die entscheidende Frage:
      Was findet im ASD wirklich statt?
      Was bedeutet für ihn eine „verbesserte Lebenssituation“ der Klientel?
      Was wäre für ihn eigentliche  Erfolg sozialpädagogischer Arbeit?
    • Und schließlich: Was sind die tatsächlichen Inhalte der Fortbildung?
      Die Rede ist u.a. von der Entwicklung ‚handlungsstrukturierender Elemente‘ und ‚verbindlicher Arbeitsvorgaben‘. Das wären keine vorrangigen Ziele wirklicher Professionalität und beließe die ASD Arbeit erneut auf dem Niveau von ausführenden Organen der Verwaltung.

 

 

 

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Stellungnahme zum 14. Kinder- und Jugendbericht

Mechthild Seithe/ Unabhängiges Forum kritische Soziale Arbeit
Berlin 18.12.2013

 

Der 14. Kinder- und Jugendbericht befasst sich mit  sehr vielen Bereichen und Themen der Kinder- und Jugendhilfe. Hier soll  im Wesentlichen das einbezogen werden, was die Hilfe zur Erziehung im engeren und weiteren Sinn betrifft.

Liest man den aktuellen Kinder- und, so hat man zunächst den Eindruck, hier würde differenziert und anhand zahlreicher Recherchen, statistischer Daten und empirischer Belege zu vielen Aspekten Stellung genommen und zum Teil durchaus auch kritisch berichtet.

Bei genauerer Betrachtung aber fallen doch erhebliche Mängel auf, die wir hier kritisch beleuchten wollen.

Der Bericht übersieht oder negiert zentrale Schwachstellen der gegenwärtigen Kinder- und Jugendhilfe

Die im Bericht genannten Kritikpunkte an den gegenwärtigen Hilfen zur Erziehung verpassen zentrale Problempunkte.

  1. Im Bericht fehlt z.B. – mit Ausnahme in Bezug auf die Situation der ASD-MitarbeiterInnen – ein deutlicher Hinweis auf die  prekären Arbeitsverhältnisse der Sozialarbeitenden in vielen Bereichen der Kinder- und Jugendhilfe und insbesondere in den ambulanten Hilfen zur Erziehung. Zur Lage der MitarbeiterInnen in den Hilfen zur Erziehung werden nur die Themen ‚Teilzeit‘ sowie das Thema ‚Qualifikation‘ problematisiert, außerdem das Thema ‚Fachkräftemangel und  Personalwachstum‘. Die fatalen Auswirkungen der  Ökonomisierung auf die „Produktionsbedingungen“ und die fachlich unzureichenden Rahmenbedingungen der ambulanten Hilfe zur Erziehung werden bestenfalls kurz angedeutet (14. Jugendbericht der Bundesregierung 2013, S. 336). Die wirkliche Arbeitssituation der SozialpädagogInnen und die Rahmenbedingungen der Hilfen werden von den AutorInnen kaum in den Blick  genommen, und wenn doch, dann verschwinden entsprechende Aussagen gleich  wieder hinter dem großen eher verwirrenden aber insgesamt doch üppigen Bild der Kinder- und Jugendhilfe.
  2. Es handelt um einen  Bericht, der sich mit hohem analytischem Engagement auf der Erscheinungsebene tummelt, also weder die Hintergründe noch die  Folgen von Mängeln ins Visier nimmt. Zudem wird  versucht, die ausschlaggebenden Hintergründe für bestehende Problemlagen herunter zu spielen: Der Bericht drückt sich um jede systematische und grundlegende Kritik an politischen und ideologischen Vorgaben.
    Mitunter passiert es aber auch, dass die Kommission bestimmte Aspekte sehr wohl kritisch zu bewerten scheint. Aber auch dann erfolgt keine Stellungnahme oder offensive Wertung dieser Fakten und Entwicklungen. Zum Beispiel gibt der Bericht zwar Hinweise, dass der starke Ausbau der Sozialpädagogischen Familienhilfe zusammenhängen könnte mit dem Versuch, mehr zu kontrollieren (in HzE und ASD). Es werden also in aller Deutlichkeit massive Auftragsveränderungen in den Hilfen zur Erziehung festgestellt. Aber auch dazu erfolgt keine Stellungnahme, kein Kommentar.
  3. Der Bericht befasst sich in erster Linie mit Quantitäten, nicht mit Qualitäten. Er spricht von „empirisch identifizierbaren  Wachstumsraten, die sich an mehreren Indikatoren der Kinder- und Jugendhilfe ablesen lassen. So zeigt sich durchgängig ein Anstieg an Plätzen, Diensten, Personal und folgerichtig auch an Ausgaben“ (14. Jugendbericht der Bundesregierung  2013,  S. 251).
    Wenn er auch an einer Stelle die überraschende Anmerkung macht, dass: „es deutliche Hinweise darauf gibt, dass die Qualität – bei aller Quantität und vielleicht gerade im Zusammenhang damit – gewaltigen Einbußen unterliegt und damit den quantitativen Erfolg mehr als fragwürdig macht“ (14. Jugendbericht der Bundesregierung  2013, S. 41). Der Bericht stellt ansonsten durchgehend die quantitative Entwicklungen in den Vordergrund.

 

Der Bericht vermeidet jede Konfrontation mit der Politik und dem aktivierenden Staat

Insgesamt kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Autoren es sich mit dem mächtigen Partner Politik nicht verderben wollen.

  1. Eine letztlich duldende, mitunter sogar verständnisvolle Haltung gegenüber neuen Kontrollaufgaben, dem dominierenden Effizienzprinzip, dem ausufernden Dokumentieren usw.  ist nicht zu übersehen, auch wenn an wenigen Stellen  vorsichtig kritische Anmerkungen dazu gemacht werden.
    Die Folgen dessen, was berichtet wird und vor allem auch dessen, was als kritisch zu bewerten wäre, bleiben unterbelichtet und Forderungen der Kommission, wenn überhaupt formuliert,  sind eher pauschale, vage, vorsichtige Empfehlungen.
    Mitunter kommen die AutorInnen durchaus selbst auf für sie inakzeptable gesellschaftspolitische Phänomene, aber sie bleiben auch hier in ihrer Stellungnahme zurückhaltend und bescheiden:
  2. So stellen Sie mehrfach fest, dass heute die Tendenz vorherrsche, Menschen und damit auch Kinder  und Jugendliche unter einem reinen gesellschaftlichen Nützlichkeitsaspekt zu sehen und sozusagen nur als Träger von Humankapital zu werten. Dass Kinder mehr sind als nur öffentliche Güter, ist für die VerfasserInnen des Berichtes klar und wichtig. Trotzdem erfolgt zu diesem Punkt keine Auseinandersetzung, kein Diskurs, keine Forderung. Die VerfasserInnen machen vielmehr nur vorsichtig darauf aufmerksam, dass man das nicht so einseitig sehen dürfe (14. Jugendbericht der Bundesregierung 2013, S. 39). Man begnügt sich also damit, die Politik darauf hinzuweisen, dass man neben der neoliberal geprägten Sicht auch noch eine andere, eher sozialpädagogische Wahrnehmung haben kann.
  3. Ein Anliegen, dass den AutorInnen selbst offenbar besonders am Herzen liegt, ist die Verringerung der in unserer Gesellschaft bestehenden Ungleichheit. Im Bericht werden immer wieder die ungleichen Lebensbedingungen und Lebenschancen von Kindern und Jugendlichen herausgearbeitet und es wird (selbst)kritisch auch die Frage gestellt, wie weit die KJH zur Verstärkung dieser Ungleichheiten beitragen mag (14. Jugendbericht der Bundesregierung 2013, S. 374, 418).
    So stellen die Sachverständigen fest: „Während der weitaus überwiegende Teil der Heranwachsenden auf eine einigermaßen sorgenfreie Zukunft blicken kann, mit Netz und doppeltem Boden über die Eltern abgesichert ist, kommt hierzulande immerhin fast jeder dritte junge Mensch aus einem Elternhaus, das entweder von Armut bedroht ist, in dem die Eltern keiner Erwerbstätigkeit nachgehen oder aber selbst keine ausreichenden Schulabschlüsse vorweisen können“ (14. Jugendbericht der Bundesregierung 2013, S. 45). Aber sie kommentieren: „Dem Sozialstaat ist es bislang nicht gelungen, herkunftsbedingte Benachteiligungen nachhaltig abzubauen. Im Gegenteil: Die Ausweitung öffentlicher Verantwortung für das Aufwachsen junger Menschen hat sogar unbeabsichtigt zur Entstehung weiterer Ungleichheiten beigetragen (14. Jugendbericht der Bundesregierung 2013, S. 50).“
    Mit Sozialstaat ist hier der so von ihnen bezeichnete „investive, aktivierende Sozialstaat“ gemeint, denn erst seit dessen Existenz ist diese Entwicklung so dramatisch geworden.
  4. Es wird nicht gesehen, dass die festgestellte und monierte  Ungleichheitszunahme parallel zu der Neoliberalisierung unserer Gesellschaft und der absoluten Herrschaft des gewinnorientierten Marktes geschehen ist. Und schon gar nicht wird der Schluss gezogen, dass der Abbau des früheren Sozialstaates, als Staat von Rechten und Ansprüchen der Bürger, diese Entwicklung verursacht hat.
    Es wird nicht gefragt, warum unser Staat diese Aufgabe nicht gelöst hat oder ob er sie vielleicht gar nicht lösen will. Der Bericht begibt sich eben nicht in eine Auseinandersetzung mit dem politischen System. An dieses System gerichtet gibt es bestenfalls vorsichtige Erinnerungen oder Bitten, keine Kritik, keine Aufforderungen, keine sozialpolitischen oder gesamtgesellschaftlichen  Forderungen.
  5. Mitunter erstaunt auch eine gewisse Gutgläubigkeit der AutorInnen der Politik gegenüber.Es wird z.B. aus den vorhandenen statistischen Ergebnissen richtig gefolgert, dass in den letzten Jahren die ambulanten Hilfen stärker gewachsen sind als die stationären Hilfen. Eine durchaus bekannte Tatsache ist es aber, dass die „Ambulantisierung“ in der Hilfe zur Erziehung zunehmend durch den Druck der zu leistenden Kostenreduktion unterstützt und herausgefordert wird und wurde und die Frage im konkreten Fall  nicht selten völlig im Hintergrund bleibt, ob es in einem konkreten Fall fachlich noch sinnvoll ist, ambulant zu arbeiten, oder aber, ob eine Fremdplatzierung eingeleitet werden müsste.
    Das Gleiche gilt für die im Bericht erwähnte Verbesserung der sozialräumlichen Angebote. Die Sozialraumkonzeption wird im Bericht fachlich durchaus  korrekt vorgetragen. Aber eben diese fachliche Korrektheit und Motivationslage wird dann auch den politischen Akteuren unterstellt. Der Missbrauch dieses Ansatzes für eine Diskreditierung und Zurückdrängung der Hilfen zur Erziehung, der seit Monaten in der konkreten Praxis in Hamburg und an anderen Orten dieser Republik deutlich erkennbar ist, wird offenbar überhaupt nicht  für möglich gehalten (14. Jugendbericht der Bundesregierung 2013, S. 258,).

 

Der Bericht unterschätzt die Rolle der Neuen Steuerung, der Ökonomisierung und der Manageralisierung  der Kinder- und Jugendhilfe und ist für ihre Folgen blind

 

  1. Die Ökonomisierung erscheint im Bericht als ein eher nicht so wichtiges Randmoment. Wo sie erwähnt wird, wird sie mitunter so dargestellt, als handele es sich um eine groteske Übertreibung, die nur bei einigen Einzelbeispielen eine Rolle spiele. Folgen des substantiellen Qualitätsverlustes und der damit einhergehenden Folgen für die AdressatInnen bleiben ungenannt. Es gibt ausschließlich Hinweise auf das dadurch veränderte Verhältnis zwischen öffentlicher und nicht-öffentlicher Jugendhilfe. Der Bericht kommt zudem zu der erstaunlichen und merkwürdig begründeten Aussage, man könne gar nicht von einer Verbetriebswirtschaftlichung der Kinder- und Jugendhilfe sprechen, da sich herausgestellt habe, dass zur Zeit  nur 1%- bis 5% der Leistungsanbieter gewinnorientierte Unternehmen seien.
  2.  Entwicklungen, die in die Richtung einer zunehmenden Ökonomisierung und Neoliberalisierung weisen, werden im 14. Kinder- und Jugendbericht durchgängig verharmlost, vermengt, verwässert und vor allem als gegeben hingestellt. Und es wird vermieden, der Tatsache ins Auge zu sehen, dass es genau diese Faktoren sind, die das derzeitige Dilemma der Kinder- und Jugendhilfe bewirken: die qualitative Rückentwicklung der ambulanten Hilfen zur Erziehung bis hin zu möglicher Wirkungslosigkeit oder gar zu kontraproduktiven Folgen – und das bei gleichzeitig quantitativem Ausbau, der auf den ersten Blick natürlich den Eindruck erweckt, dass sich die Entwicklung der Kinder- und Jugendhilfe an den steigenden Bedarfen orientiere.
  3. Dass für die AutorInnen des 14. Kinder- und Jugendberichtes all diesen so entscheidenden neoliberalen Veränderungsfaktoren eine eher nebengeordnete Rolle spielen, ist nur erklärbar mit der Tatsache, dass inzwischen diese Veränderungen  auch bei diesen Sachverständigen als unhinterfragbar und auch als unwiderruflich gelten und sie somit ihrer Meinung nach als die selbstverständliche, ethische und materielle Basis des Sozialen in unserer Gesellschaft hingenommen werden müssen. Obwohl die Umsteuerung eigentlich erst seit gut 20 Jahre eine große Rolle spielt, scheint es so, als hätte es nie etwas anderes gegeben als den investiven, selektiven und aktivierenden Staat.
  4. Die von ihnen beschriebene  „Gemengelage“ in der „öffentlichen Verantwortung“ wird also als  „historische Entwicklung“ (14. Jugendbericht der Bundesregierung 2013, S. 68), nicht aber als Folge einer politischen Entscheidung gesehen. Ein Verständnis dafür, dass diese, wie im Bericht bezeichnete „historische Entwicklung“ sich eben erst in den letzten 20 Jahren abgespielt hat und noch nicht beendet ist, dass sich hier politische Entscheidungen manifestieren, die auch anders aussehen könnten und die in einem demokratischen Staat nach wie vor zur Debatte stehen und stehen müssen, zeigt sich nicht.

 

Der Bericht sieht die  Zukunft der Kinder- und Jugendhilfe in der  Fortsetzung und Erweiterung der Unterwerfung des Sozialen durch den Markt

 

  1. Deshalb bezieht sich unsere Hauptkritik am 14. Kinder- und Jugendbericht auf den ignoranten Umgang mit den Veränderungen, die durch die Neue Steuerung und die Verbetriebswirtschaftlichung innerhalb der Kinder- und Jugendhilfe vollzogen wurden, sowie auf die marginalisierte und marginalisierende Wahrnehmung der Sachverständigen von deren der Folgen: die primäre Orientierung an der Effizienz, die Umwandlung von Hilfeangeboten in industrielle „Produkte“ einer potentiell gewinnorientierten Dienstleistungsindustrie usw., also alles das, was Folge der Neuen Steuerung ist. Die neoliberale Ideologie des aktivierenden Staates  hat  auch die Kinder- und Jugendhilfe durch eine Einordnung in den Markt und durch die Oktroyierung eines neuen, ökonomisierten Menschenbildes längst ihren ideologischen und politischen Vorstellungen unterworfen.
  2. Die gesellschaftlichen Veränderungen in Bezug auf die Kinder- und Jugendhilfe, die sich seit etwa 20 Jahren ausbreiten, werden von den VerfasserInnen rein phänomenologisch als „Wechsel vom fürsorglichen und (Hilfen selbst-) produzierenden Sozialstaat zum „investierenden und aktivierenden Sozialstaat“ gesehen.
    Die Sachverständigen des 14. Kinder- und Jugendberichtes sprechen statt von einer Vermarktlichung von einer neuen „öffentlichen Verantwortung“ im „selektiven Sozialstaat“, in der der Markt,  der Staat, die Zivilgesellschaft und  der intermediäre Bereich gemeinsam und in einer komplizierten Gemengelage zusammen wirken (14. Jugendbericht der Bundesregierung 2013, S. 67).
    Im Begriff des „investierenden Sozialstaates“ versteckt sich die allgemeine Dominanz des Marktes in allen Bereichen der Gesellschaft, natürlich auch in der Sozialen Arbeit. Um die Folgen dieser Vermischung des Marktes mit den anderen „Wohlfahrtsproduzenten“ macht man sich keine ernsthaften Gedanken.
  3. In der Beschreibung des Berichtes dieser „Gemengelage“ erscheint der Markt zunächst ausschließlich als Institution, die Angebote produziert und nicht als gesamtgesellschaftliche Orientierung und Steuerung, so als wären die Merkmale Wettbewerb und Gewinnorientierung in der Kinder- und Jugendhilfe nur bei den „gewinnorientierten Trägern“ Thema.
    Auch der Staat  bzw. sein ausführendes Organ, die öffentliche Jugendhilfe, wird in dieser Gegenüberstellung (ebenda) nur in der Rolle der Angebotsproduktion gesehen, nicht in seiner Funktion als Inhaberin der Gesamt- und Planungsverantwortung einschließlich der Gewährleistungsverpflichtung gemäß §§ 79, 80 SGB VIII sowie der Leistungsverpflichtung im Einzelfall gemäß § 3 Absatz 2 Satz 2 SGB VIII. Was deshalb  an dieser Stelle des Berichtes unbeleuchtet bleibt, ist die Tatsache, dass der öffentliche Träger neben seiner möglichen Produktionsaufgabe vor allem die Aufgaben der Kontrolle und der Steuerung der Kinder- und Jugendhilfe hat und dass die praktische Ausübung dieser Funktionen im Vergleich zu dem, was in § 2 des SGB VIII steht, deutlich an Härte und Durchschlagskraft zugenommen hat und sich vor allem selbst ganz eindeutig und gezielt marktwirtschaftlicher und betriebswirtschaftlicher Methoden der Kontrolle bedient.
  4. Allerdings nennen die AutorInnen dann auch eine ganze Reihe konkreter Beispiele für solche Vermengungen und Gemengelagen innerhalb der „öffentlichen Verantwortung“. Und hier wird deutlich, was tatsächlich passiert:
    Beschrieben und belegt wird in zahlreichen Beispielen für eine „Vermengung“ der vier genannten Wohlfahrtsproduzenten, dass sich der Staat marktwirtschaftlicher Methoden und Handlungsstrategien bedient. Beschrieben wird, dass freie Träger gezwungen werden, im Rahmen der finanziellen und steuerungspolitischen Macht des öffentlichen Trägers zum einen die staatlichen Reglementierungen zu schlucken und gleichzeitig die auf diese Weise vorgegebenen Marktbedingungen bedienen zu müssen. Nur eins von acht Beispielen verweist auf eine andere „Vermengungsart“ hin, nämlich die “zwischen dem formell hoch organisierten und dem informellen Bereich, zwischen den formal geregelten Strukturen der Erwerbsarbeit und den informellen Strukturen des freiwilligen Engagements“ (14. Jugendbericht der Bundesregierung 2013, S. 69). Alle anderen Beispiele beziehen sich auf den Markt und den Staat und indirekt auf die freien Träger.
    Tatsächlich vermengen sich hier die staatlichen Funktionen von Steuerung und Kontrolle mit den Gesetzen des Marktes. Der Markt liefert die Methoden an den Staat und der Staat öffnet dem Markt den Zugang zu den gesellschaftlichen Bereichen, die von ihm früher (im wie die Autoren sagen „versorgenden und produzierenden Sozialstaat) als Nonprofitorganisationen mit anderer Logik vorgehalten wurden.
  5. Wenn also hier von ‚Vermengungen‘ und ’Verschränkungen‘ von vier Wohlfahrtsproduzenten die Rede ist, dann wird im Wesentlichen eigentlich über das Eindringen des Marktes in alle anderen Bereiche gesprochen. Was hier als  ‚Vermengung‘ und ‚Verschränkung‘ bezeichnet wird, ist in Wirklichkeit genau der von uns beschriebene Prozess der Vermarktlichung, der alle Bereiche und Ebenen der Kinder- und Jugendhilfe erfasst, sowohl die öffentliche Jugendhilfe als auch  die  öffentlich geförderten Angebote (so knapp gefördert wie möglich) der freien oder gewerblichen Träger.
  6. Die Frage, ob diese vier Akteure im Feld der öffentlichen Verantwortung in ihrer Durchsetzungskraft und Bedeutung und vor allem in ihrer Macht als gleichgewichtig zu sehen sind, wird nicht diskutiert. Die Begriffe Gemengelage, Vermischung etc. unterstellen einen eher zufälligen und ohne dominierende Strukturen gekennzeichneten Prozess. Es wird allerdings der Eindruck erweckt, als seien alle Vermengungen gleich gewichtig,  aber auch gleich möglich und einfach nur natürliche Entwicklungsfolgen des Prozesses. Interessant ist in diesem Kontext dann aber die Wortwahl der Autoren bei der Beschreibung dieser „Vermischungslagen“. Hier ist von „Umformung“, „Unterwerfung“ und „Zwang“ die Rede. Was ist das für eine merkwürdige Gemengelage, in der die Vermischung durch Herrschaftsverhalten zustande zu kommen scheint?
  7. Bei der Prognose der Zukunft der Trägerlandschaft der Kinder- und Jugendhilfe setzt der 14. Kinder- und Jugendbericht – mit leichtem Bedauern zwar, aber offensichtlich „alternativlos“ – auf eine Verstärkung des Marktes (14. Jugendbericht der Bundesregierung 2013, S. 392).
    Die AutorInnen sind der Auffassung, dass die zukünftigen Probleme und Anforderungen eine Veränderung der Trägerlandschaft erfordern und dass es künftig weitere Verbünde und Zusammenschlüsse geben werde.
    Der Bericht begründet diese voraussichtlich notwendige Entwicklung wie folgt:
    Diese Zusammenschlüsse müssten so geschaffen sein, dass es mit ihnen besser gelingen könne, „ sich zukunftsfest aufzustellen, Synergieeffekte zu generieren, Qualitätsentwicklung zu betreiben und auch gegenüber den Trägern der öffentlichen Jugendhilfe als  Gewährleistungsverpflichtete wie als Kostenträger „wirkungsvoller“ aufzutreten“. Das sei notwendig, denn „neue Anforderungen an die Kinder- und Jugendhilfe ergeben sich auch bezogen auf die Frage, wie eine Angebotsstruktur erreicht und gesichert werden kann, die den vielfältigen Lebenslagen von jungen Menschen und Familien entspricht und die im Bedarfsfalle bereitsteht“ (ebenda). Dies, so die Autoren, fordere öffentliche wie auch freie Träger bezüglich ihrer Finanzierungsstrukturen besonders heraus. Hinsichtlich einer optimalen bedarfsorientierten Angebotsstruktur würden aber die freien Träger von Einrichtungen zunehmend vor manchmal kaum zu lösende Probleme hinsichtlich der Finanzierung gestellt. Diese resultierten daraus, dass die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe oftmals auch vorgehalten werden müssten, um im richtigen Moment in Anspruch genommen werden zu  können. Dies gälte für Plätze in Einrichtungen, z. T. aber auch für ambulante Leistungen. Hier müssten die Träger die Gesamtfinanzierung sichern, obwohl dies allein von ihnen – vor allem von kleinen Trägern – auch angesichts der mitunter „marktorientierten“ Förderung nicht immer leistbar sei (vgl. 14. Jugendbericht der Bundesregierung 2013, S. 392). Was kann das anderes bedeuten als die Aussage: ‚Auf Grund der bereits bestehenden Marktorientierung benötigen wir noch und immer  mehr davon, weil die freien Träger da nicht mitziehen können‘?

 

FAZIT

Der Hauptfehler und die unkritische Grundtendenz des 14. Jugendberichtes liegen u. E. darin, dass hier – einvernehmlich und ohne auch nur die geringste grundsätzliche Kritik –  die neoliberale Umsteuerung mit all ihren Erscheinungsformen und ihren dramatischen, deprofessionalisierenden und Menschen zu Waren degradierenden Folgen als selbstverständlich unverzichtbar und unvermeidbar hingenommen werden.

 

 

Herunterladen der Stellungnahme:
Kritik des 14. Kinder- und Jugendberichtes. Zukunfstwerkstatt Soziale Arbeit.  M. Seithe 2013

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Es lässt sich doch sowieso nichts ändern?

Viele SozialarbeiterInnen nehmen die gegenwärtige Realität als normal und
unveränderlich und als eben üblich wahr und halten es nicht für ihre Aufgabe,
diese zu hinterfragen oder zu bekämpfen. Sie beruhigen sich mit den Sprüchen,
mit denen Politik uns abspeist und abzulenken versucht. Dabei sollte man all diese Sprüche kritisch
hinterfragen:

 „Es ist doch kein Geld da“

Aber wo ist denn dann das viele Geld in unserer Gesellschaft? Ist der Sozialbereich nur nicht wichtig genug,
nicht so wichtig wie z.B. der neue Flughafen, wie die großen teuren
Prestigeprojekte und wie die Gewinne der Superreichen?  Das ist eine politische Frage.

„Es werden halt eben immer mehr Fälle, da wird es eben eng. Das Geld reicht dann nicht für so viele“.

Warum werden es mehr? Ein Blick auf die gesellschaftliche Entwicklung macht doch deutlich, dass diese Gesellschaft immer mehr Problemlagen erzeugt und immer Menschen in diese Problemlagen geraten.
Und wer sagt denn, dass unsere Gesellschaft z.B. für Familien mit Problemlagen für gescheiterte Minderjährige nur das ausgeben kann, was sie bisher ausgegeben hat? Was sind ihr die Menschen, besonders die, die sie selber ausgrenzt, eigentlich noch wert?

„Gegen die Armut der Leute kann ich doch als Sozialarbeiterin ohne hin nichts machen“.

Soziale Arbeit ist sogar per Gesetz (KJHG §1) dazu aufgerufen, sich in die Lebenslagen der ihr anvertrauten
Minderjährigen politische einzumischen. Und wenn ich meinen KlientInnen
vermittle, dass ihre Armut nicht ihre eigene Schuld ist, so ist das auch schon
Politik – freilich nicht sehr erwünscht. Und wenn ich mittags in der Kantine
ein Gespräch darüber vom Zaune breche, warum eigentlich die Armut zunimmt, dann ist das Politik – freilich auch nicht erwünscht. Und wenn ich in meiner Organisation Flugblätter schreibe gegen die Selbstverständlichkeit, mit der die Zunahme von Armut  in unserer Gesellschaft  hingenommen wird, dann ist auch das natürlich Politik. Soziale Arbeit kann Armut nicht abschaffen, aber dazu beitragen, dass
sie als Unrecht erkannt wird.

„Wir sind doch an die Gesetze gebunden und müssen dafür sorgen, dass sie erfüllt werden“.

Sind wir bei der Polizei? Gesetze sind von Menschen gemacht und können von Menschen geändert werden. Es gibt
Gesetze, die heute mit Füßen getreten werden wie das KJHG. Das Gesetz Hartz IV
aber z.B. ist menschenfeindlich und es wäre unsere Aufgabe, mit dafür zu
sorgen, dass die Öffentlichkeit das kapiert und die Politik unter Druck setzt,
dieses Gesetz zu ändern.

„Wir tun doch unser Bestes. Die Rahmenbedingungen werden halt von oben gesteckt, da haben wir doch keinen Einfluss drauf“.

Eben. Aber  wir vertreten eine Profession, die aus wissenschaftlichen und ethischen Gründen andere Rahmenbedingungen braucht,  um ihre Arbeit wirklich gut, d.h. nachhaltig, im Interesse der Betroffenen machen zu können. Dass Politik heute einfach nach ihren Maßstäben und Interessen unzureichende Bedingungen vorgibt, ist ein verschärfter Eingriff in unsere Autonomie.

„Also wir haben gar keine Zeit, uns auch noch mit so was zu befassen.“

Man hat schon immer Kritik und Widerstand dadurch zu verhindern versucht, dass man die Menschen so mit Arbeit und Stress eingedeckt hat, dass sie sich meinten, sich nicht auch noch wehren zu können.
Wenn aber Politik zum persönlichen Anliegen wird, dann wird man nicht mehr darüber klagen, dass man keine Zeit dafür hat. Man wird begreifen, dass sich
diese eingesetzte Zeit doppelt und dreifach lohnt: Politische Arbeit macht einem den gekrümmten Rücken wieder erade, es  macht Spaß mit anderen
Leuten politisch zu agieren und außerdem: Es gibt auch kurz- mittel- und vor allem langfristige Erfolge dabei.

Soziale Arbeit ist immer politisch – so oder so.

Wenn man es genau besieht, so bleibt uns eigentlich gar
nichts anderes übrig, als politisch zu werden und zu handeln. Wenn wir nicht
anfangen, zu begreifen, dass diese von uns angestrebte „gute Soziale
Arbeit“ heute weder gewollt noch unterstützt wird, und dass das schlicht und
ergreifend die Folgen politischer Entscheidungen und politischer Konzepte sind,
die den humanistischen Zielen unserer Profession mehr oder weniger diametral
entgegenstehen, dann wird sich nichts mehr ändern und unsere Profession wird
sich Schritt für Schritt in eine Dienstleistung  für die Zwecke des aktivierenden Staates
verwandeln. Hier wird es nur noch um die Pflege des Humankapitals gehen und
darum, dass Menschen lernen, für ihr Schicksal ganz alleine gerade zu stehen
und es wird nur noch das geleistet, was sich rechnet und das auch nur so, wie
es sich rechnet.

Wir sind letztlich gezwungen „politisch“ zu werden, auch
wenn Politik eigentlich nicht unser Ding und unser Interesse ist, wir sind
gezwungen es zu werden, auch wenn wir nichts anderes wollen, als eine gute
Arbeit in unserem Beruf zu leisten, eine „gute“ Arbeit, die denjenigen wirklich
bei der Lebensbewältigung hilft, die in unserer Gesellschaft am Rande stehen, besser:
an den Rand gedrückt werden. Sozialarbeitende müssen sich überlegen, was sie
sein wollen und für wen sie arbeiten möchten. Und wenn sie eines Tages spüren
und nicht mehr darüber hinwegsehen können, dass sie gegen die Interessen von
Menschen arbeiten müssen, dann spätestens ist es soweit: Sie müssen sich entscheiden.

So gesehen ist Soziale Arbeit immer politisch. Wenn eine/r sagt:
„Da mache ich nicht mehr mit. Ich suche mir Wege, mich mit anderen zusammen
gegen die Neoliberalisierung unserer Profession zu stellen“, genau dann fängt
sie oder er an,  bewusst politisch zu
handeln.

Wenn man aber sagt: „Ich bin eigentlich kein politischer
Mensch. Darum kann ich mich nicht auch noch kümmern. Ich mache meine Arbeit
halt immer so gut es geht“ – dann ist man faktisch genauso politisch – nur
unterstützt man durch das Wegschauen eine politische Richtung und eine
politische Ausrichtung der eigenen Arbeit, die man möglicherweise eigentlich gar
nicht unterstützen will. Und das heißt: Wer schweigt, wer die Schultern zuckt,
wer wegsieht, wer sich einfach anpasst, wer tut, was von oben gesagt wird, wer
dem Klienten verkauft, was er verkaufen soll …. Der handelt eben auch
politisch.

 

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Warum sind so viele der Sozialarbeitenden so schweigsam geworden?

SozialarbeiterInnen sind doch keine PolitikerInnen?

„Ach, weißt du, ich bin gar kein politischer Mensch. Ich möchte einfach nur eine gute Arbeit machen und die unterstützen, die es brauchen“, so sagte vor einiger Zeit eine Kollegin zu mir. Sozialarbeitende sind doch keine PolitikerInnen, so denken viele: ‚Wer die Welt verändern will, der sollte nicht die Soziale Arbeit für sein Medium halten. Da würde es doch wirklich um Einmischung und politische Stellungnahmen in der Öffentlichkeit, in den Medien, in der offiziellen und der außerparlamentarischen Politik gehen. Sozialarbeitende helfen konkreten Menschen bei konkreten Problemen. Da bleiben doch für Politik kein Raum und keine Zeit!‘

Diese Haltung ist genau das, was man von uns will. „Macht ihr mal eure Aufgaben, wir kümmern uns um die Rahmenbedingungen und da haben wir eben unsre Maßstäbe“. Faktisch regelt und reglementiert die herrschende Politik unser Tun durch Vorschriften wie Begrenzung auf Case Management und 5 Sitzungen, oder die Verpflichtung zur ausführlichen Dokumentation und Nutzung der vorgegebenen Software. Sie steuert  unsere Handlungsspielräume durch Kürzungen, Zeitbegrenzungen, Festlegung der Dauer von Maßnahmen (entgegen wissenschaftlicher Empfehlungen). Sie legt die  Zielrichtungen fest: Es geht immer darum, das KlientInnen zukünftig besser funktionieren sollen und ihr eigenes Humankapital verantwortlicher im Interesse des Systems zu pflegen haben. Sie definiert, was unser Erfolg zu sein hat. Sie definiert das anhand von formalen Kriterien und betriebswirtschaftlichen Erfolgsdefinitionen. Man muss den Erfolg zählen und sehen können und er muss sich rechnen.

Wir sind Sozial Arbeitende. Wir wollen helfen, das ist unser Beruf, o.k. deshalb sind wir auch so lange still gewesen haben immer versucht, das Bester aus der Situation für unsere Klienten zu machen. Helfer kämpfen für ihre Klienten, reden nicht groß darüber.
Wenn wir die Lage aber mal wirklich kritisch betrachten, dann  müssen wir hier und heute feststellen:
Aber es ist jetzt an der Zeit, dass wir nicht länger den Mund halten und schweigen. Es ist vielmehr unsere Pflicht und unsere Verantwortung, nach draußen, an die Öffentlichkeit zu treten und klar zu sagen, was los ist bei uns. Denn wir haben schon lange nicht mehr die Bedingungen in unserer Arbeit, die wir brauchen, um auch gut und nachhaltig helfen und unterstützen zu können. Und wir haben schon lange große Sorge, dass es in unserer Arbeit und überhaupt in dieser Gesellschaft nicht mehr um die Chancen und das Glück von Menschen geht, sondern nur noch darum, dass diese Menschen sich mit all ihrer Kraft für das Funktionieren und das Florieren der Wirtschaft geht und um deren Gewinne, die dann aber nur bei wenigen ankommen.

Aber warum schweigen die KollegInnen?

Erstaunlich ist die Widerstandslosigkeit, mit der diese Veränderungsprozesse abgelaufen sind und weiter ablaufen. Woher kommt diese Ohnmacht?  Hier dürften verschiedene Faktoren eine Rolle spielen.

1.      Zum einen ist in Deutschland, selbst im Westen des Landes, Soziale Arbeit eine Profession mit gering ausgeprägtem Selbstbewusstsein und wenig professioneller Identität (vgl. z.B. Seithe 2010, Heite 2008, Nadai et al. 2005).
Das hat zu tun mit der Tradition Sozialer Arbeit als helfendem Beruf, der es schon immer schwer hatte, seine Aufgaben und Kompetenzen von dem abzusetzen, was jeder gutwillige Bürger meint, im Sinne von Nächstenliebe oder Altruismus selber leisten zu können (vgl. Seithe 2010 ). Soziale Arbeit war und ist zudem ein Frauenberuf und wird in der Gesellschaft nach wie vor entsprechend gewertet (vgl. Nadai  et al. 2005).
Hinzu kommt die Tatsache, dass die gesellschaftliche Akzeptanz eines Berufes korreliert mit den Bevölkerungsgruppen, um die er sich kümmert bzw. die seine Leistungen nutzen. Soziale Arbeit hat so wenig eine wirkliche Lobby in unserer Gesellschaft wie unsere Klientel.
Kein Wunder also, dass das Angebot des „aktivierenden Staates“ an diese Profession, eine neue, wichtige Rolle im großen neoliberalen „Erziehungsprojekt“ der Menschen zu spielen, bei unserer nach Anerkennung und gesellschaftlicher Bedeutung lechzenden Profession von vielen PraktikerInnen (aber auch von vielen WissenschaftlerInnen) mit Freude aufgegriffen wurde und weiter aufgegriffen wird (vgl. Heite 2008). Der Preis dafür ist allerdings ist hoch: Hiermit wird  jede gesellschaftskritische Position der Sozialen Arbeit aufgegeben und Soziale Arbeit nur noch auf „Verhaltenstraining“ und Verwaltung reduziert (vgl. z.B. Seithe 2010).

2.      Zum Zweiten erlebt zwar ein  großer Teil der PraktikerInnen die derzeitige Situation als verstärkte Belastung (vgl. z.B. Eichinger 2010, Seithe 2010, Messmer 2007). Viele sehen sich dabei aber einer Zwangslage gegenüber,  die für den „normalen Sozialarbeitenden“ nicht auflösbar ist. Für PraktikerInnen, die mitten in diesen Veränderungsprozessen stehen und mit den alltäglichen Zumutungen und Herausforderungen der Ökonomisierung und der neosozialen Politik konfrontiert sind, ist es tatsächlich nicht so einfach, sich diesen Entwicklungen entgegen zu stellen. Sie sind nämlich – im Unterschied z.B. zu WissenschaftlerInnen – nicht nur von den fachlichen Widersprüchen, sondern dazu auch noch von existenziellen Problemen betroffen: Sie müssen ständig um ihren Arbeitsplatz fürchten, ja sogar um das Fortbestehen ihres Trägers bangen und für diesen dann mit Verantwortung tragen: Denn Träger, die als wirtschaftliche Unternehmen geführt werden, stehen unter permanentem Druck, sich zu behaupten, um wirtschaftlich  überleben zu können. Insofern ist es heute für PraktikerInnen doppelt und dreifach schwer, sich zu wehren und gegen die Deprofessionalisierung und Vereinnahmung unserer Profession Widerstand zu leisten (vgl. Eichinger 2010). Unter solchen Bedingungen ist es nicht verwunderlich, dass die Betroffenen alle möglichen Formen und Wege der Bewältigung dieser Belastungen und Diskrepanzen wählen: von der bloßen ängstlichen oder pragmatischen Anpassung zur Verleugnung der eigenen Wahrnehmung, über Versuche des passiven Widerstandes durch subversive Tricks, die die neuen Bedingungen unterlaufen und aushebeln sollen, bis hin zu Reaktionen wie Burnout oder dem radikalen,  ethischen Umschwung zu einem Berufsverständnis, das die Klientel für Nichterfolge Sozialer Arbeit schuldig spricht und sich von jeder Parteilichkeit für sozial Benachteiligte kalt verabschiedet.

3.      Ein dritter Erklärungsversuch findet Ursachen für diese widerstandlose Übernahme der Profession in deren eigenen theoretischen Grundlagen, also in der Disziplin Soziale Arbeit selber. Füssenhäuser (2009) stellt die Frage, ob die lebensweltorientierte Soziale Arbeit nicht selber mit ihren eigenen konzeptionellen Vorstellungen dazu beiträgt bzw. beigetragen hat, die Dethematisierung sozialer Probleme und den Abbau sozialstaatlicher Leistungen und Notwendigkeiten zu legitimieren. Somit würde die lebensweltorientierte Soziale Arbeit möglicherweise sich selber in die Fallen hineinführen, in die die Aktivierungspolitik sie locken will. Notwendig wäre aus diesem Grund aus Sicht der kritischen Sozialen Arbeit eine konsequente Infragestellung und Entlarvung der Umcodierung von in der Sozialen Arbeit „bislang als gültig erachteter Denk-, Handlungs- und Problematisierungslogiken des sozialstaatlichen Arrangements“ (Ziegler 2008, S. 168) durch den „aktivierenden Staat“, der die lebensweltlichen Ansätze als Module einer modernen Sozialtechnik nutzt –  jenseits und abgelöst von ihrer kritischen Intention.
Betrachtet man diese drei Ursachenhintergründe, die  für die gegenwärtige Ohnmacht der Sozialen Arbeit gegenüber den neoliberalen Zumutungen eine Rolle spielen könnten, so ergeben sich strategische Ansätze,  die eine engagierte und kritische Soziale Arbeit auf dem Weg in einen organisierten und bewussten Widerstand verfolgen müsste:

1.      Alles, was zu mehr Selbstbewusstsein der professionellen Sozialarbeitenden beiträgt, was die eigenen fachlichen und ethischen Positionen stärkt, kann dazu beitragen, dass PraktikerInnen mehr Mut und mehr Durchsetzungskraft in der alltäglichen Auseinandersetzung gewinnen. Hier sind vor allem Hochschulen (vgl. z.B. Seithe 2010,  Kessl/Reutlinger/Ziegler 2006, S. 117 f),  Gewerkschaften, der Berufsverband und Fortbildungsträger gefordert.

2.      Um dem täglichen Stress, der Angst um die eigene Existenz und um der paralysierende Identifikation mit dem Arbeitgeber zu entgehen, ist das Zusammenschließen mit KollegInnen die beste Bewältigungsstrategie. Gemeinsamer Erfahrungsaustausch, die Entwicklung gemeinsamer Strategien der Gegenwehr, die gemeinsame Verbesserung von Berufsidentität und Selbstwertgefühl als praktizierende SozialarbeiterIn gelingen übrigens am besten außerhalb des eigenen Betriebes in informellen oder auch formellen Gruppen und /oder Organisationen (vgl. Eichinger 2010).
Auch hier kommt zum Beispiel den vorhandenen berufsständigen, kritischen Organisationen eine große Bedeutung zu. Sie sollten sich  für potentielle Mitglieder nicht  allein und in erster Linie als Dienstleister anbieten, sondern sich als Selbsthilfegruppen profilieren, also als Organisationen, in denen Sozialarbeitende aktiv und im eigenen Interesse mitarbeiten und mitgestalten können und dabei von der Organisation Unterstützung, Schutz und  Ressourcen für ihr Engagement erhalten.

3.      Der im dritten Punkt dargestellte mögliche Hintergrund für die scheinbar widerstandslose Vereinnahmung unserer Profession legt vor allem die Notwendigkeit einer theoretischen Neu- bzw. Wieder-Orientierung der Disziplin und Profession Soziale Arbeit nahe. Soziale Arbeit muss sich schnellstens daran machen, ihre Position zu den eigenen sozialpolitischen Wurzeln und Aufgaben neu zu durchdenken und sich gegenüber dem herrschenden gesellschaftlichen System neu positionieren.
Es ist war ihr nie gegeben, selber und alleine die Gesellschaft zu verändern, aber Soziale Arbeit ist bzw.  könnte sein, was schon Mollenhauer von ihr sagte: die „geborene Kritikerin des Kapitalismus“ (Mollenhauer 1991). Auf dieser theoretischen Basis erhält ein wissenschaftlicher aber ebenso ein praktischer, kritischer Umgang mit den neoliberalen Herausforderungen  eine tragfähige und grundlegende Unterstützung und Orientierung.

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